«Diktatursozialisierte» Mitbürger – das neue Unwort des Jahres?

Eine Stellungnahme zum Stil öffentlicher Debatten in «fortgeschrittenen» Demokratien

von Peter Küpfer

Karl-Jürgen Müller hat in seinem Artikel «Feindbilder nach aussen … und auch im Innern des Landes. Deutschland vor den Bundestagswahlen» (Zeit-Fragen Nr. 14 vom 15. Juni 2021) einmal mehr Veränderungen in der Sache und im Auseinandersetzungsstil, mit Schwerpunkt Deutschland analysiert. Die in seinen Artikeln an vielen Beispielen aufgewiesene zunehmende Aggressivität und Unsachlichkeit öffentlicher Debatten ist aber nicht nur dort am Werk. Sein oben genannter Beitrag ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die moderne Demokratie heute gerade auch von innen bedroht wird. Dabei sind es nicht nur die vertretenen Inhalte, die in einer funktionierenden Demokratie, wenn sie Anspruch auf Billigung haben, verfassungsgemäss sein müssen, es ist auch die Sprache, mit der sie vertreten werden.
  Im genannten Artikel geht es um das von vielen an die Wand gemalte Gespenst der AfD, der in linker, auch neoliberaler Optik heute schnell einmal das Etikett «rechtsradikal» angehängt wird, wie das auch im Vorfeld der Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt der Fall war. Sie fanden besonderes Echo, weil sie von vielen als «Barometer» für die Parlamentswahlen im September genommen wurden.
  Das zentrale Zitat, es war Anlass für diese Zeilen, wird dort wie folgt eingeleitet: «Das Gespenst der rechtsextremen Gefahr hat eine lange Geschichte in Deutschland, es hat nach 1990 von offizieller Seite das Gespenst der linksextremen Gefahr […] als Hauptgefahr abgelöst. Vor allem im Westen des Landes glauben viele, dieses Gespenst vor allem im Osten des Landes leibhaftig erkennen zu können. Jüngstes Beispiel dafür sind die Äusserungen des CDU-Politikers und Ostbeauftragten der deutschen Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Marco Wanderwitz, im FAZ-Podcast für Deutschland vom 28. Mai, wonach in Ostdeutschland eine stärkere Neigung zur Wahl rechtsradikaler Parteien als im Westen bestehen soll.» Und dann folgt als Zitat die folgende, völlig inakzeptable Äusserung des Beauftragten der Bundesregierung für ihre Beziehungen mit dem östlichen Landesteil. Wanderwitz sagt: «Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach dreissig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.» Ein Teil der ostdeutschen Bevölkerung habe, so fährt der hohe Beamte über das Internet-Fenster der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» fort, «gefestigte nichtdemokratische Ansichten» [Hervorhebungen PK]. Damit will er offenbar «begründen», warum im Bundesland Sachsen-Anhalt (ehemals Staatsgebiet der DDR) die Bürger zu einem grösseren Teil AfD gewählt haben als CDU.
  Das ist ein starkes Stück, einmal in der Sache und dann auch im Stil: deutlich jenseits der roten Linie dessen, was auch in hitzigen Debatten noch geht. Ein in Staatsdiensten stehender hoher Funktionär sollte bei seinen öffentlichen Äusserungen über ein Wahlergebnis nicht so offenkundig Schwierigkeiten bekunden, seine persönliche Meinung von dem zu unterscheiden, was ihm sein Amt auferlegt: Mässigung in der Form und Verzicht auf wertende, parteiliche Stellungnahmen.
  Die Äusserung ist neben ihrer verbalen Arroganz auch in der Sache energisch zurückzuweisen. Einem Teil der Einwohnerschaft eines Bundeslandes, das früher zur DDR gehörte, zu unterstellen, sie seien zu grossen Teilen «diktatursozialisiert» und ihr deshalb «gefestigte nichtdemokratische Ansichten» zu attestieren, geht nun gar nicht. Will der Beauftragte für die Beziehungen der Bundesregierung zu den Ländern des ehemaligen Ostdeutschland diese Beziehungen nur dann anständig und sachlich führen, wenn die Menschen dort mehrheitlich seine eigene Partei wählen?
  Seiner «Logik» entsprechend hätten ja alle die recht gehabt, die damals glaubten, das ganze deutsche Volk müsse (mit entsprechenden Massnahmen!) «entnazifiziert» werden, denn sie waren in dieser unzulässig verallgemeinernden Argumentation ja alle, in dieser Logik, mehr oder minder «diktatursozialisiert». Schon damals hatten die Alliierten die höchst anzweifelbare Überzeugung, sie seien dazu besonders legitimiert. Es ist diese heute im Westen wieder häufiger spürbare Arroganz, welche das Klima vergiftet, national und international. Die Gründergeneration der Bundesrepublik war sich von links bis rechts einig darüber, dass von Deutschland kein Angriffskrieg mehr ausgehen dürfe, auch keine Beihilfe zu solchen Kriegen. Auch wenn höchstrichterliche Instanzen die Dinge in eine andere, höchst fragwürdige Richtung gedreht haben, eines ist jedem der Sache verpflichteten Zeitgenossen der Nachkriegsgeneration klar: Das deutsche Grundgesetz ist in seiner prinzipiellen Ausrichtung auf die Ächtung jeder Form des Angriffskrieges lupenrein. Es bekräftigt diese Ächtung mit seiner wörtlichen Verpflichtung auf geltendes internationales Recht (z. B. die Uno-Charta). Die dieser prinzipiellen Grundausrichtung offen widersprechende aktive Mitbeteiligung und Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland am völkerrechtlich illegalen Angriffskrieg der Nato auf die Bundesrepublik Jugoslawien ging nicht von der deutschen Bevölkerung aus (sie wurde nicht gefragt), schon gar nicht von derjenigen der ehemaligen DDR, sondern ganz markant vom Alt-68er und zum Grünen gewordenen Joschka Fischer, damals Aussenminister der Regierung Schröder.
  Die aktuell geforderte starke Anbindung der Bundeswehr an die «neue» Nato, die ihren ursprünglichen reinen Verteidigungszweck verraten hat, ist nicht nur Wunsch der kriegstreibenden Kreise in den USA, sondern offenbar auch derjenige der Kanzlerkandidatin der deutschen Grünen. Solche beunruhigenden Fakten kann kein noch so unbedachtes Wort aus der Welt schaffen. Im Fall von Frau Baerbock ist ihr offen vertretener Positionsbezug der Anlehnung der Bundeswehr an eine weltweit aggressiv agierende Nato sicher nicht aus einer «diktatursozialisierten» Werthaltung heraus entstanden (die in Westdeutschland aufgewachsene und «sozialisierte» Kanzlerkandidatin ist Jahrgang 1980), er stammt vermutlich aus einer ganz anderen Denkfabrik.
  Wenn wir schon von «Demokratiedefiziten» sprechen, dann liegen sie vor allem hier.  Nicht bei Stimmbürgern, die sich anders verhalten, als es eine bestimmte politische Weltdeutung erwartet. Der erste Grundsatz jeder Demokratie ist der Respekt vor dem Willen des Souveräns. Das ist in wirklichen Demokratien das Volk, es sind nicht selbsternannte Experten, die seinen Willen selbstgerecht kommentieren oder mit unwissenschaftlichen Schlagwörtern als inkompetent umdeuten.  •

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