Afghanistan 2021: Friedhof der Weltmächte – Testfall für globale Gerechtigkeit

Stellungnahme* des Präsidenten der International Progress Organization (I.P.O.), Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Köchler

Am 31. August 2021 erklärte der Präsident der Vereinigten Staaten, dass der Abzug aller US-Truppen aus Afghanistan «das Ende einer Ära umfangreicher militärischer Operationen» bedeute, die auf den Umbau des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Systems anderer Länder abzielten. Er räumte damit ein, dass «nation building» kein «erreichbares Ziel» sei, und betonte, dass die Vereinigten Staaten «diese Mentalität hinter sich lassen» und «aus unseren Fehlern lernen» sollten (Rede von Präsident Biden zum Ende des Krieges in Afghanistan, Weisses Haus, State Dining Room, 31. August 2021).

Nach 20 Jahren Krieg: Zusammenbruch einer künstlichen politischen Struktur

Nach 20 Jahren militärischer Präsenz hat der Abzug aller ausländischen Truppen augenblicklich zum Zusammenbruch der künstlichen politischen Struktur geführt, die von der Besatzungsmacht aufrechterhalten worden war. Dadurch war es dem einheimischen Widerstand – dem Islamischen Emirat Afghanistan (Taliban) – möglich, innerhalb weniger Tage die Regierungsgewalt auf dem gesamten Gebiet Afghanistans wiederherzustellen. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass der Rückzug der USA in Umsetzung eines «Abkommens, um Frieden nach Afghanistan zu bringen» [Agreement for Bringing Peace to Afghanistan] erfolgte, das am 29. Februar 2020 in Doha, Katar, zwischen dem Islamischen Emirat Afghanistan und den Vereinigten Staaten von Amerika geschlossen wurde. (So bizarr die diplomatische Spitzfindigkeit auch sein mag, die offizielle Bezeichnung der afghanischen Partei im Text des Abkommens – als «das Islamische Emirat Afghanistan, das von den Vereinigten Staaten nicht als Staat anerkannt wird und als Taliban bekannt ist» – kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vereinigten Staaten durch den Abschluss dieses bilateralen Abkommens das Islamische Emirat, unter welcher Bezeichnung auch immer, de facto als internationalen Verhandlungspartner anerkannt haben.)

Die Opfer des Krieges …

Mit der «Operation Enduring Freedom», die am 7. Oktober 2001 mit einem umfassenden Luftangriff begann, hatte der «längste Krieg in der amerikanischen Geschichte» (Präsident Joseph Biden) seinen Anfang genommen. Die bewaffnete Intervention wurde als «globaler Krieg gegen den Terror» – mit höchst zweifelhafter UNO-Legitimation – etikettiert. Der Krieg forderte auf afghanischer Seite den Tod von mehr als 47 000 Zivilisten, fast 70 000 Soldaten und Polizisten und mehr als 51 000 Taliban-Kämpfern. Auf der Seite der Vereinigten Staaten starben 2448 Soldaten und mehr als 3800 Angehörige privater Sicherheits- und Militärunternehmen.

… und die Verbrechen der Interventionsmächte

Im Laufe der sich über zwei Jahrzehnte erstreckenden Militäroperationen haben Angehörige der intervenierenden Truppen, darunter Soldaten der USA, Grossbritanniens und Australiens, schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Die Vorfälle und Tatsachen wurden von internationalen Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen unabhängig recherchiert und aufgedeckt und werden nun vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) untersucht. Ein im Auftrag des Generalinspekteurs der australischen Streitkräfte erstellter Bericht («Brereton Report»), der allerdings nur in einer zensurierten Fassung veröffentlicht werden durfte, dokumentiert grausame Verbrechen von australischen Soldaten im Zeitraum zwischen 2005 und 2016. Er legt insbesondere eine Art verbrecherischen Initiationsritus unter australischen Soldaten bloss, eine Praxis, die im Militär als «blooding» bekannt ist und bei der jüngere Soldaten von ihren Vorgesetzten oftmals ermuntert werden, Gefangene zu ermorden – «to get their first kill». Es gibt zahlreiche detaillierte Berichte über andere schwere Verstösse gegen das Humanitäre Völkerrecht, wie etwa die Tötung von 47 afghanischen Zivilisten, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, die am 6. Juli 2008 an einer Hochzeitsprozession im Bezirk Haska Meyna in der Provinz Nangarhar teilnahmen, durch US-Truppen. Die Hochzeitsversammlung wurde nacheinander von drei Bomben aus US-Militärflugzeugen getroffen. Der jüngste verheerende Angriff der US-Streitkräfte auf Zivilisten ereignete sich am 29. August 2021, als eine Drohne in Kabul zehn unschuldige Menschen tötete. Die vielen Fälle von wahllosen Angriffen auf Zivilisten im Zuge von Drohneneinsätzen sind ein weiterer Beweis für eine neue Art der asymmetrischen Kriegsführung, bei der überlegene Technologie es dem Angreifer – ohne das geringste Risiko für ihn selbst – ermöglicht, wehrlose Opfer, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, zu töten.

Die Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofes

Es wird Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofes sein, Fälle von Kriegsverbrechen (insbesondere Ermordung von Gefangenen und Zivilisten) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen und gegebenenfalls zu verfolgen, die seit dem 1. Mai 2003, dem Datum des Inkrafttretens des Beitritts Afghanistans zum Römischen Statut, im afghanischen Hoheitsgebiet begangen wurden. Bereits im Jahr 2018 hatte der Internationale Strafgerichtshof insgesamt 699 Eingaben von Opfern formell registriert, in denen von allen Kriegsparteien in Afghanistan begangene Greueltaten dokumentiert wurden, ganz zu schweigen von den 1,7 Millionen Einzelberichten über Kriegsverbrechen, die bis Januar dieses Jahres beim Gerichtshof eingelangt waren (Associated Press, «International Court says it’s ‹undeterred› by US threats» [Internationaler Gerichtshof zeigt sich von US-Drohungen unbeeindruckt], 11. September 2018). Anfangs sah sich der Gerichtshof ernsthaften Hindernissen bei der Ausübung seiner Zuständigkeit gegenüber, da der Präsident der Vereinigten Staaten am 11. Juni 2020 die Executive Order [Durchführungsverordnung] 13928 erliess, in der er «Beamten, Angestellten und Beauftragten [des Gerichtshofes] sowie deren unmittelbaren Familienangehörigen» mit Sanktionen drohte, sollte der IStGH die Gerichtsbarkeit über Personal der Vereinigten Staaten geltend machen («The International Criminal Court in the Web of Power Politics.» I.P.O. Pressemitteilung, 26. Juni 2020). Auch wenn Präsident Biden, der zwar weiterhin die Zuständigkeit des Gerichtshofes ablehnt, die Anordnung am 2. April 2021 widerrufen hat, macht dieser Vorfall die aussergewöhnlichen Schwierigkeiten für die internationale Strafgerichtsbarkeit im Umfeld globaler Macht-politik deutlich.

Ein Klima der Gesetz- und Straflosigkeit

Wenn nach dem Abzug aller Koalitionstruppen aus Afghanistan ein Neuanfang gelingen soll, müssen die Fehler und Verbrechen der Vergangenheit aufgearbeitet werden. Dies betrifft in erster Linie das Klima der Gesetz- und Straflosigkeit, in dem die Besatzungstruppen agierten. Eine leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin von Human Rights Watch sprach von einer «kranken Kultur», die sich darin zeige, dass «die in […] umkämpften Gebieten lebenden Afghanen im wesentlichen so behandelt werden, als seien sie alle – sogar die Kinder – gefährliche Kriminelle oder einfach keine Menschen». (Associated Press, 20. November 2020)

Das Scheitern des «nation building»

Das gescheiterte Unternehmen in Afghanistan – nach ähnlichen Fehlschlägen des britischen und des sowjetischen Imperiums in früheren Jahrhunderten – ist ein weiterer Beweis dafür, dass Grossmächte niemals Lehren aus der Geschichte ziehen. Die durch den Erfolg im Kalten Krieg genährte Hybris der Macht verleitete die Vereinigten Staaten dazu, ein Projekt des Regimewechsels zu verfolgen, das von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Die Arroganz und Naivität einer Doktrin des «nation building», die die Geschichte und die kulturellen Wurzeln eines Volkes ignoriert, hätten schon nach dem Zusammenbruch des ideologischen Experiments der Sowjetunion in Afghanistan als solche erkannt werden können. Die Schwierigkeiten einer «Befriedung» unter den besonderen geografischen und ethnischen Gegebenheiten Afghanistans sollten seit Alexanders gnadenlosem Feldzug im antiken Baktrien und Sogdien (in Teilen des heutigen Afghanistans) im 4. Jahrhundert v. Chr. eigentlich Allgemeinwissen sein.

Geld, das Afghanistan gehört

Nach 40 Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen – davon 20 Jahre eines im Namen der «Zivilisation» geführten High-Tech-Krieges im 21. Jahrhundert – scheint Afghanistan nun zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Das von den Invasionsmächten errichtete System hat sich als das korrupteste in der jüngeren Geschichte des Landes erwiesen und jeden Willen zur Selbstverteidigung vermissen lassen. Die neue politische und konstitutionelle Struktur, die sich allmählich herausbildet, darf nicht von denjenigen sabotiert werden, die zu Unrecht und erfolglos versucht haben, die politischen Verhältnisse mit militärischer Gewalt zu verändern. Die Blockierung der Auslandsreserven der afghanischen Zentralbank (Da Afghanistan Bank, DAB) – 10 Milliarden Dollar an Guthaben, die in den USA und beim Internationalen Währungsfonds und anderen Finanzinstitutionen im Ausland gehalten werden – stellt einen klaren Verstoss gegen das Völkerrecht dar und ist in Wirklichkeit die Erpressungspolitik eines schlechten Verlierers. Es handelt sich um Gelder des afghanischen Staates, nicht der Taliban oder anderer Akteure. Die Blockade der Mittel wird die humanitäre Krise im Lande nur weiter verschärfen.

Konstruktiv mit der neuen afghanischen Regierung umgehen

Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Vereinten Nationen, sollte konstruktiv mit der neuen Regierung, dem Islamischen Emirat Afghanistan, zusammenarbeiten. Es ist müssig und kontraproduktiv, auf der Anerkennung von Diplomaten einer nichtexistierenden Regierung – deren Präsident und höchste Funktionäre unter Mitnahme riesiger Summen aus der Staatskasse aus dem Land geflohen sind – als Vertreter Afghanistans zu bestehen.

Für ein Ende der wirtschaftlichen Zwangsmassnahmen

Wenn sich die Staatengemeinschaft tatsächlich der Sache der globalen Gerechtigkeit verpflichtet sieht, sollten die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen alle wirtschaftlichen Zwangsmassnahmen, die das Erbe einer Ära der Konfrontation sind und die Menschen in Afghanistan nur kollektiv bestrafen, aufheben. Am 17. September hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Mandat der UNO-Unterstützungsmission in Afghanistan (UNAMA) einstimmig verlängert. Es ist an der Zeit, dass der Rat auch seine speziellen Sanktionen mit Bezug auf Afghanistan im Lichte der jüngsten Entwicklungen überprüft. Auf Grund des Vetos im Sicherheitsrat besteht leider die Gefahr, dass der Rat zur Geisel seiner früheren Resolutionen wird.

Rückkehr zu einer internationalen Rechtsordnung

Da der Verlauf der innenpolitischen Entwicklung und die Aussichten auf Versöhnung und politische Stabilisierung nach wie vor ungewiss sind, sollte nichts unternommen werden, was die Situation weiter verschärft. Die Staatengemeinschaft muss ihre internationale Verantwortung gemäss der Charta der Vereinten Nationen ernst nehmen und mit Afghanistan auf der Grundlage souveräner Gleichheit und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten zusammenarbeiten. Die Länder, die militärisch interveniert haben, sollten ihrer Verantwortung gemäss dem Humanitären Völkerrecht nachkommen. Diejenigen, die auf dem Territorium Afghanistans Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Straffreiheit für internationale Verbrechen gefährdet nicht nur den Frieden und die Stabilität im Land und in der gesamten Region, sondern untergräbt auch die internationale Rechtsstaatlichkeit, auf der die Weltordnung im 21. Jahrhundert aufgebaut ist und sein muss. Die Herausforderung, vor der der Internationale Strafgerichtshof steht – einschliesslich der Untersuchung und möglichen strafrechtlichen Verfolgung, gemäss seiner territorialen Zuständigkeit, von Personal und Funktionsträgern einer Supermacht, die nicht dem Gericht angehört –, ist gross, und der Ausgang ist ungewiss.

Wieder einmal wurde ein Imperium in die Knie gezwungen

Unabhängig davon, ob der Sache des Rechts, was staatliche bzw. persönliche strafrechtliche Verantwortung auf dem Gebiet von Afghanistan betrifft, letztendlich Genüge getan wird, kann nichts einen Lauf der Geschichte ändern, der mehr als einmal ein Imperium in die Knie gezwungen hat – gerade dann, wenn es sich anschickte, die Welt mit Gewalt zu befrieden und nach seinem Bild zu formen. •


Quelle: https://i-p-o.org/Koechler-Afghanistan2021-IPO-nr-22-09-21.pdf

* Übersetzung aus dem Englischen. Die Zwischentitel hat die Redaktion Zeit-Fragen gesetzt.

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