Krieg an Armeniens Staatsgrenzen

von Gerd Brenner, Oberst d. G.

Trotz offensichtlicher militärischer Aggression Aserbaidschans im Herbst vergangenen Jahres hat Armenien von der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft bislang nicht viel mehr als rhetorische Unterstützung erhalten. Gerade die USA und Frankreich als Co-Vorsitzende derjenigen Staatengruppe, welche sich eine friedliche Lösung des Karabach-Konflikts auf die Fahnen schrieb, unternahmen nichts, um der aserbaidschanischen Aggression Einhalt zu gebieten. Das wirft einmal mehr ein bezeichnendes Licht auf die Doppelstandards und die Schwäche westlicher Aussenpolitik. Wirtschaftliche Interessen schieben völkerrechtliche Prinzipien rasch beiseite, vor allem, wenn dazu noch das geopolitische Setting stimmt.

In den vergangenen Wochen ereigneten sich – weitgehend unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit – mehr als nur Zwischenfälle an der Staatsgrenze zwischen Armenien und Aserbaidschan: Man kann von eigentlichen Grenzgefechten sprechen. Diese sind um so besorgniserregender, als sie nicht an der umstrittenen Grenze in Berg-Karabach stattfanden, sondern an der völkerrechtlich anerkannten Grenze zwischen den beiden Staaten im Südkaukasus.

Gefährliches Eskalationspotential in geopolitisch heikler Region

Das Eskalationspotential in einer Region, in welcher Russland, Georgien, die Türkei und Iran aneinander grenzen, ist enorm. Um so unverständlicher ist, weshalb die kriegerischen Ereignisse der letzten Wochen so wenig Widerhall fanden.
  Im armenisch-aserbaidschanischen Krieg, der 1994 endete, eroberten die Armenier und die Karabacher zusammen das Siedlungsgebiet der ethnischen Armenier in Berg-Karabach sowie die umliegenden, von Aserbaidschanern bewohnten Gebiete. Die dort wohnhaften Aserbaidschaner flohen ins aserbaidschanische Kernland, wo sie seither in Flüchtlingssiedlungen auf die Rückkehr in ihr angestammtes Land warteten. In den Jahren zwischen 1994 und 2020 bauten Armenien und Arzach, wie sich die Republik Nagornyi Karabach seit ein paar Jahren nennt, die eroberten Gebiete zu einer Art militärischem Glacis aus, in welchem sie starke Feldbefestigungen errichteten. Immer wieder kamen Diskussionen auf, ob Armenien bzw. die Republik Arzach diese Gebiete im Tausch gegen Frieden an Aserbaidschan zurückgeben solle. Skeptiker wiesen darauf hin, dass nach solch einem Abtausch die militärische Position von Arzach sehr prekär werden würde, weil es dann vollständig von aserbaidschanischem Gebiet umgeben wäre. Sie wandten sich auch mit dem Argument dagegen, dass keinesfalls garantiert sei, dass Aserbaidschan nach einem derartigen Gebietsabtausch friedlich bleibe. Hardliner wehrten sich entschieden gegen einen Deal nach dem Prinzip «Land für Frieden», weil sie nicht einsehen wollten, weshalb unter blutigen Verlusten eroberte Gebiete an den Feind zurückgegeben werden sollten. Das aktuelle Verhalten des Alijew-Regimes in Baku gibt den Skeptikern im nachhinein recht: Aserbaidschan hat seine Gebiete rund um Berg-Karabach wieder zurückerhalten, aber es sieht nicht so aus, als ob Ilham Alijew damit zufrieden wäre.
  In der Grenzregion zwischen Armenien und der Türkei, rund um den berühmten Berg Ararat, endete der Kalte Krieg bis heute nicht. Auf der Basis eines bilateralen Vertrags sind seit 1992 russische Grenztruppen an der armenisch-türkischen Grenze stationiert.1 Darüber hinaus sind Armenien und Russland Verbündete in der Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit OVKS. Das ist ein klares Zeichen Russlands an die Türkei: Ein Angriff auf Armenien käme einem Angriff auf Russland gleich, das in Armenien eine Luftwaffenbasis betreibt und das Gerät für eine Motorisierte Schützendivision eingelagert hat.2 Russland ist willens und in der Lage, einen türkischen Angriff abzuwehren.

Friedensbemühungen der OSZE

Um den Konflikt einer friedlichen Lösung zuzuführen, formulierte eine Gruppe von OSZE-Teilnehmerstaaten im Jahr 2007 die sogenannten Madrider Prinzipien, welche die Rückgabe der 1994 eroberten, aserbaidschanisch bewohnten Gebiete durch Arzach an Aserbaidschan vorsahen.3 Einzig der sogenannte Laçin-Korridor, ein Geländestreifen von wenigen Kilometern Breite, sollte unter der Kontrolle der Republik Arzach verbleiben. Er verbindet Berg-Karabach mit Armenien und stellt so etwas wie die Nabelschnur zwischen Arzach und dem armenischen Mutterland dar.
  Im sechs Wochen dauernden Krieg vom 27. September bis 8. November vergangenen Jahres eroberte die aserbaidschanische Armee grosse Teile des «Glacis» zurück, nahm die symbolisch wichtige Stadt Shuha/Shushi ein und eroberte einen Teil des Bezirks Hadrut.4 Hadrut stellte seit jeher Teil des Kernbestandes von Berg-Karabach dar und war von ethnischen Armeniern bewohnt gewesen. Nach dem von Russland vermittelten Waffenstillstand vom 9. November vergangenen Jahres mussten die Bewohner von Hadrut ihre alte Heimat verlassen, denn an ein friedliches Zusammenleben von Armeniern und Aserbaidschanern ist auf absehbare Dauer nicht zu denken.5 Auf beiden Seiten der Front wuchs seit 1994 eine Generation heran, die in Hass und Furcht vor der jeweiligen Gegenseite erzogen wurde. Unter der Devise «preparing peoples for peace» versuchten westliche Diplomaten, die Konfliktparteien zum Verzicht auf die Greuelpropaganda zu bewegen, im vollen Bewusstsein, dass es Jahre oder Jahrzehnte dauern könnte, bis das gegenseitige Misstrauen und die Furcht abgebaut sind.6 Mit der Eroberung des Bezirks Hadrut hat Ilham Alijew dem Westen nun gezeigt, was er von friedlicher Konfliktlösung hält.

Russische Peacekeeper zur Sicherung der staatlichen Existenz Arzachs

Im Waffenstillstand vom 9. November 2020 musste Arzach die 1994 eroberten Gebiete an Aserbaidschan abtreten, behielt aber den Laçin-Korridor. Kurz nach dem Abschluss des Abkommens rückten russische Peace-keeping-Truppen in Berg-Karabach ein. Sie sind nun für eine Dauer von mindestens fünf Jahren im Restgebiet der Republik Arzach stationiert. Danach, so die Bestimmungen des Waffenstillstandsvertrags, soll über ihren weiteren Verbleib oder einen Ersatz durch eine internationale Peacekeeping-Truppe entschieden werden. Die russischen Peacekeeper anzugreifen, käme Aserbaidschan politisch und militärisch teuer zu stehen, es würde sich dadurch die noch verbliebenen Sympathien vollständig verscherzen. Damit wurden die russischen Peacekeeper nach den russischen Grenztruppen zur zweiten «Stolperdraht-Truppe» im Südkaukasus, und Russland wurde zum Garanten der staatlichen Existenz der Republik Arzach. Die russischen Peacekeeper verhindern über die nächsten fünf Jahre, dass Alijew ganz Berg-Karabach wieder unter seine Kontrolle bekommt.

Aserbaidschan: Kalkül mit Waffenstillstandsverletzungen

In den letzten Wochen kam es zu weit mehr als zu blossen Zwischenfällen an der vielfach unmarkierten und in unübersichtlichem Gelände verlaufenden Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan. So drangen aserbaidschanische Truppen in der armenischen Provinz Syunik offenbar mehrere Kilometer auf armenisches Gebiet vor.7 Am 20. Juli kam die Ortschaft Yeraskh im Dreiländereck zwischen Armenien, der aserbaidschanischen Enklave Nakhichevan, der Türkei und Iran unter Beschuss.8 Und Ende Juli wurden zwei armenische Ortschaften bei Vardenis am Südostrand des Sevan-Sees zu Schauplätzen von Gefechten.9 Bei all diesen Ortschaften handelt es sich um unbestrittenes Territorium von Armenien und nicht um völkerrechtlich umstrittenes Gebiet von Berg-Karabach.
  Die Ereignisse der vergangenen Wochen zeigen, dass Ilham Alijew mehr will, als er im Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 bekam. Die russischen Peacekeeper hindern ihn daran, das Restgebiet von Arzach mit Gewalt zu erobern und die letzten Armenier aus seinem Land zu vertreiben. Deshalb möchte er einen Friedensvertrag mit Armenien schliessen, in welchem dieses die Hoheit Aserbaidschans über Berg-Karabach anerkennt. Sollte ein solcher zustande kommen, kann Alijew von Russland den Abzug der Peacekeeper verlangen. Die Methode, mit welcher er Armenien zu solch einem Schritt bewegen will, ist militärische Gewalt. In Umkehrung der Devise «Land für Frieden» will er durch Schläge gegen armenisches Gebiet spätestens bis 2025 die armenische Regierung zu einem Einlenken zwingen. Gepaart mit weiteren Massnahmen zur wirtschaftlichen Isolation Armeniens könnte diese Methode durchaus zum Erfolg führen.

Armenien – einmal mehr Bauernopfer der Machtpolitik?

Mit Enttäuschung nahm Armenien das westliche Schweigen angesichts der offenen militärischen Aggression Aserbaidschans im vergangenen Oktober zur Kenntnis und hätte sich auch ein früheres Eingreifen Russlands gewünscht. Ähnlich wie sein Nachbar Iran muss auch Armenien langsam zur Erkenntnis kommen, dass auch eklatante Völkerrechtsverletzungen keine Gegenmassnahmen der internationalen Gemeinschaft auslösen, wenn es am politischen Willen hierfür mangelt. Und dieser wiederum ist oftmals eine Funktion geopolitischer Ambitionen.
  In Armenien wächst auch die Sorge um vermisste armenische Soldaten, und es kommt der Verdacht auf, dass Aserbaidschan bislang nicht alle Kriegsgefangenen ausgetauscht hat, wie vertraglich vereinbart, sondern noch eine Anzahl von ihnen zurückhält, um Armenien zu erpressen.
  Noch sind Armeniens Grenzen zu seinen Nachbarn Georgien und Iran geöffnet. Auch diese Grenzen möchte Alijew gerne schliessen. Da kommt ihm westliche Druckausübung auf Iran gerade recht, genauso wie Spannungen zwischen Russland und Georgien. Für Armenien sind die Zukunftsaussichten trüb. Für die kommenden fünf Jahre darf es wohl nicht viel mehr erwarten als wirtschaftlichen Druck und Kleinkrieg an seinen Grenzen; und vom Westen bestenfalls rhetorische Unterstützung. •



1  Grundlage dafür ist der «Vertrag zwischen der Republik Armenien und der Russischen Föderation über den Status und die Funktion der auf dem Territorium der Republik Armenien stationierten Grenztruppen der Russischen Föderation» vom 30.9.1992, russ. «Договор между Республикой Армения и Российской Федерацией о статусе и функциях пограничных войск Российской Федерации, дислоцированных на территории Республики Армения», online unter https://docs.cntd.ru/document/1900722 und https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/280284/. Siehe auch «О пограничных войсках» auf der Homepage des Nationalen Sicherheitsdiensts Armeniens, https://sahmanapah.sns.am/ru/%D0%BE-%D0%BF%D0%BE%D0%B3%D1%80%D0%B0%D0%BD%D0%B8%D1%87%D0%BD%D1%8B%D1%85-%D0%B2%D0%BE%D0%B9%D1%81%D0%BA%D0%B0%D1%85
2  siehe Ирина ПАВЛЮТКИНА: Министр обороны Республики Армения Сейран ОГАНЯН, Россия – исторически наш стратегический союзник, in: Красная звезда, 20.3.2009. Die Basis bleibt vertraglich vorerst bis 2044 bestehen. Vgl. auch Homepage des russ. Verteidigungsministeriums: «Министры обороны России и Армении подписали Соглашение об Объединенной группировке войск двух стран», 30.11.2016, online unter https://function.mil.ru/news_page/country/more.htm?id=12105072@egNews#txt und Алина Назарова: Российская база под Ереваном заработала в «сирийском» режиме, 2 декабря 2020, online unter https://yandex.ru/turbo/vz.ru/s/news/2020/12/2/1073492.html?utm_source=yxnews&utm_medium=desktop. Zum Luftwaffenstützpunkt Erebuni auch Homepage des russ. Verteidigungsministeriums: На российскую авиабазу в Армении поступила партия современных вертолетов, 08.12.2015, online unter https://function.mil.ru/news_page/country/more.htm?id=12071115@egNews#txt
3  siehe CSS-Studien zur Sicherheitspolitik: Berg-Karabach, Hindernisse für eine Verhandlungslösung, Nr. 131, April 2013, online unter https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CSS-Analysen_131-DE.pdf. Die sog. Minsker Gruppe der OSZE besteht aus Belarus, Deutschland, Italien, Schweden, Finnland und der Türkei sowie Armenien und Aserbaidschan. Nach dem Rotationsprinzip sind auch die drei Staaten der OSZE-Troika ständige Mitglieder. Die Gruppe wird gemeinsam von den USA, Frankreich und Russland präsidiert.
4  Eine Übersicht bei Halbach, Uwe. Nagorny-Karabach, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 26.11.2020, online unter https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/224129/nagorny-karabach. Zum viel erwähnten Drohnen-Einsatz siehe: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Dokumentation zum Drohneneinsatz im Krieg um Bergkarabach im Jahre 2020, o. O. 2021, online unter https://www.bundestag.de/resource/blob/825428/5b868defc837911f17628d716e7e1e1d/WD-2-113-20-pdf-data.pdf

5  Der Wortlaut des Vertrags bei З аявление Президента Азербайджанской Республики, Премьер-министра Республики Армения и Президента Российской Федерации 10 ноября 2020 года, online unter http://www.kremlin.ru/events/president/news/64384, engl. Übersetzung bei Bundeszentrale für politische Bildung, 1.12.2020, Dokumentation: Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Aserbaidschan und Armenien vom 10. November 2020, online unter https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/322104/dokumentation-waffenstillstandsvereinbarung-zwischen-aserbaidschan-und-armenien-vom-10-november-2020.
6  Der Autor hat selbst an entsprechenden Gesprächen teilgenommen.
7  siehe Brenner, Gerd. «Kaviar und Krieg im Kaukasus, Bestechlichkeit und Machtgier lassen die Region nicht zur Ruhe kommen», in: Zeit-Fragen Nr. 12/13, 1. Juni 2021, online unter https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2021/nr-1213-1-juni-2021/kaviar-und-krieg-im-kaukasus.html  und https://www.fr.de/politik/rote-linien-am-schwarzen-see-90612220.html sowie https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/neue-spannungen-zwischen-armenien-und-aserbaidschan-17341621.html
8  siehe https://twitter.com/NKobserver/status/1417255693107834881. Vgl. auch Latton, Marcus. Bergkarabach ist nicht genug, in: Jungle.world 30/2021 vom 29.07.2021, online unter https://jungle.world/artikel/2021/30/bergkarabach-ist-nicht-genug
9  siehe Gyulumyan, Gevorg. «Fighting on the Armenian-Azerbaijani Line of Contact Halted», in: The Armenian Mirror Spectator, July 28, 2021, online unter https://mirrorspectator.com/2021/07/28/fighting-on-the-armenian-azerbaijani-line-of-contact-halted/ und Ghazanchyan, Siranush. «Armenia downs Azerbaijani Aerostar drone near Vardenis», in: Public Radio of Armenia, July 30, 2021, online unter https://en.armradio.am/2021/07/30/armenia-downs-azerbaijani-aerostar-drone-near-vardenis/

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