Von Vietnam nach Afghanistan: Die USA lassen Wüsten zurück und nennen es Frieden

Interview mit Prof. Dr. iur. et pol. Alfred de Zayas

Der ehemalige unabhängige UN-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung, Alfred de Zayas, hat sich mit dem russischen Sender Sputnik zusammengesetzt, um über die überstürzte Evakuierung aus Kabul, die Folgen der fast 20jährigen Besetzung Afghanistans und darüber zu sprechen, wie die internationale Gemeinschaft dem afghanischen Volk bei der Bewältigung einer humanitären Krise helfen kann. Zeit-Fragen hat das Interview durch zwei Fragen ergänzt.

Sputnik: Meinen Sie, dass der Rückzug der USA und der Sieg der Taliban wirklich ein Ende des 20jährigen Krieges bringen werden? Wie hoch sind die Chancen, dass Afghanistan jetzt in einen neuen gewaltsamen Bürgerkrieg hineingezogen wird?
Alfred de Zayas: Die Büchse der Pandora wurde geöffnet, als Präsident George W. Bush fälschlicherweise Afghanistan für den 11. September 2001 verantwortlich machte, obwohl die mutmasslichen Täter (wenn sie es tatsächlich waren) nicht Afghanen, sondern Saudiaraber unter Osama bin Laden waren. 20 Jahre der verheerenden Bombardierung Afghanistans, der Zerstörung der Infrastruktur, der Tötung Zehntausender von Zivilisten, der Verseuchung durch Waffen mit abgereichertem Uran, der Zerstörung von Ökosystemen und Infrastrukturen hinterlassen ein Erbe von Trauma und Hass.
  Die USA hätten gar nicht erst in Afghanistan einmarschieren dürfen, so wie wir auch nicht in Vietnam, Laos, Kambodscha, Grenada, Nicaragua, Libyen oder Syrien hätten einmarschieren dürfen. Die USA haben Afghanistan gründlich destabilisiert, und es ist nicht ausgeschlossen, dass der Konflikt nun in einen Bürgerkrieg ausartet – eine anhaltende Tragödie für das leidgeprüfte afghanische Volk.
  Kann es Frieden geben? Tacitus beschrieb eine ähnliche Situation, um zu verdeutlichen, wie römische Legionen überall eine Wüste hinterliessen – und sie dann Frieden nannten, solitudinem faciunt, pacem appellant [«Dort, wo sie eine Wüste schaffen, nennen sie es Frieden.»] (Agricola). Wir denken, dass wir unsere Hände in Unschuld waschen, und gehen, aber die Verbrechen können zurückkommen, um uns zu verfolgen.

Was sind die wichtigsten Folgen der 20jährigen Besetzung von Afghanistan durch die USA?
Der Anstieg des weltweiten Terrorismus war eine direkte Folge der US-Aggression in Afghanistan. Als US-Amerikaner, der im Ausland lebt, bin ich der Ansicht, dass meine persönliche Sicherheit beeinträchtigt wurde. Ich betrachte Ursache und Wirkung. Ich frage mich, warum die Menschen die Vereinigten Staaten hassen. Die Antwort liegt in Amerikas angeblicher «Mission», «Demokratie» nach amerikanischem Vorbild in alle Ecken der Welt zu exportieren. Nur dass wir, wenn wir «Demokratie» sagen, Kapitalismus meinen. Wir Amerikaner behaupten, dass wir allen Völkern der Welt Glück und Menschenrechte bringen wollen. Aber hat uns jemand gebeten, so selbstlos zu sein? Die USA und die Medienkonglomerate haben das Narrativ ausgeheckt, dass al-Kaida und die Taliban die «Bösen» sind und wie tollwütige Hunde gejagt werden müssen. Wir sind der Polizeichef der Welt, der die Gesetzlosigkeit ausrotten muss. Dabei begehen wir selbst schwere Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Vielleicht wird der Internationale Strafgerichtshof eine ehrliche Untersuchung der Verbrechen der USA und der Nato durchführen, aber das ist nur eine nachträgliche Gerechtigkeit. Jeder halbwegs intelligente Beobachter sucht nach den eigentlichen Ursachen der Probleme. Die Wurzel des Elends in Afghanistan liegt im britischen Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts und im US-amerikanischen Neokolonialismus des 21. Jahrhunderts.
  Die USA waren nie wirklich am «nation building» interessiert – nur an Geopolitik, wenn man bedenkt, dass Afghanistan an Iran und Pakistan grenzt. Die USA wollen die Region kontrollieren und wollen nur Klientelregierungen, keine unabhängigen Nationen.

Zeit-Fragen: Einige würden denken, dass Sie Sympathien für die Taliban und Islamisten haben.
Ich habe etliche Male die Verbrechen der Taliban angeprangert und verlangt, dass sie nicht straffrei davon kommen. Ich hoffe, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag seine Untersuchung über die Verbrechen der Taliban – aber auch der USA und der Nato – fortführt.
  Ich lehne alle terroristischen Aktionen der Taliban ab, genauso, wie ich den Staatsterrorismus des Pentagons verurteile. Man muss aber nicht alles pauschalieren und verallgemeinern. Gewiss sind nicht alle Taliban Terroristen. Als Amerikaner frage ich nach den Ursachen von Konflikten. Gewiss haben wir Amerikaner dazu beigetragen: Wir provozieren nicht nur die Islamisten – wir provozieren normale Menschen muslimischen Glaubens, wenn wir uns in ihre inneren Angelegenheiten einmischen. Wir provozieren die Palästinenser, wenn wir ihnen das Selbstbestimmungsrecht verweigern, wenn wir die Verbrechen Israels gegen die Palästinenser verteidigen. Wir provozieren die ganze Menschheit, wenn wir uns anmassen, wir hätten eine «Mission», die «Demokratie» zu exportieren. Werden wir Amerikaner einmal begreifen, dass Menschen verschiedener Kulturen ihre eigenen Vorstellungen haben, wie es in der Uno-Charta und Unesco-Verfassung anerkannt wird?

Was sind die Hauptgründe für Washingtons «Saigon-Moment» in Afghanistan sowie für das Versagen der US-Geheimdienste, die rasche Einnahme Kabuls durch die Taliban und den sofortigen Zusammenbruch der Regierung Ghani nicht vorherzusehen?
Die US-Geheimdienste haben immer wieder versagt, aber die Mainstream-Medien verbreiten ein anderes Narrativ und betäuben die amerikanische Öffentlichkeit, damit sie «fake news» und offensichtlich unzureichende Ausreden des Pentagons akzeptiert.
  Der dilettantische Rückzug der USA überrascht mich nicht im geringsten. Wir in den USA neigen dazu, unseren «Experten» bei der CIA, der Heritage Foundation und anderen elitären «Denkfabriken» zu glauben. Wie Julius Cäsar schon wusste: Wir glauben unserer eigenen Propaganda, neigen dazu, das zu glauben, was wir glauben wollen. Quae volumus, ea credimus libenter [«Denn was wir wollen, das glauben wir gern.»] (de Bello civile).
  Was mich erstaunt, ist nicht, dass wir Zeuge dieses Debakels werden – sondern dass wir nicht aus früheren Debakeln lernen. Natürlich war die Verwüstung Afghanistans eine Katastrophe für das afghanische Volk – aber ein Glücksfall für den amerikanischen militärisch-industriellen und finanziellen Komplex.
  Amerika braucht den permanenten Krieg, um die unersättliche Militärmaschinerie zu füttern, die Billionen-Dollar-Budgets erfordert. Es wäre besser, unsere Steuergelder für Konfliktprävention, Gesundheitsvorsorge, Bildung usw. zu verwenden.

Wie beurteilen Sie die aktuelle humanitäre Lage in Afghanistan? Welche Massnahmen sollte die internationale Gemeinschaft ergreifen, um weitere Krisen im Land zu verhindern und die freie Selbstbestimmung des afghanischen Volkes, den Aufbau eines demokratischen Staates und den Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten?
Ich habe grosses Mitgefühl mit den Leiden der afghanischen Bevölkerung. Sie braucht heute mehr denn je die internationale Solidarität, die Hilfe von UN-Organisationen wie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation, der Weltgesundheitsorganisation, des Hohen Kommissars für Menschenrechte, des Hohen Kommissars für Flüchtlinge, des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen und des Umweltprogramms der Vereinten Nationen.
  Das afghanische Volk leidet bereits unter einer «humanitären Krise» – aber bisher schien das nur wenige zu interessieren, denn die «Guten» – also die USA und die Nato – waren dort, um Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen. Jetzt, da die «Guten» hinausgeworfen worden sind, stellen wir fest, dass die radikalen Islamisten die Macht übernommen haben. Die Mainstream-Medien werden nun einen Strom von Berichten willfähriger Nichtregierungsorganisationen verbreiten, die die afghanischen Behörden wegen aller möglichen Verletzungen der bürgerlichen und politischen Rechte anprangern werden.
  Was das afghanische Volk jedoch heute braucht, sind grundlegende Dinge – das Recht auf Nahrung, Wasser, Unterkunft, Gesundheit und Arbeit. Das wird Milliarden Dollars kosten. Die Länder, die sich an der gnadenlosen Bombardierung Afghanistans beteiligt haben, sind rechtlich und moralisch verpflichtet, dem afghanischen Volk Wiedergutmachung zu leisten. Werden sie das tun? Wahrscheinlich nicht.

Glauben Sie, dass die USA, Grossbritannien und ihre Nato-Verbündeten Afghanistan endgültig verlassen haben, oder können wir erwarten, dass das Thema in Zukunft wiederauftaucht?
Geopolitisch gesehen wollen die USA und die Nato nicht nur den Nahen Osten, sondern auch den überwiegenden Teil Asiens, so auch Afghanistan, kontrollieren. Heute sind die USA, das Vereinigte Königreich und die Nato nicht mehr so wohlhabend und mächtig wie früher, und ihre Bürger haben andere Prioritäten als ihre «Eliten». Auch wenn der Kolonialismus und Neokolonialismus in Südostasien endgültig besiegt ist, werden alte Gewohnheiten nur schwer abgelegt. Und dennoch sind Frankreich, das 1954 in Dien Bien Phu besiegt wurde, und die USA nach 1975 nie nach Vietnam zurückgekehrt.
  Es wäre gut für die Welt und das afghanische Volk, wenn die USA, das Vereinigte Königreich und die Nato «erwachsen» werden und die Realitäten akzeptieren würden. Wie der spanische Dominikaner Francisco de Vitoria bereits 1530 an der Universität von Salamanca schrieb, hat jedes Volk das Recht, seine eigene Regierungsform zu wählen, auch wenn sie nicht die beste ist. Was die internationale Gemeinschaft dem afghanischen Volk schuldet, ist ein echtes Engagement für den Frieden und für das Recht aller Nationen und Völker auf Entwicklung. Der UN-Generalsekretär hat eine grosse Aufgabe vor sich – und António Guterres kann sie bewältigen, wenn die USA, Grossbritannien und die Nato ihn lassen.

Zeit-Fragen: Meinen Sie nicht, dass Ihre Haltung gegenüber der amerikanischen Aussenpolitik unpatriotisch klingt?
Keinesfalls. Patriot ist gerade derjenige, der dafür sorgen will, dass sich sein Land am Recht und an der Gerechtigkeit orientiert. Ein Patriot fördert den Rechtsstaat dadurch, dass er von seiner Regierung saubere Handlungen verlangt, und von seinen Politikern Rechenschaft.
  Charles de Gaulle definierte den Patriotismus folgendermassen: «Le patriotisme, c’est lorsque l’amour du peuple auquel vous appartenez passe en premier. Le nationalisme, c’est lorsque la haine des autres peuples l’emporte sur tout le reste.» [«Patriotismus ist, wenn die Liebe zum Volk, dem man angehört, an erster Stelle steht. Nationalismus ist, wenn der Hass auf andere Menschen alles andere überlagert.»] Ich bin damit voll einverstanden.
  Der Patriot liebt sein Land und seine Bürger. Der Nationalist hasst die anderen. Ich halte mich für einen Patrioten. Hier meine eigenen Gedanken dazu:
  Patriotismus bedeutet für verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge. Für mich bedeutet er die Solidarität der Bürger bei der Förderung der Gerechtigkeit im eigenen Land und den Widerstand gegen offizielle Lügen, Apologetik, Euphemismen, Verbrechen und Tyrannei. Patriotismus erfordert ein Engagement für die Wahrheit und die Bereitschaft, «fake news» und verzerrten politischen «Narrativen» entgegenzutreten. Auf internationaler Ebene bedeutet Patriotismus, Schaden vom eigenen Land abzuwenden, indem man sich aktiv um Dialog und Verständigung bemüht, um zu Frieden und Gerechtigkeit – pax et iustitia – beizutragen. Einige Jugendliche und junge Soldaten denken oft, dass Patriotismus auf die Formel «Right or wrong, my country!» [«Recht oder Unrecht, es ist mein Vaterland!»] reduziert werden kann, und riskieren damit unwissentlich, Kanonenfutter zu werden, Opfer von Kriegstreibern und Kriegsprofiteuren, die ihre eigene Haut nicht riskieren und andere für ihren Profit sterben lassen. Patriotismus kann und muss nicht zwangsläufig heissen: «Recht oder Unrecht, es ist mein Vaterland!», eine Formel, die man nur als unverantwortliche Ausrede bezeichnen kann, die Regierungen nur dazu einlädt, unser Vertrauen zu missbrauchen, Steuergelder für ausländische Interventionen zu verschwenden, unsere Privatsphäre durch illegale Überwachung zu verletzen und eine Vielzahl geopolitischer Verbrechen zu begehen. Ein wahrer Patriot sagt «nicht in meinem Namen» und verlangt von der Regierung Rechenschaft, damit unsere Länder tatsächlich auf dem Weg zu Frieden und Gerechtigkeit sind.

  Horaz’ edel klingender Spruch «dulce et decorum est pro patria mori» [«Süss und ehrenvoll ist’s, für’s Vaterland zu sterben.»] muss in konstruktive Begriffe umgedeutet werden: Es ist süss, für sein Land zu leben! Das ist es, was Cicero mit caritas patriae meinte. Wer kann ein Patriot sein? Für mich ist das jeder Bürger, der die Demokratie ernstnimmt und von den Behörden Transparenz und Rechenschaftspflicht verlangt. Zu den Patrioten des 21. Jahrhunderts zähle ich die Whistleblower, die kriminelle Aktivitäten der Regierung und der Privatwirtschaft aufdecken. Sie sind Wächter der sozialen Ordnung. Sicherlich ist Edward Snowden ein Patriot, da er auf Grund seines Gewissens Leben und Karriere riskiert hat. Mehr dazu erfahren wir in seinem fesselnden Buch «Permanent Record». Wir alle schulden ihm Dankbarkeit. Wer hingegen ist kein Patriot? Jeder Opportunist, der seine Karriere auf Kosten des Gemeinwohls vorantreibt, jeder, der die öffentliche Meinung durch Sensationslust, beweislose Behauptungen und Säbelrasseln manipuliert und am Ende das Land und seine jungen Soldaten in verbrecherische Kriege verwickelt. Die Sicherheit eines jeden Amerikaners ist durch genau diese Falken, die von den Medien manchmal als «Patrioten» gefeiert werden, ernsthaft gefährdet worden. •



Erstveröffentlichung des Sputnik-Teils: https://sputniknews.com/analysis/202108171083636590-from-vietnam-to-afghanistan-us-leaves-deserts-behind-and-calls-it-peace-ex-un-expert-says/ vom 17.8.2021

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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