Totale Digitalisierung – Zusammenbruch nur eine Frage der Zeit

von Gotthard Frick, Bottmingen

Immer mehr ist unser Leben in allen Bereichen von elektronischen und elektrisch betriebenen Systemen durchdrungen. Ein flächendeckender oder zumindest wesentliche Bereiche betreffender Zusammenbruch dieser vollständig digitalisierten Systeme ist nicht auszuschliessen. Was würde das bedeuten? Wären wir darauf vorbereitet bzw. in der Lage, damit umzugehen?

Ein grosser Teil der Menschen in der Welt werden in ihrer Arbeit und im Privatleben immer abhängiger von Computern, Festnetz- und Mobiltelefonen, Radio, Fernsehen und ihren zusammenlaufenden und sich überkreuzenden Weiterentwicklungen. Das gleiche gilt weltweit für den Verkehr, die Energieversorgung, die Wirtschaft, die staatliche Verwaltung und die Armeen. Die Lagerhaltungs-, Produktions-, Kontroll-, Abrechnungs-, Steuerungs- und Überwachungsarbeiten in allen Bereichen bedienen sich immer perfekterer und schnellerer Systeme, die zu immer grösseren Netzwerken zusammengeschlossen werden. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Teilsysteme kommunizieren unter sich in diesem Netz. Dieses globale Nervensystem wird durch Strom betrieben, dessen Produktion und Verteilung ebenfalls elektronisch gesteuert und überwacht wird.
  Dadurch wurden und werden Tätigkeiten, Abläufe und Verbindungen enorm erleichtert, beschleunigt und unendlich viel effizienter gemacht, und der Zugang zu vielen und vielem ist grenzenlos geworden. Im gleichen Moment, in dem die Menge und der Preis der im Supermarkt gekauften Zwetschgen und Eier an der Kasse im Scanner abgelesen werden, sind sie auch schon aus dem dort vorhandenen Lager abgebucht, aber auch das zentrale Lager des Konzerns ist sofort informiert und weiss, was es nachbestellen muss, das Buchhaltungssystem hat den eingegangenen Betrag schon erfasst, und die Konzernspitze, falls gerade in den Ferien auf Bali, kann über das Mobiltelefon rasch in den eigenen Computer zu Hause in der Schweiz und sich über den Zwetschgen- und Eierumsatz informieren.
  Diese Entwicklung ist immer noch in vollem Gang und wird vorerst zu weiterer Effizienzsteigerung und Vernetzung, aber auch zu immer grösserer Abhängigkeit und Verletzlichkeit führen.
  Erstaunlicherweise scheinen sich noch nicht viele Menschen die Frage zu stellen, was es bedeuten würde, wenn dieses System für kürzere oder längere Zeit zusammenbrechen sollte. Sie scheinen als gegeben anzunehmen, dass es reibungslos weiterfunktionieren wird. Erst in jüngerer Zeit haben verschiedene Armeen und Regierungen begonnen, sich aus militärischen Gründen mit dessen Verletzlichkeit zu befassen.
  Diese Verletzlichkeit wird laufend grösser. Erstens wegen der immer weitergehenden Vernetzung. Auch wenn versucht wird, durch Abschottung, Schaffung mehrerer voneinander unabhängiger Ersatzsysteme und Speicher, durch die Bereitstellung von Notstromgeneratoren und anderem mehr, den Folgen eines Ausfalls vorzubeugen, bleibt das Funktionieren dieser vermeintlich autonomen Teile über einen kurzen Zeitraum hinaus vom Funktionieren des Gesamtsystems abhängig.
  Zweitens steigt die Komplexität sowohl der Programme wie auch der Gesamtsysteme immer weiter. Der Mensch scheint an die Grenze dessen zu kommen, was er noch überblicken und kontrollieren kann, weil er die Komplexität der Abläufe nicht mehr schnell genug zu übersehen vermag. Deshalb werden zur Bewältigung von Menschen nicht mehr überschau- und beherrschbarer Vorgänge Rechnersysteme zur Kontrolle und Führung eingesetzt. So werden zum Beispiel an den Börsen grosse Teile der Kauf- und Verkaufsaufträge von IT-Systemen entschieden und ausgelöst. Oder Rechner blockieren auf Grund ihrer Analysen selbständig den Server eines grossen Internetdienstleisters für die Dauer eines Tages, wenn dort etwa über die Verleihung des Nobelpreises an einen von der Regierung ins Gefängnis gesteckten missliebigen Oppositionellen berichtet wird. Oder sie verhindern auf Grund eines «sensitiven» Stichwortes im Text eines einzelnen Benutzers völlig selbständig den Versand seiner entsprechenden E-Mail.
  Drittens steigt die Verletzlichkeit auch einfach infolge der immer grösseren Zahl von Benutzern – oft viele hundert Millionen –, die einem einzigen Dienst angeschlossen sind. Viertens nimmt auch das Datenvolumen immer rascher gigantische Ausmasse an.
  Fünftens zielen auch von Gruppen, Regierungen und Armeen bewusst ausgelöste Angriffe auf die Stilllegung oder Fehlsteuerung von Netzwerken oder wenigstens grösserer Teile davon.
  Und schliesslich, auch das wird von vielen übersehen, hat jedes von Menschen geschaffene System – trotz des weit verbreiteten Machbarkeitswahns – gelegentlich Pannen, auch solche, die durch natürliche Ereignisse wie Sonnenaktivitäten oder grössere Naturkatastrophen wie Erdbeben ausgelöst werden können.
  Eine grössere Panne an einer zentralen Stelle, vielleicht noch kombiniert mit einem gezielten Angriff an zwei, drei anderen Orten, würde sich durch das Netz wie die Wellen eines grossen Tsunami um den Erdball oder mindestens in grösseren Regionen herum ausbreiten und ein Teilnetz nach dem anderen lahmlegen.
  Es ist angesichts dieser Entwicklungen nicht unwahrscheinlich, dass es im Laufe der näheren oder weiteren Zukunft zu einem globalen oder grossflächigen Zusammenbruch von kürzerer, aber möglicherweise auch längerer Dauer kommen wird. Das könnte zu einer Katastrophe ohnegleichen führen, die selbst den Zweiten Weltkrieg in den Schatten stellen würde, denn dann wird nichts mehr laufen: Es gibt dann schlagartig im betroffenen Gebiet für kürzere oder längere Zeit keinen Strom, keine Telefonverbindungen, kein Radio und Fernsehen, keine Zeitungen, keine Produktion, keine Verteilung von Gütern einschliesslich Lebensmitteln, keine staatliche Verwaltung mehr. Keine Eisen- oder Strassenbahn, kein Frachtschiff, kein Auto fährt mehr. Kein Flugzeug fliegt mehr, bis das Problem behoben ist. Und das könnte sehr viel Zeit brauchen, weil eben alles, was zur Identifikation des Problems und zu dessen Behebung benötigt würde – beispielsweise Kommunikations- und Befehlswege, Menschen und Material – nicht mehr erreichbar und nicht mehr verfügbar wäre.
  In den Lagerhäusern verfaulten Lebensmittel, Kühe könnten nicht mehr gemolken, die Spitäler nicht mehr betrieben werden. Die Tankstellen könnten kein Benzin mehr in die Autos pumpen, und wenn sie leer sind, kommt kein Nachschub mehr – und auch die Wasserversorgung funktionierte nicht mehr. Die öffentliche Verwaltung würde zusammenbrechen. Wir wären zurück in der Steinzeit.
  Im Gegensatz zur Zeit vor 100 Jahren, als jeder Haushalt und fast jeder Betrieb über ein gewisses Mass an Vorräten verfügte, um eine gewisse Zeit autark zu überbrücken, leben wir heute «just in time». Hatte man einst Kartoffeln, Gemüse, selbst Eingemachtes und Vorräte für viele Monate im Keller lagern, leben wir modernen Menschen nach der Devise, dass alles jederzeit sofort verfügbar zu sein hat. Freunde kommen zum Nachtessen? Schnell noch im Supermarkt das benötigte Fleisch, ein paar Kartoffeln und Salat und eine neue Flasche Öl holen. Schutzmasken für die Pandemie? Man sollte sie schnell in China bestellen …
  Wie viele Menschen verfügten dann noch über die erforderlichen Fähigkeiten, und wie viele dann benötigte Gegenstände gäbe es noch, um notdürftig eine minimale Organisation aufzubauen, die unser Leben sicherte, bis alles wieder «normal» funktioniert? Wie viele Menschen wissen noch, wie sie das Leben unter primitiveren Bedingungen einrichten können? Am besten dran wären dann die Menschen in Dörfern im afrikanischen Busch und in den Slums der Welt, die sich schon heute ohne Strom und Elektronik durchschlagen müssen.
  Eine Regierung, die strategisch denkt – gibt es das heute noch bei uns? Auch grosse Unternehmen müssten sich wohl darüber Gedanken machen, wie sie einem solchen Problem begegnen würden.
  Sind das wilde Phantasien eines alten Mannes, der die moderne Zeit nicht mehr versteht, oder könnte ein solches Szenario Wirklichkeit werden? Die Frage wird sich gelegentlich selbst beantworten.  •

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