Der alltägliche Mangel

Libanon, früher die «Schweiz des Orients», versinkt in politischem Chaos und wirtschaftlicher Not

von Karin Leukefeld, Bonn und Damaskus

Im Libanon verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage zusehends. Strom und Lebensmittel sind kaum erschwinglich. «Mein Monatslohn ist auf 80 US-Dollar geschrumpft, umgerechnet sind das ungefähr 1 Millionen Libanesische Pfund, LBP. Das Geld zerfliesst einem in den Händen, wenn man einkaufen geht. 1 Liter Milch kostet 15 000 Pfund, Milchpulver ist kaum zu bekommen. Fleisch können wir vergessen, ein Kilo kostet 100 000 Pfund.»
  Hinter dem Empfangstresen des Beiruter Hotels, in dem Aschraf arbeitet, sieht der junge Mann dieses Mal noch schmaler und blasser aus als sonst, als die Autorin ihn fragt, wie es ihm gehe. «Miete, zusätzlicher Strom, Trinkwasser, der Kindergarten für unseren Sohn, ohne Familienhilfe aus dem Ausland wären wir nicht mehr. Krank werden dürfen wir nicht, weil wir die Arztkosten nicht bezahlen könnten», fährt er fort. «Von dem -politischen Chaos brauchen wir gar nicht sprechen.»

Hyperinflation und Massenarbeitslosigkeit

Rund 80 Prozent hat das Libanesische Pfund seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise im Herbst 2019 an Wert verloren. Der Preis eines US-Dollars schwankt aktuell auf dem Schwarzmarkt zwischen 13 500 und 15 000 LBP. Der offizielle Umtauschkurs liegt bei einem Zehntel, bei 1500 LBP. Die Banken haben den Kurs unter dem Druck des Schwarzmarkts mittlerweile auf knapp 4000 LBP erhöht. Angesichts der fortlaufenden Hyperinflation ist das Abheben vom eigenen Konto limitiert.
  Nach Angaben der Weltbank (Ende 2020) haben rund 40 Prozent der offiziell rund 6 Millionen Libanesen (einschliesslich der Flüchtlinge) infolge von Wirtschafts- und Finanzkrise sowie infolge des fast acht Monate währenden Corona-Lockdowns ihre Arbeit verloren. Besonders schwer betroffen von Arbeitslosigkeit sind die rund 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge, die allerdings weiterhin finanzielle Unterstützung und Sachleistungen durch UN- oder internationale Hilfsorganisationen erhalten. Unter den offiziell 180 000 palästinensischen Flüchtlingen im Libanon haben UN-Untersuchungen zufolge 80 Prozent ihre Arbeit verloren.
  Alle anderen, die noch Arbeit haben oder Pensionen beziehen, müssen durch die hohe Inflation massive Einbrüche in ihren Gehältern hinnehmen. Professorenpensionen sind von rund 3000 US-Dollar auf 400 US-Dollar monatlich gefallen, Lehrer erhalten statt 1000 US-Dollar monatlich nur noch rund 100 US-Dollar.

Kaum noch Reserven

Auslandsreserven in der Libanesischen Zentralbank haben sich innerhalb eines Jahres halbiert. Lagen sie im Februar 2020 noch bei rund 30 Milliarden, wurden sie im März 2021 mit offiziell 17,5 Milliarden US-Dollar angegeben. Nach einem Bericht der Amerikanischen Universität von Beirut AUB (Dezember 2020) haben libanesische Regierungen seit 1992 rund 40 Milliarden US-Dollar für die Stromversorgung des Landes ausgegeben, und doch werden nur etwa 60 Prozent des allgemeinen Strombedarfs gedeckt. Das Geld wurde nicht eingesetzt, um Elektrizitätswerke und das Stromnetz des Landes zu modernisieren und auszubauen, sondern verschwand in teuren Verträgen mit teils ausländischen Stromanbietern.
  Das türkische Stromversorgungsschiff Orhan Bey von der türkischen Firma Karadeniz Powership, das nördlich von Saida ankert und Strom ins nationale Netz einspeiste, stellte Mitte Mai den Betrieb ein, weil Rechnungen in Millionenhöhe seit 18 Monaten nicht bezahlt worden waren. Die Bevölkerung versucht, den täglichen Strommangel auszugleichen, indem sie Strom von lokalen, privaten Grossgeneratoren dazu kaufen.

Devisenmangel

Der Libanon, der weder über eine starke Landwirtschaft noch über Industrie verfügt, benötigt Devisen, um auf dem Weltmarkt Weizen und Medikamente einzukaufen, die (noch) subventioniert werden. Zwar verfügt das Land über grosse Gasvorkommen im Mittelmeer, nicht aber über Geld, um das Gas zu fördern und zu vermarkten. Streit gibt es zudem zwischen dem Libanon und Israel über die Abgrenzung der Vorkommen entlang der südlichen Seegrenze.
  Die Schäden und wirtschaftlichen Verluste, die dem Land durch die Explosion im Hafen von Beirut Anfang August 2020 entstanden sind, werden von der Weltbank auf eine Summe zwischen 6,7 und 8,1 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die persönlichen Verluste der Bevölkerung durch Tod oder schwere Verletzungen von Angehörigen mit Langzeitfolgen sowie Traumatisierung sind finanziell nicht zu beziffern.

Fachkräfte verlassen das Land

Im Jahr 2020 haben rund 50 000 gut ausgebildete Fachkräfte den Libanon verlassen, eine genaue Zahl liegt allerdings nicht vor. Berufsverbände schätzen, dass bis zu 20 Prozent der Ärzte abgewandert sind oder das Land verlassen wollen. Etwa 400 Apotheken haben 2020 schliessen müssen, 70 Prozent der Absolventen eines Pharmaziestudiums wollen fort, um Arbeit in den arabischen Golfstaaten, Lateinamerika, Europa oder Australien zu finden.

Reisen ins Nachbarland Syrien sind kompliziert geworden

Auch die Reise nach Syrien ist kompliziert geworden. Direktflüge nach Damaskus gibt es von europäischen Flughäfen wegen der EU-Sanktionen seit zehn Jahren nicht mehr. Reisende fahren mit einem Taxi oder Sammeltaxi von Beirut über einen der drei nördlichen Grenzübergänge Richtung Tartus, Homs oder Aleppo oder über einen weiteren Grenzübergang nach Damaskus. Ein libanesischer Fahrer bringt die Reisenden an die libanesische Grenze, wo – auf der anderen Seite – ein Taxi aus Syrien steht. Während die Reisenden die Ausreiseformalitäten erledigen, verständigen sich die Fahrer per Handy über ihre jeweiligen Standorte. Das Gepäck wird zu Fuss über die Grenze zum syrischen Fahrzeug gebracht, das wartet, bis die Reisenden zu Fuss die Passkontrolle passiert haben und in den syrischen Wagen einsteigen können. Nur Fahrzeuge mit Sondergenehmigungen – meist organisiert durch lokale Reiseunternehmen – können noch zwischen Aleppo oder Sweida und Beirut Direktfahrten einschliesslich PCR-Test anbieten. Auch UN-Angehörige und Diplomaten oder Politiker werden nicht behindert.
  «Seit Monaten habe ich keine Fahrgäste gehabt», sagt Moutaz. «Niemand will reisen, seit es Corona gibt, und Libanon lässt die Syrer sowieso kaum einreisen. Wir können nur hoffen, dass die Grenze bald wieder geöffnet wird.» Seit mehr als zehn Jahren und zu jeder Jahreszeit hat Moutaz die Autorin sicher zwischen Beirut und Damaskus und umgekehrt gefahren. Seit März 2020 steht nicht nur das Transportgeschäft still. Auf libanesischer Seite sind Geschäfte, Restaurants und Cafés seit mehr als einem Jahr geschlossen, weil die Reisenden ausbleiben. «Ich habe Glück», meint Moutaz. «Ich habe einen Sohn in Schweden, der mir jeden Monat 150 US-Dollar schickt, damit kann unsere Familie überleben.» Mit «Familie» meint Moutaz nicht nur seine Frau, einen weiteren Sohn und die Tochter, sondern auch seine Brüder und Schwestern und deren Familien, die sich gegenseitig unterstützen.

Angst vor Sanktionen

Im März 2020 wurde die Schliessung der Grenze zwischen Syrien und Libanon als Covid-19-Schutzmassnahme deklariert. Inzwischen ist aber klar, dass der Nahezu-Stillstand von Personen- und Warentransfer zwischen beiden Ländern einen politischen Grund hat. Libanon – zumindest ein einflussreicher Teil der politischen Eliten – gibt dem Drängen aus den USA, Frankreich, Grossbritannien und Deutschland nach, die von EU und USA einseitig verhängten wirtschaftlichen Strafmassnahmen (Sanktionen) gegen Syrien umzusetzen. Vor allem das von den USA verhängte «Caesar-Gesetz» bedroht jeden, der mit Syrien Handel treibt. Libanon verspricht sich von der Grenzschliessung zum Nachbarland vermutlich westliche Hilfe, um die eigene ökonomisch katastrophale Lage wieder in den Griff zu bekommen.
  Die Folge ist, dass Öl-, Medikamenten-, Lebensmittellieferungen und Technologietransfer zum Stillstand gebracht werden. Selbst Hilfsorganisationen, die in Syrien tätig sind, haben Probleme, notwendiges Benzin zu transportieren oder Geld zu transferieren, um Mitarbeiter zu bezahlen. Um etwas nach Syrien zu bringen – und sei es nur ein kleines, technisches Ersatzteil für eine Maschine – müssen unübersichtliche bürokratische Hürden bei der EU und in den USA überwunden werden. Banken, Versicherungen und Transportunternehmen haben sich aus dem Geschäft zurückgezogen, weil sie Gefahr laufen, von der EU oder den USA bestraft zu werden.

Allein der Schmuggel blüht

In der EU spricht man von einer «Übererfüllung» (englisch: overcompliance) seitens der Banken oder auch anderer Unternehmen mit den EU-Strafmassnahmen oder dem US-Caesar-Gesetz. Humanitäre Hilfe sei von den Sanktionen ausgenommen, heisst es in der EU-Delegation für Syrien, die aus Beirut arbeitet.
  Die einseitigen Wirtschaftssanktionen gegen Syrien sorgen dafür, dass immerhin ein Wirtschaftszweig einen enormen Umsatz zu verzeichnen hat: Der Schmuggel blüht. Benzin aus dem Libanon wechselt im Niemandsland zwischen den Grenzen auch am hellen Tage den Besitzer, wie die Autorin selbst beobachten konnte. Und über Dutzende Schmuggelpfade durch das Antilibanon-Gebirge finden Güter, Menschen und Waffen gegen einen entsprechenden Aufpreis ihren Weg.  •

Erstveröffentlichung in junge welt vom 12. und 14.6.2021

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