von Diana Köhnen
Johanna Spyri hat neben dem Kinderbuchklassiker «Heidi», der sie weltberühmt machte und der mehrfach verfilmt wurde (zuletzt mit Bruno Ganz als Almöhi, 2015), sehr viele Erzählungen geschrieben. Leider sind viele von ihnen vergriffen. Zwei wurden nachgedruckt, die ich dem Leser vorstellen möchte: «Heimatlos» und «Wie Wiselis Weg gefunden wird». Immer wieder betonte Johanna Spyri, dass sie «Geschichten für Kinder» schreibe, fügte aber stets hinzu «wie auch für solche, welche Kinder lieb haben» (Thürer, S. 50).
«Heimatlos» schildert die Geschichte des italienischen Buben Rico, der in Sils-Maria im Engadin aufwächst. Sein Vater ist im Eisenbahnbau tätig und verbringt oft viele Wochen ausser Haus. Er ist auch am Strassenbau zwischen Sils und dem Malojapass und am Häuserbau in St. Moritz beteiligt, zuletzt findet er Arbeit im St. Gallischen.
Ricos Vater ist ein grosser, gut aussehender Mann, und Rico ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Ricos Mutter und seine Geschwister sind früh gestorben, so dass Rico allein mit dem Vater und einer im Hause lebenden Base aufwächst. Der Junge unternimmt mit seinem Vater häufig Spaziergänge, die ihn durch das wunderschöne Tal bis zum Maloja hinauf führen. Der Vater singt viele Lieder und Melodien, die dem Buben mit der Zeit vertraut werden. Eine von ihnen ist «Uno sera – in Peschiera», die der Knabe immer nachsingt.
Eines Tages kehrt der Vater verletzt und krank von der Arbeit zurück, beim Steinsprengen hat er eine tiefe Wunde am Kopf bekommen. Sie heilt nicht wie erwartet und der Vater stirbt schliesslich daran. Nun beginnt eine traurige Zeit für Rico, die nur aufgehellt wird durch Stineli, das Nachbarskind. Sie und ihre Grossmutter sind Rico zugetan, während die Base kein freundliches Wort für ihn findet. Dem Stineli erzählt Rico sehnsuchtsvoll von einem See, der sich hinter dem Maloja einige Tagesreisen entfernt befindet, er weiss aber nicht den Namen. Dieser ist mit seiner Herkunft verknüpft. Stineli ist überzeugt, dass er wohl herausfinden könne, wie der See heisse – und irgendwann erfährt er den Namen, es ist der Gardasee.
Auch der Werdegang Stinelis wird in der Erzählung geschildert; sie ist das älteste Mädchen in einem Haushalt mit vier Kindern und muss neben der Mutter die viele Arbeit im Haushalt und mit den Geissen übernehmen. Doch die Grossmutter, die von der Freundschaft mit Rico weiss, verschafft ihr immer wieder freie Tage, die sie dann mit Rico in der Natur am Silsersee verbringt. Im Zusammenhang mit Rico ist auch der Lehrer wichtig, der in der Schule die Lieder, die die Kinder singen, auf seiner Geige begleitet. So singen sie zum Beispiel:
Ihr Schäflein hinunter
Von sonniger Höh’ –
Der Tag ging schon unter,
Für heute ade!
Und ein See ist wie ein andrer
Von Wasser gemacht
Und tät’ er nichts denken,
so tät’ ihm nichts weh.
Und die Schäflein und die Schäflein …
Als Rico ihm dieses Lied auf der Geige vorspielt, ist der Lehrer verwundert; er stellt jedoch fest, dass dies kein Zauber ist, sondern dass Rico ihm dieses Lied von den Fingern abgelesen hat. Eines Tages wird der Lehrer krank und stirbt in der Folge. Zuvor vermacht er Rico seine Geige. Als die Grossmutter sie ihm überbringt, kann sich Rico vor Freude nicht fassen und spielt fortan alle Lieder auf der Geige, und Stineli und er singen diese Lieder zusammen.
Wieder einmal schmäht die Base Rico mit harten Worten; da entschliesst er sich, das Haus zu verlassen und nicht mehr zurückzukehren. Er macht sich auf den Weg nach Peschiera am Gardasee. Auf dem Weg lernt er einen Kutscher kennen, der ihn mitnimmt, und schliesslich auch einen Schafhändler, der ihn treu begleitet.
«Ja, da unten war die alte Strasse, oh, die kannte er so gut, und dort schimmerten die grossen, roten Blumen aus den grünen Blättern. Da musste auch eine schmale steinerne Brücke sein, dort über den Ausfluss vom See, dort war er so oft darübergegangen und jemand hielt ihn an der Hand – die Mutter! Mit einem Male kam das Gesicht der Mutter klar vor seine Augen, wie er es nie gesehen hatte, viele Jahre. Da hatte sie neben ihm gestanden und ihn mit liebevollen Augen angeschaut, und es überkam den Rico wie noch nie in seinem Leben. Neben der kleinen Brücke warf er sich auf den Boden und weinte und schluchzte laut: ‹Oh, Mutter, wo bist du? Wo bin ich daheim, Mutter?› So lag er lange Zeit und musste sein grosses Leid ausweinen, und es war, als wollte sein Herz zerspringen und als sei es der Ausbruch von allem Weh, das ihn bisher stumm und starr gemacht, wo es ihn getroffen hatte.»
Ricos Geigenspiel und seine wohlklingende Stimme verhelfen ihm dazu, auch mit den Menschen in Peschiera in Kontakt zu kommen. Er lernt viele Dorfbewohner kennen, und sie tragen dazu bei, dass er sich allmählich zu Hause fühlt. Ob er Stineli wiedersehen wird und was er in Peschiera erlebt, wird der Leser erfahren, wenn er sich mit Johanna Spyri auf die Reise ins Oberengadin und an den Gardasee begibt, allzu viel will ich jedenfalls nicht verraten.
Die zweite Erzählung, «Wie Wiselis Weg gefunden wird», spielt in einem Dörflein im Bernbiet. Das Mädchen Aloise, auch Wiseli genannt, steht im Zentrum dieser Geschichte. Es ist nett anzusehen, singt gerne zum Klavierspiel, und es ist sehr schüchtern. So traut es sich nicht, die anderen Kinder zu fragen, ob sie ihm einmal ihren Schlitten ausleihen, wenn sie in voller Fahrt im Winter die Halde hinuntersausen. Otto, der Sohn des Oberst, wird zu ihrem Beschützer, leiht ihr seinen Schlitten aus und wird zu ihrem Verteidiger gegen den Chäppi, seinen Klassengenossen, der dem Wiseli übel will. Auch seine jüngere Schwester Miezi hütet er wie seinen Augapfel. Als die Kinder die Geschichte erzählen, unterstützt der Vater Otto in seinem Anliegen:
«So ist’s recht Otto», sagte der Papa. «Du musst deinem Namen Ehre machen, für die Wehrlosen und Verfolgten musst du immer ein Ritter sein.»
In der Rückblende und in den Dialogen wird auch die Geschichte von Wiselis Mutter erzählt, die lustig und aufgeweckt war, allerlei Streiche und nie ihre Schulaufgaben machte. Der stille Andres, ihr Klassenkamerad, schloss damals Freundschaft mit ihr und bezeichnete sich als Urheber der Streiche, er nahm die Schuld auf sich, um das Mädchen zu entlasten. Doch zum Erstaunen aller heiratete das Mädchen einen Fabrikarbeiter, der im Dorf wohnte, und nicht den Andres, worüber dieser sehr traurig war. Jener war sehr grob zu ihr und den Kindern, deren fünf wegstarben, nur das Wiseli blieb am Leben. Ein halbes Jahr nach einem Unfall in der Fabrik starb Wiselis Vater, und die Mutter blieb allein. Doch Wiselis Mutter stirbt auch, jedoch nicht ohne Wiseli Folgendes auf den Weg mitzugeben: «Denk daran, Wiseli! Und wenn du einmal keinen Weg mehr vor dir siehst und es dir ganz schwer wird, dann denk in deinem Herzen»:
Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt,
Der allertreuesten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da dein Fuss gehen kann.
Wiseli kommt nun zu dem hartherzigen Vetter-Götti und der Base, die ihm hierin in nichts nachsteht, und zu den drei Buben, darunter dem gewalttätigen Chäppi. Wiseli wird hart angefasst, zur Arbeit angetrieben und kann deswegen zeitweilig nicht zur Schule, an den einzigen Ort, an dem sie auflebt. Auf dem Schulweg kommt sie am Haus des Schreiners Andres vorbei, der immer freundliche Worte für sie findet und dessen schönen Garten sie bestaunt. Wiseli fehlt aber so häufig in der Schule, dass es dem Lehrer auffällt und er deshalb bei den Pflegeeltern vorstellig wird. Weil sie von ihrem Klassenkameraden Otto gut behandelt wird, übernimmt sie seine Aufräum-arbeiten in der Schule, die dieser ungern macht. Auch kommt sie häufiger mit Andres ins Gespräch, dem sie schliesslich etwas von der Mutter ausrichtet:
«Ja, noch zu allerletzt, als die Mutter sonst nichts mehr mochte, hat sie von dem schönen Saft getrunken, den Ihr in die Küche gestellt hattet, und er hat ihr so gut getan. Dann hatte sie mir aufgetragen, ich soll Euch sagen, sie danke Euch vielmal dafür und auch noch für alles Gute, und sie sagte noch: ‹Er hat es gut mit mir gemeint›. Jetzt sah Wiseli, wie dem Schreiner Andres grosse Tränen über die Wangen hinunterliefen. Er wollte etwas sagen, aber es kam nichts heraus. Dann drückte er dem Wiseli stark die Hand, drehte sich um und ging ins Haus hinein.» Wiseli findet schliesslich Fürsprecher im Dorf, die ihr wohlgesinnt sind. Wie die Geschichte für sie ausgeht, sei hier noch nicht gesagt.
Kindern und Erwachsenen sei das Buch wärmstens empfohlen. Es zeigt, wie ein Mensch trotz schwieriger Kindheit Mut fassen und sein Leben sinnvoll gestalten kann. Auch wird das Schicksal von Kindern in der Schweiz des späten 19. Jahrhunderts anrührend geschildert, und die negativen Folgen der Industrialisierung kommen zur Sprache. Es bleibt zu wünschen, dass noch viele weitere Erzählungen von Johanna Spyri nachgedruckt werden. •
Johanna Spyri wurde am 12. Juni 1827 in Hirzel im Kanton Zürich geboren. Sie war das vierte von sechs Kindern des Landarztes Johann Jakob Heusser und der Dichterin Meta Heusser-Schweizer. Ihr Vater war Arzt mit Leib und Seele, operierte auch und betreute Gemütskranke in seinem Hause. Ihre dichterische Begabung verdankte Johanna wohl ihrer Mutter. Diese schrieb geistliche Choräle, unter anderem den Choral «O Jesu Christ, mein Leben», der in den reformierten Kirchen der Schweiz noch heute gesungen wird (Thürer, S. 14f.). Nach der Dorfschule wurde Johanna zunächst von Pfarrer Salomon Tobler unterrichtet, der über eine schöne Bibliothek verfügte. Hier setzte sie sich mit den Werken Homers und Goethes auseinander. Der Untertitel ihres bekanntesten Romans, «Heidis Lehr- und Wanderjahre», erinnert an Goethes Bildungsroman «Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre». Sie lernte dort auch die Balladen Friedrich Schillers und Ludwig Uhlands kennen, und die Kinder führten zuhause klassische Stücke auf. Später besuchte Johanna die höhere Töchterschule in Zürich und lernte dann in Yverdon im Waadtland ein Jahr Französisch. In ihrer Jugend begleitete sie ihren älteren Bruder auch auf eine Reise ins Engadin. Er heiratete die Bündnerin Regina von Flugi, wodurch Johanna auch mit der romanischen Welt vertraut wurde. Sie teilte ihre Liebe für die Bündner Berge mit den Geschwistern Conrad -Ferdinand und Betsy Meyer (Thürer, S. 22f.). Der Schriftsteller verglich die frohgemute Johanna, mit der er später viele Gespräche führen sollte, mit einem «klarsprudelnden Bergbach» (Thürer, S. 23).
Zu studieren wie die Brüder war Johanna nicht vergönnt. Ihre Mutter sorgte aber dafür, dass sie in Zürich von der guten Sprachlehrerin Maria Pfenninger unterrichtet wurde. Danach führte sie in Hirzel mit ihrer Mutter den Haushalt und unterrichtete ihre beiden jüngeren Schwestern (Thürer, S. 23 f.).
1852 heiratete sie den Juristen und Redakteur der Eidgenössischen Zeitung Bernhard Spyri, der später als Stadtschreiber in Zürich amtete. Am 17. August 1855 wurde ihr Sohn Bernhard Diethelm geboren. Johanna Spyri nahm an der Ausbildung des Sohnes regen Anteil, lernte zum Beispiel mit ihm Latein und förderte ihn während seines juristischen Studiums. Sie selbst trat auf Wunsch des Schulpräsidenten in die Aufsichtskommission der Höheren Töchterschule in Zürich ein (Thürer, S. 28). Das Ehepaar lernte auch Richard Wagner kennen, der aus politischen Gründen in die Schweiz geflohen war, und besuchte Vorlesungen im privaten Kreise.
Der Geniekult der Kunstbegeisterten war Johanna Spyri jedoch zuwider, er entsprach nicht «ihrem von Natur aus schlichten und vernünftigen Wesen» (Thürer, S. 31). Die Bekanntschaft mit der Familie Meyer wurde schon von beiden Müttern begründet und dauerte das ganze Leben lang. So pflegte Johanna einen regen Briefwechsel mit Betsy Meyer, und sie schien ihr mehr zu bedeuten als Betsy der Kontakt mit Johanna. Conrad Ferdinand Meyer schätzte Johannas literarisches Urteil (Thürer, S. 32).
Verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen bestanden über den Ehemann der Tante in Zürich zu Bremen, und der Bremer Pastor Vietor war es, der Johanna zum Schreiben ermutigte. Er schlug ihr vor, ihr Manuskript «Ein Blatt auf Vronys Grab» im Jahre 1871 herauszugeben. Es folgten «Ihrer keines vergessen», «Aus frühern Tagen», «Daheim und in der Fremde», «Aus dem Leben», «Im Rhonetal», «Ein goldener Spruch», «In Leuchtensee» und «Die Stauffermühle».
1878 erschien ihr erstes Kinderbuch «Heimatlos». Die zwei Bände von «Heidi» wurden 1879 und 1881 publiziert. Der Roman wurde ein Welterfolg und in mehr als 50 Sprachen übersetzt.
Von 1882 bis 1886 schrieb Johanna Spyri viele weitere Kindergeschichten wie «Vom This, der doch etwas wird», «Der Toni vom Kandergrund», «Was der Grossmutter Lehre bewirkt», «Moni der Geissbub», «Beim Weiden-Joseph», «Das Rosen-Resli», «Was Sami mit den Vögeln singt», «Und wer nur Gott zum Freunde hat, dem hilft er allerwegen», «In sicherer Hut», «Vom fröhlichen Heribli», «Aus den Schweizerbergen», «In Hinterwald», «Einer vom Hause Lesa», mit denen sie erzieherisch wirken wollte. Die leuchtenden Vorbilder und die abschreckenden Beispiele waren Teil dieser Erziehung der Kinder.
1884 starben Gatte und Sohn kurz nacheinander. «Ging der doppelte Verlust ihr auch tief, so war sie gläubig und lebenskräftig genug, um ihn zu überwinden. Vor allem aber sah sie eine Aufgabe vor sich, die sie erfüllte. Das war das Schreiben, die Darstellung erfahrenen und ersonnen Lebens.» (Thürer, S. 35)
Von 1885 bis zu ihrem Tod 1901 pflegte Johanna Spyri neben dem Dichten und den Reisen freundschaftlichen Kontakt mit Conrad Ferdinand Meyer und mit vielen, die ihr Werk kennen und schätzen gelernt hatten, so zum Beispiel Hermann Grimm, dem Sohn von Wilhelm Grimm, der mit Jakob Grimm die deutschen Kinder- und Hausmärchen herausgegeben hatte. Sie begegnete auch vielen Schulklassen, die vom Roman «Heidi» begeistert waren.
Quelle: Thürer, Georg. Johanna Spyri und ihr Heidi.
Schweizer Heimatbücher 186. Bern 1982, Paul Haupt Verlag
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