Nach dem Abbruch der Verhandlungen mit Brüssel: Was nun?

Podiumsdiskussion in der 51. Konferenz der «Progress Foundation» am 31. Mai 2021 im Zunfthaus zur Meisen in Zürich (Auszüge)

mw. In den Mainstream-Medien kommen – wenig überraschend – vor allem die Kritiker des Bundesratsentscheides zu Wort. Aber damit lässt sich die mehrheitlich demokratische und freiheitliche Gesinnung im Volk nicht zum Schweigen bringen. Zufälligerweise hielt wenige Tage nach dem Entscheid vom 26. Mai die «Progress Foundation» in Zürich eine Konferenz zum Thema «Souveränität von unten. Die Schweiz im internationalen Umfeld» ab, mit Referaten von Dr. h.c. Beat Kappeler und Prof. Oliver Zimmer. Es versteht sich von selbst, dass ein Teil der anschliessenden Podiumsdiskussion dem gescheiterten Rahmenabkommen beziehungsweise der Frage: «Was nun?» gewidmet war. Die Podiumsteilnehmer (die beiden Referenten sowie Stiftungspräsident Dr. Gerhard Schwarz und NZZ-Inlandredaktorin Katharina Fontana) standen alle auf sicheren Füssen.

Gesprächsleiter Mark Dittli beginnt die Diskussion zum Konferenzthema («Souveränität von unten. Die Schweiz im internationalen Umfeld») aus aktuellem Anlass mit dem Entscheid des Bundesrates vom 26. Mai, die Verhandlungen zum Rahmenabkommen abzubrechen. Seine Frage an die Podiumsteilnehmer: «Was nun?»

Wieder miteinander reden und herausfinden, wo es Kooperationsmöglichkeiten gibt

Katharina Fontana war erleichtert über den Entscheid: «Dieses Wehklagen in den Medien teile ich nicht. […] Ich kann mir nicht vorstellen, dass die EU auf längere Zeit quasi gegen ihre eigenen Interessen antritt. […] Ich bin optimistisch.»
  Gerhard Schwarz: «In einem liberalen Staat ist das Nein-Sagen oft wichtiger als immer nur zu sagen, was man alles machen müsste. […] Aus meiner Sicht war der Fehler nicht jetzt der Abbruch, sondern der Fehler war, sieben Jahre lang verhandelt zu haben, ohne sich überlegt zu haben, was man eigentlich genau will. Damit bin ich bei unserem Thema, nämlich was für ein Staatsverständnis wir in der Schweiz haben und wie sehr das kompatibel ist mit dem Staatsverständnis der Nachbarstaaten und mit dem Staatsverständnis der EU, die zwar immer von sich behauptet, sie sei ein Gebilde sui generis, aber eigentlich permanent auf dem Weg ist hin zu einem eigenen Superstaat. Was nun? heisst: Ein bisschen ruhig werden, nicht hyperventilieren und vor allem wieder miteinander reden und herausfinden, wo es Möglichkeiten der Kooperation und der Verträge gibt und wo es sie eben nicht gibt.»

Die Nerven nicht verlieren und die Situation aussitzen – es ist ja nichts passiert!

Beat Kappeler: «Ich glaube, es ist für Politiker etwas vom Schwersten, eine hängende Situation auszusitzen. Medien und Politiker verlangen immer sofort Griffe, an denen man ziehen und wieder etwas instradieren [auf den Weg bringen] kann. Ich glaube, das muss jetzt einmal einfach ausgesessen werden. Ich würde noch weitergehen und sagen: Es ist ja nichts passiert. Die Bilateralen sind vorderhand wahrscheinlich auf längere Sicht im Gang. Das Freihandelsabkommen [von 1972] muss nicht neu ausgehandelt werden, wie das Rahmenabkommen es verlangt hätte. […] Was jetzt passieren wird, wenn die Schweizer und die economiesuisse nicht die Nerven verlieren und signalisieren: Wir wollen auf jeden Fall, auf jeden Fall, irgend etwas, dann wird sich wahrscheinlich die EU entweder mit kleinen Nadelstichen melden oder mit durchaus fundamentalen Anliegen: Hier sollte man etwas regeln, da sollte man etwas regeln. Dann kann man darauf eintreten. […]
  Also: Die Nerven nicht verlieren und auf den Zusagen beharren, die wir nun in 40, 50 Jahren mit der EU errungen haben, und weiterbauen. Und den Anteil in unseren Aussenbeziehungen ausserhalb Europas weiter stark ausbauen, sei es mit Freihandelsabkommen, sei es mit tatsächlicher Exporttätigkeit. Wir haben den Anteil der Exporte nach Amerika in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt, wir haben den Aussenhandel mit Asien unglaublich gestärkt […]. Da können wir noch weiter zulegen.»

Erfahrungen mit dem Brexit: Das Abweichen von der europäischen Norm aushalten

Oliver Zimmer: «In der Politik kommt es irgendwann zu einem Entscheid, wo man Nein oder Ja sagt. Jeder Wissenschaftler weiss: Das Nein-Sagen ist etwas völlig Natürliches, das ist keine negative Kraft. Das zu vermitteln ist wichtig. Die Vorstellung, dass sich die Schweiz quasi eint und man dann plötzlich einen Konsens hat, ist, glaube ich, eine Illusion. Ich glaube, diese Spaltung wird ein Stück weit bleiben. Was ich wichtig finde, ist, dass man das aushält, dass man dieses Abweichen – es ist ja eine Devianz in Europa, die Schweiz und Grossbritannien, es gibt ja sonst keine anderen Gemeinwesen, die sich auf diese Weise abgesetzt haben – kommuniziert, innerhalb des Landes und gegen aussen: Damit ist keine Negativität verbunden.»

Robuster werden gegen den medialen Kulturkampf

Oliver Zimmer: «Ich habe während der Jahre des Brexit die Berichterstattung in den Medien erlebt. Von A bis Z, über Jahre hinweg, wurde Grossbritannien, zumal in den deutschsprachigen Medien, lächerlich gemacht, auf eine Art, wie ich es nie erwartet hätte von Qualitätsblättern. Ich glaube, das muss man aushalten können, als Bürger oder als Politiker. Es braucht mehr Robustheit. Allein die Medienkampagne, die ich verfolgt habe – wenn da eine Labilität gewesen wäre auf seiten der britischen Regierung, dann hätte man sofort den Entscheid ändern müssen. Es war ein medialer Kulturkampf. Die Meinungen waren zu 80 Prozent, dass die Briten unmögliche Insulaner sind. Ich glaube, da muss man ein bisschen robuster werden.»      •

Podiumsteilnehmer:

Prof. Oliver Zimmer, Universität Oxford;
Dr. h.c. Beat Kappeler, langjähriger Generalsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB;
Dr. Katharina Fontana, Inlandredaktorin der «Neuen Zürcher Zeitung»;
Dr. Gerhard Schwarz, Präsident des Stiftungsrates der «Progress Foundation»;
Leitung: Mark Dittli, Chefredaktor The Market

Quelle: Videoaufzeichnung der Podiumsdiskussion unter https://www.progress-foundation.ch/de/economic_conference/61

Verhandlungsabbruch ist ein über Jahre gereifter Entschluss

Interview mit Dr. Gerhard Schwarz*

Am Rande der 51. Economic Conference der «Progress Foundation», die am 31. Mai in Zürich stattfand und dem Thema «Souveränität von unten» gewidmet war, ergab sich die Gelegenheit, dem Präsidenten des Stiftungsrates und Leiter der Konferenz, Dr. Gerhard Schwarz, Fragen zu stellen, die sich im Verlauf der Podiumsdiskussion entwickelt hatten.

Zeit-Fragen: Die Schweiz ist ein gewichtiger wirtschaftlicher Partner für die EU, ausserdem ist sie finanziell höchst attraktiv. Warum soll die Schweiz also nicht vorschlagen, dass die EU die Anpassung der Bilateralen Verträge an die Entwicklungen der EU-Regelungen zulässt, soweit sie für uns adäquat sind? Im Gegenzug könnten wir jährlich zum Beispiel 500 Millionen Franken für ausgewählte Projekte im Rahmen des Kohäsionsfonds beitragen. Falls die EU wieder zu willkürlichen Nadelstichen griffe, würden wir die Zahlungen aussetzen (wie es das Parlament vor einiger Zeit getan hat). Wie sehen Sie das?
Gerhard Schwarz: Die Frage verkennt, dass der Binnenmarkt nie nur ein ökonomisches, sondern immer auch ein politisches Projekt war. Deswegen hat die EU Mühe mit solchen A-la-carte-Ansätzen, die von ihr als Rosinenpicken interpretiert werden. Die Guillotine-Klausel, die verhindern soll, dass nur einzelne Verträge des gesamten Pakets gekündigt werden, ist ein Ausfluss dieser Geisteshaltung. Ich plädiere eher für eine einseitige Anwendung des sogenannten «Cassis de Dijon»-Prinzips bei den technischen Normen und Standards: Produkte, die in der EU zugelassen sind, sollten ohne weiteres auch bei uns zugelassen werden, da wir davon ausgehen können, dass die EU ihre Bürgerinnen und Bürger nicht weniger und schlechter schützt als wir. Die Kohäsionszahlungen würde ich keinesfalls als Preis für irgendwelche spezifischen Gegenleistungen der EU verstehen wollen, sonst weckt das Begehrlichkeiten. Jedes Mal, wenn wir etwas von der EU möchten, verlangt sie dann eine Aufstockung dieser Zahlungen. Ich halte diese Zahlungen für eine Art Abgeltung für den generellen Nutzen, den wir von der EU haben, von ihrer Zusammenarbeit, von ihrer Stabilisierungsfunktion in Europa usw.

Sorge bereitet vielen Schweizern momentan nicht in erster Linie die zu erwartende Reaktion der EU, sondern die massive Gegenkampagne gegen den Verhandlungsabbruch im Inland. Haben Sie hier eine Perspektive?
Ja, die beleidigte und trotzige Reaktion entspricht nicht gerade schweizerischen Gepflogenheiten nach Entscheiden von dieser Tragweite. Die gleichen Leute, die sich – mit Recht, wie ich meine – über die grotesk langen Verhandlungen beklagen, tun so, als ob dieser Entscheid ein überstürzter Bauchentscheid gewesen wäre. Es ist im Gegenteil ein über Jahre gereifter Entschluss. Und es sollen fünf Bundesräte aus drei Parteien für den Abbruch gewesen sein. Angesichts dieser Breite hoffe ich also auf eine gewisse Souveränität der «Verlierer» und auf ihr konstruktives Mitwirken an einem breit abgestützten Fitness-Programm für die Schweiz.  •



* Dr. Gerhard Schwarz war ab 1981 Mitglied der Wirtschaftsredaktion der «Neuen Zürcher Zeitung», 1994–2010 deren Leiter. Von 2010–2016 war er Direktor des Think tank Avenir Suisse, Zürich, und von 1989–2014 Lehrbeauftragter an der Universität Zürich.

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