von Karl-Jürgen Müller
Gute deutsch-russische Beziehungen sind von grosser Bedeutung für den Frieden in Europa. Aber von einem gedeihlichen Miteinander kann derzeit keine Rede sein. Stattdessen herrscht eine Art neuer kalter Krieg.
Im September haben beide Staaten ihre nationalen Parlamente neu gewählt: in Russland an drei Tagen vom 17.–19. September und in Deutschland am 26. September.
Hier sollen lediglich zwei Fragen angeschnitten werden: Geben die Wahlergebnisse den Volkswillen wieder? Und: Kann man jetzt schon etwas über die Politik beider Länder nach den Wahlen sagen, insbesondere mit Blick auf das deutsch-russische Verhältnis?
Im neuen Kalten Krieg sprechen die westlichen Staaten den politischen Systemen der Länder, gegen die sie diesen Krieg führen, immer wieder die Legitimität ab. Im Umgang mit Russland gehört es zum Repertoire, den Verantwortlichen in diesem Land Wahlfälschungen vorzuwerfen, und zugleich davon zu reden, man wolle die demokratische Opposition und die Zivilgesellschaft im attackierten Land fördern und unterstützen (d. h. am Regime change arbeiten) – was indes bei Verbündeten, ganz unabhängig vom politischen System, fast gar kein Thema ist.
So war es nicht erstaunlich, dass die demokratische Legitimation des neuen russischen Parlaments in vielen deutschsprachigen Medien und von offizieller Seite in Frage gestellt wurde. Auch in Russland selbst rechnete man schon vor den Wahlen damit. Hier nur ein Beispiel: Thomas Röper, ein in St. Petersburg lebender Deutscher, betreibt die deutschsprachige Internetseite Anti-Spiegel. Schon am 16. September, also einen Tag vor Wahlbeginn in Russland, schrieb diese Internetseite,1 dass das EU-Parlament am selben Tag einen 32 Seiten umfassenden Bericht verabschiedet hat, der zahlreiche Massnahmen gegen Russland auflistet. Der Anti-Spiegel schreibt: «Gegen Russland soll so ziemlich alles unternommen werden, ausser einem militärischen Angriff.»
Mit umstrittenen Quellen wirft die EU Russland Wahlfälschungen vor
Im EU-Bericht ist auch die Rede davon, dass die EU die bevorstehenden Parlamentswahlen nicht anerkennen will, wenn sie «als gefälscht anerkannt werden». Der Anti-Spiegel geht auch auf die Frage ein, wer die EU-Entscheidung hierüber sehr wahrscheinlich stark beeinflussen wird: die russische NGO Golos. Golos gilt in Russland als «ausländischer Agent», nicht zuletzt wegen seiner Geldgeber aus der EU und aus den USA, unter anderem USAID und das National Endowment for Democracy (NED). Selbst beim Wikipedia-Eintrag über Golos ist zu lesen, dass diese Art der Finanzierung zumindest «in der Vergangenheit» stattgefunden hat. Der Anti-Spiegel schreibt, Golos habe spezielle Schulungen für ihre Wahlbeobachter durchgeführt, und fügt hinzu: «Aber der Westen hat ja das Ziel, die Wahl als gefälscht darzustellen. Also erzählt Golos den Wahlbeobachtern auf den Schulungen offen, dass es das Ziel ist, die Wahl als illegitim darzustellen, und man erklärt ihnen, wie sie selbst Verstösse provozieren können, die Golos dann melden kann. Bezeichnenderweise sind auf der Seite von Golos schon vor der Wahl etwa 1000 Verstösse markiert.» Der Anti-Spiegel gibt als Beleg auch noch einen Link an, ein Video einer solchen Schulung bei Golos. Dass es auch Wahlbeobachter aus anderen Saaten, zum Beispiel der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GUS, gegeben hat, die von einem weitgehend ordnungsgemässen Ablauf der Wahlen in Russland gesprochen haben, wird in unseren Medien nicht erwähnt.
Wie dem auch sei: Am 20. September, vier Tage nach dem Artikel im Anti-Spiegel und einen Tag nach den Wahlen in Russland, interviewte der öffentlich-rechtliche und deutschlandweit ausgestrahlte Deutschlandfunk früh am Morgen einen Vertreter von Golos, der darlegen konnte, warum die Wahlen in Russland seiner Meinung nach gefälscht seien. Die Nachrichten des Radiosenders meldeten am selben Tag jede halbe Stunde, dass Golos die Wahlen in Russland als gefälscht beurteilt habe. Und noch am selben Tag forderte der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert, man verlange von Russland «Aufklärung» wegen der Vorwürfe, die Wahlen seien gefälscht.
Interessant ist aber auch, dass nun zwar lautstark von Wahlfälschung die Rede ist, das russische Wahlergebnis aber trotzdem offiziell nicht nicht anerkannt wurde. Offensichtlich schreckt man (noch?) davor zurück, auch mit Russland so umzugehen wie mit Belarus. Da spielt dann doch wieder die Realpolitik eine Rolle – aber die Stimmung ist gemacht.
Zweifel an demokratischer Legitimation der Wahlen zum Deutschen Bundestag
Zweifel an der demokratischen Legitimation der Wahlen zum Deutschen Bundestag wurden in unseren Medien nicht geäussert. Dabei gibt es – obwohl grössere Wahlfälschungen im engeren Sinne wohl nicht vorgekommen sind und die Versäumnisse der Berliner Behörden noch eine Ausnahme sind – einige Anhaltspunkte für kritische Fragen. Hier seien nur ein paar genannt:
1. Keine Gleichberechtigung aller Parteien und Kandidaten
Von einer Gleichberechtigung aller Parteien und Kandidaten konnte bei Bundestagswahlen noch nie die Rede sein. Auch dieses Mal wurden in der Medienberichterstattung von den 47 Parteien, die vom Bundeswahlleiter zur Wahl zugelassen worden waren, fast nur die sieben Parteien beachtet, die schon Sitze im Bundestag haben. Wegen zahlreicher weiterer Hemmnisse – unter anderem auch der 5 %-Klausel – haben es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 lediglich zwei Parteien geschafft, als neue Parteien in den Bundestag einzuziehen: Die Grünen und die Alternative für Deutschland. Allerdings haben sich auch hier die Hoffnungen auf eine mehr gemeinwohlorientierte Akzentverschiebung in der tatsächlichen Politik als trügerisch erwiesen.
2. Unsere Medien haben versucht, die Wahlen zu manipulieren
Die Medien, auch die öffentlich-rechtlichen, haben den Wahlkampf in mehrfacher Hinsicht zu manipulieren versucht. Das reichte von der sehr selektiven, kaum repräsentativen, dafür aber den Gesinnungen der Redaktionen folgenden Auswahl vermeintlicher Durchschnittsbürger für Fernseh-Fragerunden an Parteienvertreter bis hin zur mangelnden Neutralität der Medien-Moderatoren in den politischen Talk-Runden. Selbst die «Neue Zürcher Zeitung» titelte am 20. September: «Die Weltanschauung führt Regie. Im Wahlkampf zeigt sich, wo bei Journalisten von ARD, ZDF und Co. das Herz politisch schlägt.» Ein Beispiel: In einer Sendung der ARD mit dem Titel «Wie geht’s, Deutschland?» sollten eine 16jährige Schülerin, die für viel mehr Digitalisierung an den Schulen plädierte, und eine junge Frau, die sich bei Fridays for Future engagiert, für die Anliegen der deutschen Jugend sprechen. Beide dürfen ihre Meinung haben – aber repräsentativ für die deutsche Jungend sind sie nicht.
3. Deutschlands Verfassung kennt keine Kanzlerherrschaft
Was dieses Mal im Vergleich zu vielen vorherigen Wahlen besonders aufgefallen ist: die starke Konzentration des von den Medien betriebenen Wahlkampfes auf die drei Kanzlerkandidaten Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD). So als wenn bei den Bundestagswahlen der Kanzler zu wählen wäre. Kaum einmal wurde erwähnt, dass Deutschland gemäss seiner Verfassung eine parlamentarische Demokratie sein soll und keine Kanzlerherrschaft. Die starke Konzentration auf die Kanzlerkandidaten passt nicht zur deutschen Verfassungsordnung.
4. Parteienstaat statt Volkssouveränität
Artikel 20, Absatz 2 Grundgesetzt lautet: «Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung ausgeübt.» Artikel 21 bestimmt: «Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.» Schon seit ihrer Gründung hat sich die Bundesrepublik Deutschland von einer zentralen Stellung des Volkes im politischen Leben und einer begrenzten Dienstleistungsfunktion der Parteien verabschiedet und sich zu einem Parteienstaat hin entwickelt. Die wissenschaftliche Kritik daran, zum Beispiel durch Karl Albrecht Schachtschneider oder Hans-Herbert von Arnim, ist gut begründet. Obwohl weniger als 5 % der Staatsbürger Mitglied einer Partei sind, beherrschen heute die Parteien alle Staatsorgane. Faktisch ging die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland noch nie vom Volke aus. Und die verfassungsrechtlich gebotene Möglichkeit von Abstimmungen wird den Bürgern auf nationaler Ebene nach wie vor verwehrt. Selbst die sich bürgerfreundlich gebenden Grünen haben die Forderung nach Volksentscheiden aus ihrem Programm gestrichen.
5. Keine solide politische Willensbildung
Es ist fraglich, ob der Wahlkampf ein Beitrag zu einer soliden «politischen Willensbildung des Volkes» war oder überhaupt sein kann und sollte. Ein Indiz für die Berechtigung dieser Kritik sind die starken Zustimmungsverschiebungen bei den verschiedenen Parteien, was Umfrage-Ergebnisse im Wahljahr deutlich machten. Das Institut Infratest Dimap befragte alle zwei Wochen potentielle Wähler, wen sie wählen würden, wenn am jeweils kommenden Sonntag Bundestagswahlen wären.2 Bei CDU/CSU schwankten die Ergebnisse zwischen 35 % (am 7. Januar 2021) und 20 % (am 2. September 2021) – das tatsächliche Wahlergebnis lag bei 24,1 %. Das war ein enormer Rückgang an Zustimmung und dann auch bei den Wählerstimmen und kann kaum mit Veränderungen der tatsächlichen Politik der Unionsparteien erklärt werden. Dasselbe gilt für Bündnis 90/Die Grünen, die ihren Höhepunkt am 6. Mai mit 26 % der potentiellen Wähler hatten, danach aber bis zum 16. September auf nur noch 15 % abgefallen waren – Wahlergebnis: 14,8 %. Die SPD stand am 6. Mai bei nur 14 % und steigerte sich bis zum 16. September auf 26 % – Wahlergebnis: 25,7 %. Auch diese Zahlen sind mit Veränderungen der bisherigen tatsächlichen politischen Leistung oder derjenigen Leistung, die künftig von diesen beiden Parteien zu erwarten ist, nicht zu erklären. Andere Gesichtspunkte müssen eine viel grössere Rolle gespielt haben.
Hinzu kommt, dass der für jedes Land wichtige Bereich der Aussenpolitik und damit auch der Fragen von Krieg und Frieden aus dem medial vermittelten Wahlkampf nahezu komplett ausgeschlossen war – wenn man vom starren Bekenntnis von Baerbock, Laschet und Scholz zur Nato absieht. Selbst die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» titelte am 13. September in einem Kommentar: «Themen des zweiten Triells: Aussenpolitik? Fehlanzeige!» Das galt auch für das Aufeinandertreffen der drei Kanzlerkandidaten im ersten und dritten Fernseh-Triell. Sehr wahrscheinlich sind alle drei Kandidaten in diesem Politikbereich in etwa gleichgeschaltet. Die möglichen, auch kritischen Fragen der Wähler blieben so aussen vor.
Die «Selbstgerechten» werden Deutschland noch mehr in den Griff nehmen
Welche Politik ist nach den beiden Parlamentswahlen zu erwarten? Hierüber können jetzt noch keine sicheren Aussagen gemacht werden. Die Wahlen in Russland haben zwar keine grundsätzlichen Veränderungen angezeigt, aber doch Hinweise auf mehr Unzufriedenheit mit der Partei des regierenden Präsidenten als bei den letzten Wahlen gegeben. Das wird mehr mit der Innen- als mit der Aussenpolitik zu tun haben. Russland zu wünschen ist eine Politik, die es dem Land – an festen Werten orientiert – ermöglicht, weitere Fortschritte für die dort lebenden Menschen zu machen und dabei die schweren Hypotheken aus den Jahren der Sowjet-union und der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Schritt für Schritt zu überwinden. Sehr zu hoffen ist, dass der Russ-land aufgezwungene neue kalte Krieg nicht allzu viele Kräfte und Mittel absorbiert und dass auch die leider unumgänglichen Sicherheitsanstrengungen immer auch die Werte, um die es gehen soll, im Auge behalten werden.
Auch für die deutsche Politik kann es keine sicheren Prognosen geben. Die Regierungsbildung hat gerade erst begonnen. Sicher ist aber höchstwahrscheinlich, dass Bündnis 90/Die Grünen in Deutschland künftig auch auf Bundesebene wieder mitregieren werden. Innenpolitisch wird deshalb die von Sahra Wagenknecht beschriebene «linksliberale» Agenda der «Selbstgerechten»3 noch mehr dominieren als bislang schon. Die grüne Klimapolitik wird den Bürgern sehr viel abverlangen. Das «linksliberale» Meinungsdiktat wird mächtiger werden. Die politischen Freiheiten der Bürger werden noch mehr unter Druck geraten. Politische Positionen, die sich an traditionellen Werten orientieren – und was auch der russischen Politik sehr wichtig ist – werden noch stärker als bislang schon diskriminiert werden. Aussenpolitisch sind die Spitzenpolitiker von Bündnis 90/Die Grünen ganz auf den neuen kalten Krieg gespurt – was für die deutsch-russischen Beziehungen nichts Gutes erwarten lässt.
Was bleibt für die Bürger zu tun?
Die «Neue Zürcher Zeitung» schrieb am 25. September: «Die Vorstellung des Volks als ‹Souverän›, der über die Politik entscheidet, wie sie in der Schweiz existiert, ist den Deutschen fremd. Hier ist die Untertanenkultur populär, die Vorstellung, dass es ohnehin besser ist, wenn die Regierung die Geschäfte übernimmt und regelt.» Solche Polemik kann nicht das letzte Wort sein.
Was bleibt für die Bürger zu tun? Das, was die deutschen Staatsorgane tun und lassen, darf nicht auf Dauer allein den Parteien und einflussreichen Lobbyisten überlassen bleiben. Die Bedeutung des Staates für das Gemeinwohl ist zu gross, als dass man ihn ignorieren könnte. Es gibt wohl keinen anderen Weg, als noch mehr als bislang dabei mitzuhelfen, mit vielen kleinen und besonnenen Schritten weitere Grundsteine für eine direktdemokratische und friedensfördernde politische Kultur in Deutschland zu legen. Das ist auch in Deutschland nach wie vor möglich. •
1 https://www.anti-spiegel.ru/2021/eu-parlament-will-russische-wahl-nicht-anerkennen-und-der-spiegel-verbreitet-neue-luegen/ vom 16.9.2021
2 https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/sonntagsfrage/ vom 16.9.2021
3 Wagenknecht, Sahra. Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus-Verlag Frankfurt am Main 2021; vgl. auch die Buchbesprechung in Zeit-Fragen Nr. 17 vom 27.7.2021
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