Nach US-Rückzug: Wird Afghanistan Vietnam 2.0?

von Dr. Matin Baraki*, Marburg

Vorgeschichte

Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus wurde durch einen Schreibsöldner des aus dem Kalten Krieg als Sieger hervorgegangenen kapitalistischen Systems das «Ende der Geschichte»1 und durch den obersten Repräsentanten der USA, George Bush senior, am Ende des US-geführten Krieges gegen Irak Anfang 1991 die Neue Weltordnung verkündet. Im Rahmen der Greater-Middle-East-Strategie (GME) der Neokonservativen um George W. Bush, Dick Cheney, Paul Wolfowitz und Donald Rumsfeld sollte die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens, vom Kaukasus bis Nord-Afrika und von dort bis Bangladesch und zum Hindukusch, unter Kontrolle der Vereinigten Staaten gebracht werden. Die Anschläge des 11. September 2001 in New York boten also gerade den geeigneten Anlass, die GME-Strategie umzusetzen.
  Da das Taliban-Regime national, regional und international isoliert war, begannen die US-Kampfjets am 7. Oktober 2001 Afghanistan zu bombardieren. Nachdem das Taliban-Regime in vier Wochen hinweggefegt worden war, zogen die US-Einheiten schon Anfang 2003 weiter in den Irak. Dort war der Krieg noch in vollem Gang, als die Taliban, wieder erstarkt, zurückkamen.
  Den USA und ihren Nato-Verbündeten ist es jedoch nicht gelungen, selbst unter Einsatz von bis zu 150 000 Soldaten, die Taliban zu besiegen. Der Krieg hat zu seinen Höchstzeiten, in den Jahren zwischen 2001 und 2014, jede Woche 1,5 Milliarden US-Dollar gekostet. Abgesehen von 2500 gefallenen US-Soldaten, war er auf Dauer nicht mehr finanzierbar. Nach einer Veröffentlichung von Statista Research Department vom 22. März 2021 sind zwischen den Jahren 2001 und 2020 insgesamt 3596 Soldaten der westlichen Allianz in Afghanistan ums Leben gekommen.2 Die USA mussten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren.
  Damit ist auch die GME-Strategie an den Bergen des Hindukusch zerschellt. Erst dann haben sie jahrelang geheim und zwei Jahre offiziös mit den Taliban in Doha, der Hauptstadt des Emirats Katar, verhandelt und im Februar 2020 ein Abkommen unterzeichnet. Darin haben sie sich verpflichtet, ihre Soldaten bis Ende April 2021 aus Afghanistan abzuziehen. Damit zogen die Taliban die USA buchstäblich diplomatisch über den Tisch, und deren Kapitulation wurde vertraglich besiegelt. Als Trost haben die Taliban «in einem geheimen Anhang des US-Taliban-Abkommens vom Februar 2020 [zugesagt], die ausländischen Militärbasen vor Angriffen anderer militanter Gruppen schützen»3 zu wollen, wozu sie kaum in der Lage sind. Dennoch wollte der Verhandlungsführer der Taliban, Sher Mohammad Abbas Stanikzai, im Januar 2021 den Eindruck erwecken, «einer ausländischen Invasorentruppe freies Geleit»4 zu gewähren.

Joe Bidens Manöver

Der neue US-Präsident Joe Biden hatte zunächst den vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump festgelegten Rückzug bis Ende April 2021 in Frage gestellt und kurz nach seiner Amtsübernahme eine Prüfung des Abkommens angeordnet. Man wollte mit den Taliban über eine Terminverschiebung sprechen, um «noch ein wenig länger»5 am Hindukusch bleiben zu dürfen. «Man kann nicht in sechs Wochen mehr als 10 000 Soldaten irgendwie abziehen»,6 konstatierte am 24. März 2021 der Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheitskräfte des US-Repräsentantenhauses, Adam Smith. Nach dem Ende einer Beratung der Nato-Aussenminister verkündete der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg: «Es ist keine endgültige Entscheidung gefallen […]. Vorerst bleiben alle Optionen offen.»7 Darüber hinaus sei ein Rückzug bis Ende April, wie die frühere US-Administration mit den Taliban vereinbart hatte, selbst aus logistischen Gründen nicht zu gewährleisten. Wir werden «gemeinsam entscheiden»,8 Afghanistan zu verlassen, «wenn die Zeit reif ist»,9 sagte ein Vertreter des US-Nato-Botschafters in Brüssel. Am 29. März 2021 hob Präsident Biden hervor, dass er sich wegen der vereinbarten Frist nicht unter Druck setzen wolle. Trotzdem könne er sich nicht vorstellen, auch im kommenden Jahr US-Soldaten am Hindukusch stationiert zu haben. «Wir werden gehen. Die Frage ist, wann wir gehen», betonte Biden.10
  Die Taliban bestehen aber darauf, dass die USA sich an das Abkommen vom Februar 2020 zu halten haben. Der Sprecher der Islamisten meldete per Twitter, wenn die Biden-Administration sich nicht an das geschlossene Abkommen hielte, würden «die Probleme dadurch gewiss verstärkt, und diejenigen, die sich nicht an das Abkommen gehalten haben, werden dafür zur Verantwortung gezogen».11 Wie jedes Jahr haben die Taliban ihre Frühjahrsoffensive angekündigt, um damit in diesem Jahr die USA und die Nato zum Rückzug zu zwingen. Das wäre eine faktische Vertreibung der Weltmacht vom Hindukusch, und ein geordneter Rückzug der US- und Nato-Einheiten aus Afghanistan wäre kaum noch möglich. Es drohe, «mehr nach Flucht auszusehen», sagte die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann.12 Genau dieses Szenario wollen die USA auf jeden Fall vermeiden. Ein zweites Saigon darf es nicht geben.
  US-Präsident Biden musste nolens volens einsehen, dass die USA in Afghanistan keine Perspektive mehr haben, und hat am 13. April 2021 den Rückzug seiner Soldaten für September 2021 angeordnet, wie die «Washington Post» meldete. Bis zum 11. September müssen alle US-Einheiten bedingungslos und ohne eine Gegenleistung seitens der Taliban vom Hindukusch abgezogen sein.13 «Es ist an der Zeit, den längsten Krieg Amerikas zu beenden. Es ist Zeit, dass die amerikanischen Soldaten nach Hause kommen», hob Präsident Biden hervor.14 Er wies darauf hin, dass er der vierte Präsident sei, in dessen Amtszeit die US-Einheiten in Afghanistan Krieg führen. «Ich werde diese Verantwortung nicht an einen fünften übergeben.»15 Es sei kaum möglich, betonte Biden, den Kriegseinsatz in die Länge zu ziehen, «in der Hoffnung, dass irgendwann die Umstände für einen idealen Rückzug vorliegen».16 Dafür werde es niemals «ideale Bedingungen»17 geben.
  So kann auch ein Verlierer seine Niederlage tröstlich artikulieren. «Die Niederlage des Westens ist so umfassend, dass sich die Taliban nicht einmal zum Schein an Friedensgesprächen beteiligen müssen. Die ausländischen Streitkräfte ziehen nun nahezu Hals über Kopf ab.»18 Eine Abschiedszeremonie für die 10 000 Nato- und davon 1100 Bundeswehrsoldaten ist nicht vorgesehen.19 Ab dem 1. Mai 2021 begann offiziell der Rückzug der Nato-Einheiten aus Afghanistan.
  Was passiert mit den ausländischen Söldnern, die im Auftrage des US-Geheimdienstes Central Intelligence Agency (CIA) und anderer Geheimdienste der Nato-Länder in Afghanistan im Einsatz sind? Assadullah Walwalgi, ein Experte für Militärfragen in Kabul, geht von rund 40 000 Söldnern aus, die bei etwa 50 verschiedenen, überwiegend US-Militärfirmen unter Vertrag stehen,20 die die «Drecksarbeiten erledigen».21 Von deren Ab- und Rückzug ist bist jetzt nirgends die Rede.

«Gemeinsam rein, gemeinsam raus»?

Dieser Slogan der Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ist mehr als eine Unwahrheit. «Wahrheit ist etwas so Kostbares, dass Politiker nur sehr sparsam damit umgehen.»22 Denn seit der Einverleibung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hegt die politische und militärische Klasse Deutschlands erneut Grossmachtambitionen. Dies geht eindeutig aus den Verteidigungspolitischen Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung vom 26. November 1992, vom 21. März 2003 und vom 18. Mai 2011 sowie aus dem Weissbuch 2004 bzw. 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr hervor. Die Grenze der Verteidigung Deutschlands ist nicht mehr die vom Grundgesetz (Art. 87a) vorgeschriebene – Einsatzgebiet ist die ganze Welt.
  Bemerkenswert ist die Berliner Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog im Hotel Adlon am 26. April 1997, in der er mit Nachdruck auf die deutschen Grossmachtambitionen hinwies: «Ein grosses, globales Rennen hat begonnen: Die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir müssen jetzt eine Aufholjagd starten.»23
  Auch Afghanistan wurde erneut, nun zum dritten Mal, als Schachbrett für die globalen Ambitionen Deutschlands mit eingeplant. Man wartete jedoch auf einen geeigneten Anlass. Der 11. September 2001 bot sich dann ganz ausgezeichnet dafür an. Hätte es ihn nicht gegeben, man hätte ihn erfinden müssen. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verkündete die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Vor diesem Hintergrund wurde zum ersten Mal, gemäss Artikel 5 des Nato-Vertrages, der «Bündnisfall» erklärt. «Wir dürfen auch nicht vergessen: Es war nicht zuletzt Deutschland, das 2002 die Nato gedrängt hat, Afghanistan zu einer Nato-Operation zu machen. Das ist die Regierung Schröder/Fischer gewesen», erklärte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann.24 Damit wurde der politischen und militärischen Klasse Deutschlands die Möglichkeit eröffnet, sich am Krieg gegen Afghanistan zu beteiligen.25
  Die Militarisierung der deutschen Aussenpolitik schuf die Voraussetzung für die prägnante Formulierung des sozialdemokratischen Bundesverteidigungsministers Peter Struck nach der Verabschiedung der Verteidigungspolitischen Richtlinien im Frühjahr 2003: «Deutschland wird am Hindukusch verteidigt»,26 ein Satz, der immer wieder zitiert worden ist. «Der Satz ist einer der törichtesten Sätze der deutschen Nachkriegsgeschichte»,27 bemerkte dazu Heribert Prantl, damaliger Leiter des Ressorts Innenpolitik der «Süddeutschen Zeitung». Die Strucksche Aussage ist auch deswegen falsch, weil die Taliban nur eine regionale Agenda haben. Sie sind keine internationalen Terroristen und «wollen nicht Hamburg und New York angreifen».28 Durch das militärische «Engagement» Deutschlands am Hindukusch wurde zum einen die deutsche Aussenpolitik militarisiert, und zum anderen war Afghanistan der Türöffner für künftige weltweite Operationen der Bundeswehr.
  Die Bundesrepublik Deutschland hatte in ihrem 20 Jahre andauernden militärischen «Engagement» am Hindukusch insgesamt 160 000, zuletzt 1100 Soldaten im Kampfeinsatz. Das haben 59 Soldaten mit ihrem Leben bezahlt.29 Dieser Bundeswehreinsatz hat seit 2001 mehr als 12 Milliarden Euro gekostet. Dies teilte das Auswärtige Amt auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag mit.30 Selbst wenn man von einer Verdoppelung dieser Summe ausginge, würde man nicht falsch liegen. Denn die Bundesregierung gibt nicht alle Ausgaben an.
  Trotz der finanziellen und menschlichen Verluste ist der jetzige Bundesaussenminister Heiko Maas (SPD) der Ansicht: «Es ist nicht umsonst gewesen»31 und kündigte ein weiteres politisches und finanzielles Engagement Deutschlands am Hindukusch an. «Der Friedensprozess braucht einen neuen diplomatischen Push», meinte Maas.32 Für das laufende Jahr hat die BRD 430 Millionen Euro «und für die Jahre bis 2024 die gleiche Summe in Aussicht gestellt».33 Aber die Auszahlung wird davon abhängig gemacht, wie sich der «Friedensprozess» zwischen den Vertretern der Kabuler Administration und der Taliban entwickeln werde. Ob die Bundesregierung auch mit einer Taliban-Regierung zusammenarbeiten würde, wird nicht eindeutig erklärt. Denn «schon im Januar [2021] waren amerikanische Überlegungen öffentlich geworden, eine Übergangsregierung für Afghanistan unter Einschluss der Taliban zu bilden».34
  Vorsichtig optimistisch äusserte sich auch der pakistanische Aussenminister Shah Mahmood Qureshi bezüglich der künftigen Strategie der Taliban. Sie hätten «durchaus verstanden, dass sich Afghanistan verändert hat. Und dass sie diesen Wandel akzeptieren müssen.»35 Da die Talibanführung ihre Strategie mit der pakistanischen Regierung stets abstimmt, könnte es sein, dass sie neben ihrer militärischen Stärke auch diese Realität in Betracht ziehen würde.

Frauenrechte als Alibi

In Afghanistan ist es der US-Imperialmacht von Anfang an weder um Frauen- noch um Menschenrechte, geschweige denn um Afghanistan an sich gegangen, sondern nur um ihre strategischen Interessen in der Region, um die Umzingelung der Russischen Föderation und um einen Regime change in Iran. Das Land am Hindukusch wurde von den USA zu ihrem unsinkbaren Flugzeugträger gemacht. Nun haben sich aber die Rahmenbedingungen geändert und damit die Prioritäten der US-Strategie. In absehbarer Zeit wird die Volksrepublik China die USA ökonomisch, aber auch militärisch, wenn nicht überholen, so doch mit ihr gleichziehen können.
  Ende 2017 wurde in der «Nationalen Sicherheitsstrategie» der USA die Volksrepublik China als «strategischer Rivale» eingestuft. Die USA werden versuchen, nun auch unter Präsident Biden die Volksrepublik China militärisch zu umzingeln und den Aufstieg des Landes zu einer künftigen Weltmacht, wenn nicht zu verhindern, so doch mindestens zu verzögern. Schon der ehemalige US-Präsident Barack Obama und dessen Vize Joe Biden hatten im November 2011 zum Pazifischen Jahrhundert unter Führung der Vereinigten Staaten aufgerufen. Diese Strategie ist eindeutig gegen die Volksrepublik China gerichtet. Für die Realisierung dieser Option haben die USA bereits regionale Militärbündnisse mit Japan, Südkorea, Australien, den Philippinen, Thailand, Singapur, Vietnam, Malaysia, Indonesien und der Atommacht Indien geschmiedet. Der regionale Konflikt um das Südchinesische Meer, von dem die Volksrepublik China 80 % für sich beansprucht und sogar schon einzelne Inseln besetzt hat, wobei sie sich auf «bis zweitausend Jahre zurückreichende historische Argumente» beruft, könnte von den USA als Hebel für einen grösseren Konflikt gegen China instrumentalisiert werden.
  Afghanistan ist vorläufig abgeschrieben. Die USA wollen ihre Kräfte auf die künftig wichtige geostrategische Region konzentrieren. Es beginnt ein asiatisches Jahrhundert. Der Ort, wo um Vormachtstellung gekämpft wird, ist die Region des Pazifischen Ozeans. Die Kräfte in und um Afghanistan werden gerade deshalb abgezogen, um am Pazifik ein Bollwerk gegen China zu errichten.

Bilanz eines Desasters

Zwanzig Jahre US- und Nato-Krieg haben in Afghanistan «Verheerungen»36 angerichtet. «Die hehren Ansprüche von einst, die Stabilisierung und Demokratisierung des Landes, sind vergessen. Und die Bilanz ist eine Schmach für die Supermacht, die gewiss nachwirken wird: Mehr als 2000 Amerikaner haben am Hindukusch ihr Leben verloren. Hinzu kommen mindestens 100 000 tote afghanische Zivilisten.»37 Nach einem Bericht des Nachrichtensenders TOLO-TV vom 18. April 2021 sollen nach Zählungen der afghanischen und der US-Regierung sowie der Uno 160 000 Menschen seit 2001 ums Leben gekommen sein.38 Darüber hinaus wurden «66 000 afghanische Sicherheitskräfte, viertausend internationale Soldaten und 80 000 Islamisten» getötet.39 Hinzu kommt noch, dass durch die Zusammenarbeit und direkte Unterstützung der Warlords durch die Nato-Länder Korruption, Vetternwirtschaft, ethnische Fragmentierung, Drogenanbau und -handel, Machtdemonstration bis hin zu Entführungen (man sprach von einer Entführungsindustrie des 1. Vizepräsidenten Marschall Abdul Qasim Fahim unter dem von den USA durchgesetzten Präsidenten Hamid Karzei) an der Tagesordnung waren. Der gesamte Staatsapparat, sowohl die Judikative als auch die Exekutive und die Legislative sowie die Sicherheitsorgane sind ganz und gar mit dem Virus der Korruption verseucht. Zwangsprostitution, um Posten zu bekommen, ist auf höchster Ebene gang und gäbe. Posten werden wie auf dem Bazar gehandelt. Für die Stellen mit den höchsten Korruptionsmöglichkeiten wird am meisten bezahlt. Botschafterposten werden für bis zu 40 000 US-Dollar angeboten.
  Natürlich können Mädchen die Schule besuchen, aber die Absolventinnen finden kaum eine Arbeit. Die Elite hat längst ihre Dollars auf Banken in Dubai transferiert und sitzt nun auf gepackten Koffern. Wer kann, verlässt das Land. Schon 2020 haben «mehr als dreihundert Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben oder ganz das Land verlassen».40 Diese Frauen haben die meisten Feinde: die Regierung, die Warlords, die Taliban und auch die Nato. «Das Risiko ist gross, dass die Taliban nach dem Abzug der USA wieder die Macht in Afghanistan an sich reissen wollen. Darauf deutet auch die Zunahme der Gewalt hin. Am meisten wird darunter die Bevölkerung leiden, nicht zuletzt Frauen und Mädchen. Die USA tragen eine grosse Verantwortung für diese Entwicklung. Die Invasion vor 20 Jahren basierte auf falschen Erwartungen. Zudem ist es in all den Jahren nicht gelungen, für Stabilität zu sorgen und das Land wiederaufzubauen. Ein stabiles und demokratisches Afghanistan bleibt vermutlich eine Utopie», konstatierte die schwedische Zeitung «Skånska Dagbladet».41

Was wird aus Afghanistan?

Anfang 2021 warnten vom US-Kongress eingesetzte Experten der Afghanistan Study Group, «dass ein unüberlegter Abzug zum ‹Kollaps› in Afghanistan führen» würde.42 Eine solche «Perspektive ist ein Desaster für die USA und ihre Verbündeten in Berlin, London und Paris».43 Das Rückzugsdatum der US- und Nato-Einheiten liegt nun fest. Wozu sollten die Taliban überhaupt noch mit der Kabuler Seite verhandeln? Sie «müssen nur ein paar Monate warten, ehe sie zum Sturm auf Kabul blasen».44 Das ist ein faktischer Beleg für «das Scheitern des Westens in diesem Krieg» am Hindukusch.45
  «Nur wenn man alle Faktoren kennt, ist eine wissenschaftliche Vorhersage im eigentlichen Sinne möglich.»46 Wir wissen vieles, aber nicht alles über die US-Strategie in und um Afghanistan. Dennoch könnte man von folgenden Optionen ausgehen:

  1. Unmittelbar nach dem Rückzug der Nato-Einheiten könnte die politische und militärische Elite Afghanistans die Flucht ergreifen, lieber ein ruhiges und schönes Leben im Exil bevorzugen, als sich auf einen erneuten Krieg mit den Taliban einzulassen; dann wären die Taliban die alleinigen Herrscher des Landes, wie schon ab 1996.
  2. Würde es der US-Administration gelingen, mit vielseitigen finanziellen und entwicklungspolitischen Angeboten die Taliban für eine Koalitionsregierung mit der Kabuler Administration zu gewinnen, könnte eine für afghanische Verhältnisse relativ reibungslose Transformation stattfinden.
  3. Gelingt dies nicht, würde es sehr wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg wie 1992 kommen, als Kabul weitgehend zerstört wurde und über 50 000 Menschen ums Leben kamen.
  4. Nach uns die Sintflut. Die USA haben augenscheinlich keinen Plan B für Afghanistan. Zumindest haben sie einen solchen bisher nicht offengelegt. Meines Erachtens wäre unbedingt der Einsatz einer UN-Blauhelmtruppe notwendig, bestehend aus den Blockfreien Staaten und der Organisation der Islamischen Staaten, die die Nato-Einheiten ablösen und ausnahmsweise mit einem robusten Mandat ausgestattet werden sollte, um für eine Übergangsphase bis zu einer Stabilisierung der innerafghanischen Verhältnisse für Frieden zu sorgen.  •


1 Der Begriff Ende der Geschichte (End of History) wurde von dem Politikwissenschaftler Francis Fukuyama durch einen im Sommer 1989 veröffentlichten Artikel in der Zeitschrift The National Interest und ein Buch mit dem Titel The End of History and the Last Man, 1992 in die Welt gesetzt.
2 Stand: März 2021, vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2006/umfrage/gefallene-oder-verunglueckte-soldaten-der-westlichen-koalition-in-afghanistan/
3 Die Nato zieht ab, die Taliban greifen an, In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (FAZ) 3.5.2021, S. 5
4 Meier, Christian. Was wollen die Taliban?, In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 30.4.2021, S. 3
5 USA bitten um Aufschub. Reuters, 25.3.2021
6 USA bitten um Aufschub. Reuters, 25.3.2021
7 Nato: Alle Optionen offen in Afghanistan. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 23.3.2021, S. 5
8 Nato: Alle Optionen offen in Afghanistan. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 23.3.2021, S. 5
9 Nato: Alle Optionen offen in Afghanistan. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 23.3.2021, S. 5
10 Matern, Tobias. In der Defensive. In: «Süddeutsche Zeitung» vom 30.3.2021, S. 7
11 Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 15.4.2021, S. 1
12 Früherer Afghanistan-Abzug?. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 22.4.2021, S. 5
13 Vgl. Gutschker, Thomas. Bedingungsloser Abzug. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 16.4.2021, S. 1
14 Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 15.4.2021, S. 1
15 Brössler, Daniel/Kolb, Matthias: Wenn einer geht, gehen alle. In: «Süddeutsche Zeitung» vom 15.4.2021, S. 7
16 Brössler, Daniel/Kolb, Matthias: Wenn einer geht, gehen alle. In: «Süddeutsche Zeitung» vom 15.4.2021, S. 7
17 Gutschker, Thomas: Bedingungsloser Abzug. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 16.4.2021, S. 1
18 Carstens, Peter. Eine Abschiedsfeier ist nicht geplant. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 24.4.2021, S. 8. Die USA hatten die Taliban für den 24. April 2021 zu einer Friedenskonferenz nach Istanbul eingeladen. Die Islamisten hatten daran kein Interesse und lehnten eine Beteiligung ab.
19 vgl. Carstens, Peter. Eine Abschiedsfeier ist nicht geplant. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 24.4.2021, S. 8; Rückkehr im Juli statt September In: «Süddeutsche Zeitung» vom 22.4.2021, S. 5
20 vgl. Gerner, Martin. Das Geschäft mit der Sicherheit. In: Der Tagesspiegel, 28.10.2010; Michelis, Helmut. Afghanistan – Krieg der Söldner. In: Rheinische Post vom 18.11.2010.: https://rp-online.de/politik/afghanistan-krieg-der-soeldner_aid-12561151
21 Heilig, René. Von Lügen getragen. In: Neues Deutschland (ND), Berlin vom 17./18.4.2021, S. 4
22 Dies sagte einmal treffend der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain.
23 Bissinger, Manfred (Hrsg.). Stimmen gegen den Stillstand – Roman Herzogs «Berliner Rede» und 33 Antworten, 2. Aufl. Hamburg 1997, S. 28; www.bundespraesident.de. (als Typoskript im Archiv des Verf.)
24 Naumann, Klaus. In: Deutschlandfunk-Interview vom 2.7.2009 (Typoskript)
25 Vgl. Struck, Peter. Mögliches Einsatzgebiet ist die ganze Welt. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 14.1.2004, S. 1
26 O-Ton Bundesverteidigungsminister Peter Struck: Themen des Tages, HR 1, 18.12.2003, 22:07 Uhr; O-Ton Peter Struck: Mittagsecho, WDR 5 vom 13.1.2004, 13:35 Uhr
27 Prantl, Heribert. Krieg und Wahlkampf. In: «Süddeutsche Zeitung» vom 8.9.2009, S. 4
28 Schwennicke, Christoph. Die Qual der alten Krieger, In: Der Spiegel, Nr. 24/2010 vom 14.6.2010, S. 91
29 Vgl. Brössler, Daniel. «Es ist nicht umsonst gewesen», In: «Süddeutsche Zeitung» vom 30.4.–2.5.2021, S. 10
30 Vgl. Afghanistan-Einsatz kostete 12 Milliarden Euro, dpa vom 18.4.2021
31 Brössler, Daniel. «Es ist nicht umsonst gewesen». In: «Süddeutsche Zeitung» vom 30.4.–2.5.2021, S. 10
32 Maas sichert Afghanistan weitere Hilfe zu. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 30.4.2021, S. 1
33 Brössler, Daniel. «Es ist nicht umsonst gewesen». In: «Süddeutsche Zeitung» vom 30.4.–2.5.2021, S. 10
34 Gutschker, Thomas. u.a. Augen zu und raus, in: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 15.4.2021, S. 3
35 Meier, Christian. Was wollen die Taliban? In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 30.4.2021, S. 3
36 Wetzel, Hubert. Verwundete Seele. In: «Süddeutsche Zeitung» vom 19.4.2021, S. 4
37 Gutschker, Thomas. u.a. Augen zu und raus. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 15.4.2021, S. 3
38 Vgl. Matern, Tobias. Die Truppen gehen, die Angst bleibt. In: «Süddeutsche Zeitung» vom 19.4.2021, S. 7
39 Wiele, Jan. Ein Trauerfall. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 17.4.2021, S. 11
40 Wiele, Jan. Ein Trauerfall. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 17.4.2021, S. 11
41 Skånska Dagbladet, Malmö, Schweden vom 10.5.2021
42 Brössler, Daniel. Wenn einer geht, gehen alle. In: «Süddeutsche Zeitung» vom 15.4.2021, S. 7
43 Matern, Tobias. Der Krieg bleibt. In: «Süddeutsche Zeitung» vom 15.4.2021, S. 4
44 Frankenberger, Klaus-Dieter: Nach zwanzig Jahren. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 15.4.2021, S. 1
45 Matern, Tobias. Schadensbegrenzung. In: «Süddeutsche Zeitung» vom 30.3.2021, S. 4
46 Bernal, John Desmond. Die soziale Funktion der Wissenschaft. Köln 1986, S. 408



* Dr. phil. Matin Baraki, 1947 in Afghanistan geboren, hat dort als Lehrer gearbeitet, bevor er nach Deutschland kam. Heute ist er Sachverständiger für Afghanistan und entwicklungspolitischer Gutachter und Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung sowie Lehrbeauftragter für Internationale Politik an der Philipps-Universität Marburg.

 

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