Belarus – Zur aktuellen Situation und Politik eines Landes, das Zielscheibe einer offen feindseligen Haltung geworden ist

von Aliaksandr Ganevich, Ausserordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter der Republik Belarus in der Schweiz*

zf. Gemäss dem Prinzip «audiatur et altera pars» («Man höre auch die andere Seite») möchte Zeit-Fragen auch diejenigen selbst zu Wort kommen lassen, über die sonst nur geredet und geschrieben wird. Die Republik Belarus war im vergangenen Jahr nach den dortigen Präsidentschaftswahlen wieder stark in die Schlagzeilen geraten. Was darüber bei uns im Westen alles geschrieben und gesendet wurde, müssen wir nicht wiedergeben. Es könnte aber auch durchaus so sein, dass die Dinge realiter auch in diesem Land anders liegen, als es bei uns normalerweise dargestellt wird. Im folgenden dokumetieren wir den Wortlaut des Vortrages von Aliaksandr Ganevich, dem Ausserordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter der Republik Belarus in der Schweiz, den er uns zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

Ich freue mich, heute hier zu sein und die aktuelle Lage in meinem Land und um Belarus herum zu schildern. Ich danke den Organisatoren des diesjährigen Kongresses «Mut zur Ethik» für die Einladung und das Interesse für das Geschehen in meinem Land.

Negative Schlagzeilen und ein Lichtstrahl

In den vergangenen Monaten war die Republik Belarus oft in den Schlagzeilen, auch in den schweizerischen Medien. Dabei standen fast ausschliesslich negative Aspekte im Fokus, man berichtete gerne von Repressionen und Verhaftungen, jeder Anlass wurde ausgenutzt, um die Staatsführung meines Landes anzugreifen und zu dämonisieren.
  Vor diesem Hintergrund war der grosse Artikel von Professor Bachmeier in der unabhängigen Zeitung Zeit-Fragen im Oktober 2020 wirklich wie ein Lichtstrahl. Ich glaube, er bleibt nach wie vor aktuell und erklärt am besten, was in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr geschehen ist und was – oder wer – dahinter steckt.

Ein anderer Blick auf die Massenproteste nach den Wahlen

Um das im gewissen Sinne zusammenzufassen, möchte ich den Präsidenten der Republik Belarus, Alexander Lukaschenko, zitieren, der während des grossen Treffens mit Massenmedien am 9. August 2021, vor wenigen Wochen, Folgendes gesagt hat:
  «Was die friedlichen Massenproteste angeht, so haben wir gesehen, dass sie alles andere als friedlich waren. Wir können Ihnen Foto- und Videoaufnahmen zeigen, wo unsere OMON-Leute mit Autos überfahren wurden. Wir können Ihnen Polizisten mit schweren Verletzungen zeigen. Sagen Sie, wer hat diese Krawalle begonnen? Brauchte ich etwa diesen Krieg? Auf keinen Fall. Ich wollte, dass alles friedlich und ruhig abläuft. Alles andere wäre mir von Nachteil.»
  Dem Staatschef zufolge wurden unerlaubte Massenproteste aus dem Westen finanziert. Der Putschversuch wurde noch vor der Verkündigung offizieller Wahlergebnisse geplant.
  Der Präsident zeigte sich überzeugt: «Wir haben eine sehr harte Prüfung bestanden, die Prüfung auf die nationale Einheit. Wir haben alles, um diese Phase der jüngeren Geschichte würdig zu überstehen. Unser Volk kann denken, es ist gebildet und setzt sich für die Interessen des souveränen Belarus ein. Es herrscht Einverständnis, dass man im Hinblick auf die Vertretung nationaler Interessen ein Ziel im Auge hat, nämlich die Erhaltung des Staates.»

Massnahmen waren notwendig und werden auch in vielen anderen demokratischen Ländern ergriffen

Aus offizieller Sicht waren harte und entschlossene Massnahmen der belarussischen Einsatzkräfte am Wahltag und auch später notwendig und dem Ernst der Lage angemessen. Wir sind überzeugt, dass die Reaktion seitens der Sicherheitsbehörden im Westen in einer solchen Situation sehr ähnlich gewesen wäre. Wir waren schon Zeugen eines viel härteren Vorgehens der Polizei in Frankreich, Deutschland und anderen demokratischen Ländern.
  Die Behörden in Belarus sollten dem Chaos vorbeugen, das das Leben und die Gesundheit unserer Bürger gefährden und auch von Drittkräften in eigenen Interessen ausgenutzt werden konnte. Es ist klar, zu welch ernsthaften Folgen es führen kann, wenn eine solche Situation ausser Kontrolle gerät.

Über das Schicksal von Belarus entscheidet sein Volk

Wir sind fest davon überzeugt, dass das Schicksal von Belarus nicht durch Strassenkundgebungen mit zweifelhafter externer Vermittlung entschieden wird, sondern durch das belarussische Volk selbst auf eine zivilisierte Weise und streng im rechtlichen Rahmen.
  Die Situation in Belarus hat sich in den letzten Monaten sichtbar beruhigt und normalisiert. Die Menschen sind zum normalen Leben zurückgekehrt, Betriebe funktionieren, Staatsorgane üben ihre Funktionen aus, es gibt keinerlei Ausschreitungen und Massenaktionen.
  Die Wirtschaft entwickelt sich dynamisch, zum Beispiel haben belarussische Exporte in den ersten 7 Monaten dieses Jahres um 37,8 % zugenommen, und Exporte in die Länder der Europäischen Union haben sich gar verdoppelt.

Worum es bei der Verfassungsreform geht

Vom 11.–12. Februar 2021 fand in Minsk die 6. Allbelarussische Volksversammlung statt, wo strategische Fragen der künftigen Entwicklung von Belarus diskutiert wurden. Am Forum nahmen insgesamt 2400 Delegierte teil, darunter Parlamentarier und Arbeitnehmer, Vertreter religiöser Organisationen und NGOs, Repräsentanten der Privatwirtschaft, Rentner und Studenten. Auch Leiter von allen registrierten politischen Parteien und Bewegungen, darunter der oppositionellen, wurden eingeladen. Fast 60 % der Delegierten waren jünger als 50 Jahre.
  Die während des Forums geführten Diskussionen und getroffenen Entscheidungen bekräftigten die Entschlossenheit der Mehrheit der Belarussen für Veränderungen im sozialen und politischen Leben. Dazu soll vor allen der Prozess der Verfassungsreform dienen, der in Belarus gerade jetzt aktiv läuft. Es sind folgende Phasen vorgesehen:

  • Vorbereitung und Erörterung des Entwurfs der neuen Verfassung im Jahr 2021;
  • Durchführung der Volksabstimmung zu diesem Thema Anfang 2022;
  • Anpassung der Gesetzgebung an die neue Verfassung im Jahr 2022.

Zu Kernelementen der neuen Verfassung sollen gehören:

  • Umverteilung der Befugnisse zwischen dem Präsidenten und der Regierung, dem Präsidenten und dem Parlament, den regionalen und lokalen Behörden;
  • Verankerung eines fairen Gesellschaftsvertrags;
  • die besondere Rolle der Allbelarussischen Volksversammlung als eines Verfassungsorgans.

Am 16. März wurde die Verfassungskommission gebildet, die vom Vorsitzenden des Verfassungsgerichts geleitet wird. Das Gremium besteht aus 36 Personen, darunter sind Vertreter von Staatsorganen, Vereinen, Unternehmen, Rechtswissenschaftler und andere Experten.
  Der Verfassungsentwurf ist praktisch fertig und wird in den kommenden Wochen zur öffentlichen Diskussion vorgelegt.

Förderung der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte

Zu den zentralen Diskussionsthemen während der 6. Allbelarussischen Volksversammlung gehörte die Förderung der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte. Der Kurs zur Aufrechterhaltung des Wohlfahrtsstaates als «unveränderliche nationale Marke» von Belarus wurde bestätigt.
  Die Regierung wird folgende Bereiche stärken und weiter ausbauen:

  • staatliche Garantien der Rentenunterstützung für die Bevölkerung;
  • kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung;
  • Unterstützung für grosse Familien, Waisenkinder und andere vulnerable Bevölkerungsgruppen;
  • Förderung der sozialen Verantwortung von Unternehmen;
  • staatliche Unterstützung der konstruktiven Tätigkeit traditioneller Konfessionen und die Erhaltung des religiösen Friedens;
  • Erhaltung der weltanschaulichen Grundlagen der belarussischen Nation sowie deren historischen und kulturellen Erbes, Unterstützung von Kunst und Kultur;
  • besonderes Augenmerk auf die Arbeit mit Jugendlichen, Erziehung zum Patriotismus und Herausbildung eines gesunden Lebensstils.

Neue Investitionsprojekte und regionale Entwicklung

Der Premierminister der Republik Belarus kündigte 500 neue Investitionsprojekte in der Industrie an. Es ist geplant, mindestens fünf neue innovative Branchen zu entwickeln: Elektrotransport, Bioindustrie, Pharma, Robotik und Herstellung von Verbundwerkstoffen.
  Es soll ein Programm zur regionalen Entwicklung mit Schwerpunkt auf Städten mit über 80 000 Einwohnern, zur Verbesserung der Lebensqualität, für Infrastrukturprojekte, Strassenbau und -renovierung umgesetzt werden.
  Die Regierung wird die traditionellen Wirtschaftszweige – Maschinenbau, chemische Industrie, Landwirtschaft – auf einer neuen technologischen und digitalen Grundlage weiter ausbauen.

Entschlossen, jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus zu unterbinden

In Belarus setzt man sich für einen zivilisierten Dialog zwischen der Regierung und der Gesellschaft ein, um den aktuellen Bedürfnissen und Herausforderungen gerecht zu werden. Dabei sind wir entschlossen, dem äusseren Druck auf unser Land nicht nachzugeben und jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus zu unterbinden.
  Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes sind wir mit einem so massiven Angriff von aussen konfrontiert. Dieser Druck nimmt verschiedene Formen an, einschliesslich der Verhängung von immer neuen Sanktionen gegen unser Land, die faktisch darauf abzielen, dessen wirtschaftliche Stabilität zu untergraben und damit die staatliche Souveränität zu schwächen.

Sanktionen: falsch, zerstörerisch, aussichtslos, völkerrechtswidrig

In diesem Sinne bedauern wir zutiefst Beschlüsse der schweizerischen Seite, EU-Sanktionen gegen die Republik Belarus zu übernehmen. Es sind nicht nur Massnahmen gegen konkrete Staatsbürger und Unternehmen, sondern auch sektorale Wirtschaftssanktionen, die auf wichtige Bereiche der belarussischen Wirtschaft gerichtet sind und negative Konsequenzen vor allem für Arbeitnehmer und deren Familien verursachen werden.
  Wir sind nach wie vor fest davon überzeugt, dass Sanktionen als Instrument der Aussenpolitik in der heutigen gegenseitig abhängigen Welt völlig falsch sind und keine positiven Veränderungen bewirken können. Sie zwingen die sanktionierten Staaten, Gegenmassnahmen zu ergreifen, was den Ausbau der bilateralen Beziehungen beeinträchtigt. Eine Sanktionsspirale ist immer für beide Seiten zerstörerisch und gefährlich.
  Belarus hat sich ständig gegen die Verletzung der allgemein anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts ausgesprochen und tut es auch weiterhin. Wir sind überzeugt, dass einseitige Sanktionen keine Legitimation haben und von vornherein aussichtslos sind.
  Niemand profitiert davon, dass der Westen eine tatsächliche Blockade von Belarus verhängt hat, darunter eine völlig unbegründete Sperrung des Flugverkehrs mit unserem Land.
  Es sei denn, es befriedigt Ambitionen einzelner Politiker und Radikaler, die ihr politisches Kapital durch solche Aktionen vermehren wollen. Diese Politiker gehen von der falschen Prämisse aus, dass die Regierung in Belarus angeblich schwach ist und vom Volk gestürzt werden wird. Aber das ist eine Selbsttäuschung. Die Denkweise «je mehr Schaden für das Volk, desto schlimmer für das Regime» ist unhaltbar und für alle kontraproduktiv. Natürlich wird man es mit gewissen Kosten zu tun haben, aber letztendlich wird Belarus dem standhalten und seine progressive Entwicklung fortsetzen. Alle werden durch Blockaden und Sanktionen nur verlieren.

Gute bilaterale Beziehung zwischen Belarus und der Schweiz sind im Interesse beider Länder und Völker

Wir gehen unverändert davon aus, dass die Fortsetzung und der Ausbau guter bilateraler Beziehungen zwischen der Republik Belarus und der Schweizerischen Eidgenossenschaft den Interessen unserer Länder und Völker voll und ganz entsprechen würde. Belarus ist an der Fortsetzung der interparlamentarischen Zusammenarbeit, der rhythmischen Arbeit der Gemischten Wirtschaftskommission Schweiz-Belarus, dem Aufbau des gegenseitigen Handels und der erfolgreichen Tätigkeit der Schweizer Unternehmen in unserem Land, der gegenseitigen Unterstützung im Rahmen internationaler Organisationen interessiert.

Bereit zum Dialog auf Augenhöhe und auf der Grundlage gegenseitigen Respekts

Trotz der offen feindseligen Haltung vieler westlicher Staaten bekräftigt die Republik Belarus weiterhin ihre Bereitschaft, den Dialog auf Augenhöhe und auf Grundlage gegenseitigen Respekts fortzusetzen und zu entwickeln.
  Wir fordern alle Partner auf, keine voreiligen und emotionalen Entscheidungen auf Grund unzureichender und oft ungenauer Informationen zu treffen, mit der Konfrontationslogik zu brechen, die Schädlichkeit der Sanktionspolitik zu erkennen und zu einem pragmatischen und effektiven Umgang miteinander zurückzukehren, von dem alle profitieren würden.
  Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und bin gerne bereit, Ihre Fragen zu beantworten. Auch Ihre Kommentare und Anregungen würden mich sehr interessieren.  •



* Vortrag bei der Jahreskonferenz der Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik» («Das Bonum commune in den Beziehungen zwischen den Menschen, Völkern und Staaten. Probleme und Konflikte würdig lösen – miteinander statt gegeneinander») vom 3.–5. September 2021 in Sirnach TG

Aliaksandr Ganevich ist seit 2020 der Ausserordentliche und Bevollmächtigte Botschafter (der ersten Klasse) der Republik Belarus in der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Er wurde in Lida, Region Grodno, geboren. Seine Ausbildung absolvierte er in der Militärkommandoschule in Ussurijsk, an der Moskauer diplomatischen Akademie sowie an der diplomatischen Schule des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland. Seit 1993 war er in Minsk, Berlin, Bern und München im diplomatischen Dienst tätig. Aliaksandr Ganevich ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er spricht Belarussisch, Russisch und Deutsch.

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