Ein Plädoyer für mehr sozialen Zusammenhalt

Zum Buch von Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt

von Carola und Johannes Irsiegler, Gräslikon

Als im März 1999 die Nato die Bundesrepublik Jugoslawien bombardierte und sich Deutschland aktiv an diesem Krieg beteiligte, waren viele Menschen in ganz Europa entsetzt. Wie konnte es nur dazu kommen, dass eine sozialdemokratisch geführte Regierung diesen ersten Krieg auf europäischem Boden nach 1945 unterstützte? Wie konnte es zu diesem «Sündenfall der Linken» kommen, die noch zwanzig Jahre zuvor für Frieden und soziale Gerechtigkeit auf die Strassen gegangen war und nun den Propagandasalven des damaligen grünen Aussenministers Joschka Fischer erlag?
  Es ist das grosse Verdienst der deutschen Politikerin Sahra Wagenknecht, in ihrem 2021 erschienenen Buch «Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt» diese Entwicklung und deren Auswirkungen aus linker Sicht aufzuarbeiten.

Sahra Wagenknecht ist in Deutschland sehr bekannt. Sie ist eine linke Stimme, die sich immer wieder zu verschiedenen politischen Entwicklungen äussert und dabei ein hohes Mass an Eigenständigkeit zeigt. Sie setzt sich seit Jahren für soziale Gerechtigkeit ein und ist eine vehemente Kritikerin des Sozialabbaus der letzten Jahrzehnte in Deutschland – ganz im Sinne einer politisch linken Position. Die Tochter eines iranischen Vaters und einer deutschen Mutter wächst in der ehemaligen DDR auf. Sie studiert Philosophie, Neuere Deutsche Literatur und Volkswirtschaftslehre und promoviert in letzterem Fach. Zur Zeit der Wende wird sie Mitglied der Partei PDS, die später in die Partei Die Linke übergeht, und ist von 1991 bis 1995 und erneut von 2000 bis 2007 Mitglied des Vorstandes dieser Partei. Von 2010 bis 2014 ist sie Stellvertretende Parteivorsitzende, von 2015 bis 2019 Vorsitzende der Linksfraktion im deutschen Bundestag.

Die gespaltene Gesellschaft und ihre Freunde

Ausgehend von der Frage, warum linke Parteien die Bürger heute nicht mehr erreichen und darum auch nicht mehr gewählt werden, beschreibt Sahra Wagenknecht zunächst den derzeitigen gesellschaftlichen Zustand vieler westlicher Länder: «Es scheint, dass unsere Gesellschaft verlernt hat, ohne Aggression und mit einem Mindestmass an Anstand und Respekt über ihre Probleme zu diskutieren. […] Die Frage stellt sich daher: Woher kommt die Feindseligkeit, die unsere Gesellschaft mittlerweile bei fast jedem grossen und wichtigen Thema spaltet?» (S. 10/11)
  Entgegen der veröffentlichten Meinung sieht sie die Schuld für das vergiftete Klima sowohl in Deutschland als auch in den USA nicht alleine bei der erstarkenden Rechten: «Die erstarkte Rechte ist nicht die Ursache, sondern selbst das Produkt einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft.» (S. 11) Vielmehr richtet sie das Augenmerk auf die Rolle der Linken: «Am Niedergang unserer Debattenkultur hat der Linksliberalismus grossen Anteil. […] Ob Flüchtlingspolitik, Klimawandel oder Corona, es ist immer das gleiche Muster. Linksliberale Überheblichkeit nährt rechte Terraingewinne.» (S. 13)
  Sie kritisiert die Selbstgerechtigkeit in den Reihen derjenigen Linken, die «die Seiten gewechselt haben» (S. 97) und die sie unter dem Begriff «Linksliberalismus» zusammenfasst. Sie sind die «Gewinner der sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte» (S. 97). Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft ist für Sahra Wagenknecht in «dem Verlust von Sicherheit und Gemeinsamkeit» begründet, der «mit dem Abbau der Sozialstaaten, der Globalisierung und den wirtschaftsliberalen Reformen verbunden war». (S. 14) Der globalisierte, regellose Kapitalismus habe die einfachen Leute zu Verlierern gemacht, Gewinner hingegen seien die Eigentümer grosser Finanz- und Betriebsvermögen sowie eine neue akademische Mittelschicht in den Grossstädten, die das eigentliche Milieu des Linksliberalismus darstellen.
  Sahra Wagenknecht beanstandet, dass sich linke Parteien davon verabschiedet haben, den Kapitalismus einem Rechtsrahmen zu unterstellen und damit zu bändigen, und sich das Konzept einer «entfesselten Marktgesellschaft» (S. 125) einer Margret Thatcher und eines Ronald Reagan zu eigen gemacht haben. «Dass die ehemalige britische Premierministerin die Frage nach ihrem grössten politischen Erfolg einmal mit ‹Tony Blair und New Labour› beantwortete, war […] Ausdruck einer tiefen Wahrheit.» (S. 125)
  Die linksliberale Führungsriege führte die Politik des Sozialabbaus fort. «Der alte Neoliberalismus und die politische Agenda entfesselter Märkte und globaler Renditejagd hatten bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihren gesellschaftlichen Rückhalt verloren. Es spricht viel dafür, dass diese Politik ohne die neue linksliberale Rückendeckung nicht hätte fortgeführt werden können.» (S. 139)
  Sahra Wagenknecht kritisiert aus ihrer linken Position heraus den Weg, den einige linke Meinungsführer der letzten Jahrzehnte beschritten haben. Diese haben sich zu Steigbügelhaltern des Neoliberalismus und der Globalisierung gemacht, sind den «dritten Weg» eines Blair, eines Jospin und eines Schröder gegangen und haben dabei ihre ursprünglichen Anliegen für Frieden und soziale Gerechtigkeit verraten. Diese Entwicklung hat bereits in den 80er Jahren mit dem Wechsel von der alten sozialdemokratischen Führungsgarde zu einer jüngeren Generation begonnen. Um neoliberales Wirtschaften weiterzuführen, aus Geld noch mehr Geld zu machen, schrecken sie vor keinem Mittel zurück, selbst nicht vor einem Krieg.

Wie linke Parteien die sozialen Anliegen aus dem Auge verloren haben

Anstatt sich um soziale Anliegen zu kümmern, beschäftigen sich linke Parteien heute vor allem mit «Fragen der Abstammung, des Geschlechts und der sexuellen Orientierung» und den «Regeln korrekter Ausdrucksweise» (S. 99). Sahra Wagenknecht zeigt den philosophischen Hintergrund dieser «Manie» in den Theoriegebäuden der französischen Dekonstruktivisten um Michel Foucault und Jacques Derrida auf und weist auf deren verheerende, gesellschaftliche Folgen hin: «Der identitätspolitische Linksliberalismus, der Menschen dazu anhält, ihre Identität anhand von Abstammung, Hautfarbe, Geschlecht oder sexuellen Neigungen zu definieren, konstruiert aber nicht nur gemeinsame Interessen, wo es überhaupt keine gibt. Er spaltet zugleich da, wo Zusammenhalt dringend notwendig wäre. Er tut dies, indem er angebliche Minderheiteninteressen fortlaufend in Gegensatz zu denen der Mehrheit bringt und Angehörige von Minderheiten dazu anhält, sich von der Mehrheit zu separieren und unter sich zu bleiben.» (S. 114)
  Das alte Herrschaftsprinzip «divide et impera» lässt grüssen! Der Linksliberalismus entfremdet die linken Parteien «der traditionellen Mittelschicht, der Arbeiterschaft und ärmeren Nichtakademikern, die sich von der linksliberal-weltbürgerlichen Erzählung weder sozial noch kulturell angesprochen fühlen, sondern sie – zu Recht! – als Angriff auf ihre Lebensbedingungen, ihre Werte, ihre Traditionen und ihre Identität empfinden». (S. 139) Dabei legen die Linksliberalen eine Überheblichkeit an den Tag, indem sie ihren Lebenswandel und ihre Überzeugungen zum Massstab für alle machen wollen.
  Sahra Wagenknechts Sorge gilt dabei dem Umstand, dass die Linke ihre Wählerschaft zunehmend an die rechten Parteien verliert und diese «die neuen Arbeiterparteien» seien. (S. 175) Solange die politische Linke kein überzeugendes politisches Programm anbiete, welches nicht nur die wachsende Zahl weniger wohlhabender Akademiker anspreche, sondern auch den sozialen Interessen und Wertvorstellungen der Arbeiter, der Servicebeschäftigten und auch der traditionellen Mitte entgegenkomme, würden immer mehr Menschen aus diesen Schichten sich entweder von der Politik abwenden oder auf der anderen Seite des politischen Spektrums eine neue Heimat suchen.

Nicht Migration, sondern wirkliche Entwicklung fördern

Zu den Verlierern von Neoliberalismus und Globalisierung gehören auch die Migranten, da sie als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden. «Zwischen Ländern auf einem ähnlichen Entwicklungsstand ist die Freizügigkeit in der Wahl des Wohn- und Arbeitsortes ein Freiheitsgewinn. Zwischen armen und reichen Ländern dagegen vergrössert sie die Kluft, senkt im reicheren Land die Löhne und verschlechtert die Lebensbedingungen für diejenigen, die ohnehin schon zu den Benachteiligten gehören.» (S. 169) Dies kann wahrlich «kein linkes Projekt sein […]». (S. 169) Statt Migration zu fördern, müsse, wer wirklich Entwicklung fördern und Armut auf globaler Ebene bekämpfen wolle, andere Wege gehen. Frau Wagenknecht nennt dabei als ersten und dringlichsten Schritt «ein Ende der westlichen Interventionskriege und der Munitionierung von Bürgerkriegen durch Waffenlieferungen». (S. 170) Zudem fordert sie eine Handelspolitik, die es ärmeren Ländern erlaubt, das anzuwenden, was erfolgreichen Volkswirtschaften in Fernost aus der Armut geholfen hat: «Zölle zum Schutz der eigenen Industrien und der Landwirtschaft, staatliche Förderpolitik, Hoheit über die eigenen Rohstoffe und Ackerflächen […].» (S. 170) Für die Flüchtlinge in den Elendslagern dieser Welt müssten die UN-Organisationen vor Ort mit deutlich mehr finanziellen Mitteln ausgestattet werden.

Ein Programm für Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand

Den zweiten Teil ihres Buches widmet Sahra Wagenknecht der Frage, was zu tun ist, um aus diesen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen herauszufinden. Sie ruft zunächst die anthropologischen Grundlagen unseres Menschseins in Erinnerung: «Trotz der vielbeschworenen Individualisierung moderner Gesellschaften ist der Mensch bis heute ein Gemeinschaftswesen.» (S. 205) Dies deckt sich mit den Erkenntnissen der modernen Anthropologie und Psychologie, die von der Sozialnatur des Menschen ausgehen. Der sogenannte Homo oeconomicus, von dem die heutigen Ökonomen fälschlicherweise ausgehen, ist ein «egoistisches Wesen ohne soziale Bezüge und Gemeinschaftsbindungen […]». (S. 209) Für das Weiterbestehen des demokratischen Staates braucht es hingegen einen «Fundus an Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Werten». (S. 214) Ohne Gemeinsinn und Zusammenhalt drohe «eine Gesellschaft, die von den Märkten und grossen Firmen regiert wird und sich vom Anspruch auf demokratische Gestaltung verabschiedet hat». (S. 214) Es brauche Werte wie Gemeinsinn, Solidarität und Mitverantwortung. Die Quellen dieses Denkens sind in der katholischen Soziallehre ebenso wie in der Sozialdemokratie begründet. Einen positiven Ansatz sieht sie auch in der ökonomischen Schule des Ordoliberalismus, der Freiburger Schule, die die Wirtschaft den Regeln des Rechtsstaats unterstellt und damit das erfolgreiche Konzept der sozialen Marktwirtschaft begründet hat. «Die starken europäischen Sozialstaaten der Nachkriegszeit hätten ohne ein solches Fundament nicht entstehen können.» (S. 215)

Gemeinschaft und Zugehörigkeit

In der Folge entwickelt Sahra Wagenknecht ein auf gemeinschaftsorientierten konservativen Werten aufbauendes Programm. Als konservative Werte bezeichnet sie unter anderem den Wunsch nach stabilen Gemeinschaften und nach Zugehörigkeit. Sie hält fest: «Indem Gemeinschaften gemeinsame Werte verankern, stiften sie Sinn, Identität und Geborgenheit. Die Sehnsucht nach sozialen Bindungen ist kein Ergebnis einer Unterwerfung, wie einer der Vordenker des Linksliberalismus, Michel Foucault, behauptet hat. Die Prägung des Menschen durch seine Geschichte und nationale Kultur ist daher auch kein Gefängnis, aus dem man ihn befreien muss.» (S. 224) Und weiter führt sie aus: «Auch die stabile Familie ist kein Käfig, sondern für viele Menschen ein Lebenstraum, den das ökonomische Umfeld immer häufiger unerfüllbar macht.» (S. 224) Sie erinnert daran, dass die «gebändigten Marktwirtschaften der europäischen Nachkriegszeit […] für eine grosse Mehrheit eine weit erträglichere Gesellschaft (waren) als der enthemmte, globalisierte Kapitalismus unserer Zeit». (S. 224) Es gehe darum, «sich dessen bewusst zu werden, dass eine geordnete Welt, Stabilität und Sicherheit im Leben, demokratische Gesellschaften mit echtem Wir-Gefühl und Vertrauen zu anderen Menschen […] nicht nur Vergangenheit ist, sondern auch Zukunft sein kann». (S. 225)

Zur Bedeutung des Nationalstaates

Als Demokratin erkennt Sahra Wagenknecht, dass der souveräne Nationalstaat Grundlage für ein demokratisches Miteinander ist und nur in ihm der Schutz der Schwächeren garantiert werden kann: «Ein Mehr an Demokratie und sozialer Sicherheit ist daher nicht durch weniger, sondern nur durch mehr nationalstaatliche Souveränität zu haben.» (S. 243) Nationale Identitäten können nicht von oben verordnet werden, sondern müssen historisch wachsen. In diesem Sinne steht sie auch dem Versuch, «die EU durch eine Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen in Brüssel zu einen […]» (S. 244), kritisch gegenüber. Die EU müsse ihrer Meinung nach nicht aufgelöst, sondern «zu einer Konföderation souveräner Demokratien» (S. 244) umgebaut werden. Denn zentralistisches Vorgehen habe anstelle von mehr Gemeinsamkeit und grossen europäischen Antworten auf die Probleme unserer Zeit wachsende Spannungen und Konflikte hervorgebracht.
  Die einzelnen Länder, regt Sahra Wagenknecht an, sollten sich am Modell der Schweiz orientieren und mehr direkte Demokratie zulassen (S. 267). Auch die Versorgung mit öffentlichen Gütern muss eine echte Demokratie gewährleisten und finanzieren: «Krankenhäuser und Universitäten sind keine Profitcenter. Krankenhäuser sollen heilen. Pflegeheime pflegen, Schulen Wissen vermitteln und Universitäten unabhängig forschen, und sie alle benötigen Finanzen, Personal und Kompetenz, um diesen öffentlichen Auftrag zu erfüllen.» (S. 266) Sie spricht sich für eine Industriepolitik aus, die auf nachhaltigen Technologien, einer Re-Organisation der Währungsbeziehungen und einer «De-Globalisierung und Re-Regionalisierung unserer Wirtschaft» (S. 316) fusst.
  Auf globaler Ebene fordert Sahra Wagenknecht solidarische Zusammenarbeit auf der Grundlage staatlicher Souveränität. Die Aushöhlung nationalstaatlicher Souveränität durch supranationale Institutionen hingegen lehnt sie ab, denn dadurch werde die Bevölkerung entmündigt und sie nütze vor allem den Wirtschaftseliten. (S. 246)
  Sahra Wagenknecht selbst bezeichnet ihr Buch als einen Vorschlag, was die Linke besser machen könne, um wieder mehr Menschen zu erreichen, vor allem diejenigen, die nicht privilegiert sind. Es sei ein Plädoyer für mehr sozialen Zusammenhalt und eine Auseinandersetzung mit denjenigen Tendenzen, die dem entgegenstehen.
  Wenn es Sahra Wagenknecht mit ihrem Buch gelingt, dass sich Politik wieder vermehrt am Gemeinwohl orientiert, ist für uns alle viel gewonnen.  •

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