Mehr aufrechter Gang steht der Schweiz gut an

Rückblick auf einen verwässerten 1. August

von Peter Küpfer

Der 1. August ist seit 130 Jahren der Bundesfeiertag der Schweizerischen Eidgenossenschaft. An diesem Tag besinnt sich die Schweiz in Erinnerung an den Bundesbrief von 1291 auf ihre Gründungszeit. Eingedenk des Beistandspakts bei kriegerischen Bedrohungen sicherten sich im Hochmittelalter die drei alten Gründungsorte Uri, Schwyz und Unterwalden gegenseitige Hilfe zu. Der Abschluss dieses grundlegenden Vertrages wird allgemein als «Geburt der Schweiz» angesehen, am 1. August offiziell gefeiert und mit Besinnung auf Geschichte und Gegenwart mit Ernst begangen. In letzter Zeit ist diese Besinnung zunehmend in den Hintergrund gerückt. Ob das mit dem von vielen diagnostizierten Mangel an Selbstbewusstsein der Schweiz und einiger ihrer Repräsentanten zusammenhängt?

Staatsziel der Schweiz ist, geschützt durch ihre Verfassung, nicht nur die Sicherung ihrer viersprachigen Bevölkerung im Innern, sondern auch deren Schutz gegen äusserliche Bedrohungen, auch kriegerische. Der Schutz des schweizerischen Territoriums sowie die Kriegsverhinderung sind als Staatspflicht verfassungsmässig festgelegt und wurden 160 Jahre lang mit der schweizerischen Milizarmee glaubhaft und effizient geschützt. Dass die Schweizer Armee heute weitgehend abgebaut wird, hat Gründe, die wir in dieser Zeitung immer wieder benannt und dokumentiert haben (vgl. dazu auch den Beitrag von Gotthard Frick in dieser Ausgabe).

Unzureichende Analysen

Diese Entwicklung weg von der Substanz wurde von Kreisen befördert, die in der Besinnung auf die Nation bereits «Rechtslastigkeit» sehen, Stolz auf die bewahrte Freiheit als Arroganz abtun und die Verteidigung der eigenen Interessen, sogar der schweizerischen Souveränität, als «typisch schweizerischen Egoismus» und «Rosinenpicken» verunglimpfen. Verschiedenen Medientexten zum 1. August 2021 zufolge überwog denn auch eine gewisse Lustlosigkeit oder der Versuch, auf Nebengleise auszuweichen. Die «Neue Zürcher Zeitung», international angesehenes Forum der Schweizer Liberalen, beschränkte sich in ihrem Beitrag zum 1. August schwerpunktmässig  auf ein doppelseitiges Potpourri, in welchem sie im Sinne einer «Zukunftswerkstatt Schweiz» originellen Ideenproduzenten Raum für Zukunftsträchtiges gab oder das, was dafür gehalten wurde. Die CH-Media-Zeitungen («St. Galler Tagblatt» und weitere Medien) veröffentlichten ein Interview mit alt-Bundesrat Couchepin (FDP), in welchem er die Entschlossenheit des Bundesrates, dem Trauerspiel Rahmenvertrag mit der EU ein Ende zu setzen, als «Machtgebaren» hinstellte. Entgegen der Stimmung von Teilen seiner eigenen Partei, deren Anschlusspolitik an die EU in jüngerer Zeit auf eine entschiedene und sachlich argumentierende innerparteiliche Opposition stösst, vertritt er weiter das Credo, dass der Schweiz nur die Anpassung an die EU von Nutzen sei. Auf die Frage, wie sich dies mit ihrer Souveränität, ihrer direkten Demokratie und ihrer Neutralität vertrage, ging der alt-Bundesrat nicht ein.
  Die Weltwoche veröffentlichte einen übellaunig-sarkastischen Kommentar ihres Chefredaktors Roger Köppel unter dem Titel «Überleben in einer verrückten Welt». Dass vieles ausser Rand und Band geraten ist, ist offensichtlich. Dass aber von einer pointiert bürgerlichen Position aus Sätze wie die folgenden Anspruch darauf erheben, ernst genommen zu werden, ist denn doch erstaunlich. Köppel schreibt in seinem Leitartikel zur Bundesfeier unter anderem: «Die Menschen neigen zur Hab- und Machtgier. Die Starken würden die Schwachen umbringen oder ausbeuten, wenn man sie denn liesse. Ich staune jeden Tag, dass es so etwas wie die Schweiz überhaupt gibt. Ein Land, in welchem sich die Leute selber regieren.» Etwas später vertritt er, die Schweiz verdanke ihre Existenz wesentlich «dem Zufall». Dass es die Schweiz gibt, beruht allerdings weniger auf Zufall und gar nicht auf den Eigenschaften, die der Autor wider gefestigte Erkenntnisse der Anthro-pologie unserer Gattung zuspricht. Die menschliche Gattung hat im Gegenteil gerade deshalb überlebt, da sich Individuen zusammentun und zusammenwirken konnten, schon immer.

Ermutigendes

Während dies alles wie eine Art konzertiertes Ablenken vom Eigentlichen erscheint, heben sich einige ermutigende Stellungnahmen vorteilhaft ab. Sie sollen hier genannt werden. Im «Tages-Anzeiger» sieht Autor Marius Huber in seinem Leitartikel das Hauptproblem der faden 1. August-Feiern im Zustand der Vereinzelung der Bürger unter sich: «Wir werden ein Land von Narren, die einander nicht mehr zuhören wollen. Die lieber ungestört ihre Egopartys feiern. Das muss sich ändern.» (Huber, Marius. So lassen wir den 1. August lieber aus, «Tages-Anzeiger» vom 31.7.2021). Grossen Anteil an dieser Vereinzelung sieht er im Rückzug vieler auf reine Selbstbestätigungskreise, eine Erscheinung, bei der die Sozialen Medien eine Hauptrolle spielen. Als Abhilfe verspricht sich Huber viel von der zeitgleich zum 1. August lancierten neuen Initiative, welche die Schaffung eines generellen Dienstes an der Zivilgesellschaft fordert, für ihn ein möglicher «Ausweg aus dieser Sackgasse der Egozentrik». In einem Gastkommentar legt Historiker Markus Somm zu Recht das Hauptgewicht auf die frühe Autonomie der entstehenden Eidgenossenschaft: «Im nun faktisch autonomen Uri herrschte von 1231 an die Landsgemeinde, alle Männer ab 14 Jahren waren stimm- und wahlberechtigt, und so wuchs hier in den Alpen ein neues politisches Gebilde heran, das nicht einzigartig war in Europa, aber doch selten: eine Art Republik, wo kein Fürst regierte, sondern die Landleute sich selbst.» (Somm, Markus. Die Schweiz hat ihren Reiz, Gastkommentar, Tages-Anzeiger vom 31.7.2021)
  Auf den dadurch begünstigten Geist der Solidarität und des Ringens um gemeinsames Handeln legten auch verschiedene Bundesräte das Gewicht ihrer diesjährigen Ansprachen zum 1. August. Stellvertretend für sie sei hier Bundespräsident Guy Parmelin in seiner Rede auf dem Glacier 3000 inmitten der Waadtländer Alpen zitiert. Er kleidet die oft mühsam gewonnenen, aber tragfähigen Entscheide der Willensnation Schweiz ins Bild einer anspruchsvollen Bergbesteigung: «Die Schweiz hat ihren Erfolg klaren Entscheidungen zu verdanken. Nicht Vermutungen, Zufall, Arroganz oder Leichtsinn. Unser Land ist mit harter Arbeit, mit gegenseitiger Hilfe, mit Mut und Optimismus aufgebaut worden. […] Wir stehen vor grossen gesundheitlichen, ökologischen, sozialen und geopolitischen Herausforderungen. Nur wenn wir uns als Team verstehen, in dem sich jeder für den anderen einsetzt, wird es unserem Land gelingen, diese Herausforderungen zu meistern. So wie eine Seilschaft hier in den Bergen, die einen Gipfel bezwingen will. […] Lassen Sie uns Schritt für Schritt vorangehen – mit sicherem Fuss und im Vertrauen auf unsere Fähigkeiten.»(
1. August-Reden 2021 (admin.ch)). Dem ist nichts beizufügen. Parmelins Rückgrat, das er in Brüssel und danach bewiesen hat, steht ihm gut. Nicht nur am 1. August.  •

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