Am UN-Ernährungssystemgipfel 2021 [am 23. September] wurde die Chance vertan, echte Alternativen zu den von Konzernen gesteuerten, umweltschädlichen Produktionsmethoden für unsere Lebensmittel zu finden.
Es hätte ein Sprung nach vorne für die Zukunft unseres Planeten sein sollen, aber stattdessen war es ein Beispiel aus dem Lehrbuch dafür, wie man einen Gipfel eben nicht durchführen sollte. Der UN-Gipfel zu den Ernährungssystemen sollte eine Wende in unserem gescheiterten Ernährungssystem herbeiführen und den Weg in eine klimaresistente, ernährungssichere und gerechte Zukunft weisen. Stattdessen stehen wir wieder am Anfang: ein Sammelsurium von guten, schlechten und hässlichen «Lösungen», aber ein ohrenbetäubendes Schweigen zu den eigentlichen Ursachen der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind.
Ein internationales Gipfeltreffen zum Thema Ernährung war längst überfällig. Unser Ernährungssystem funktioniert weder für die Menschen noch für die Tiere oder den Planeten. Die Lebensmittelproduktion setzt grosse Mengen an Treibhausgasen frei, die den Planeten erwärmen und für 37 % der Emissionen verantwortlich sind. Fettleibigkeit und Unterernährung nehmen zu, während die Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers ins Gegenteil umschlagen: Im vergangenen Jahr musste ein Zehntel der Weltbevölkerung hungern.
Die Landwirtschaft ist der Schlüssel zur Veränderung
Eine Veränderung der Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren, verarbeiten und konsumieren, ist der Schlüssel zur Bewältigung all dieser Probleme. Das Gipfeltreffen war eine entscheidende Gelegenheit, um die Art von Veränderungen herbeizuführen, die ausserhalb dieser aussergewöhnlichen Momente schlicht nicht möglich sind. Was ist also schiefgelaufen?
Der übermässige Einfluss der Konzerne auf den Gipfel – ein Sektor, der weitgehend für den schlechten Zustand der Ernährungssysteme verantwortlich ist – hat von Anfang an für Kontroversen gesorgt.
Das Gipfeltreffen ging eine enge Partnerschaft mit dem Weltwirtschaftsforum ein, einer privatwirtschaftlichen Organisation, die gegründet wurde, um die Interessen der Wirtschaft zu vertreten. Zudem wurde es von der Bill and Melinda Gates Foundation gesponsert, deren Verbindungen zum Privatsektor kein Geheimnis sind.
Dies führte zu einem Boykott durch Gruppen, die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten vertreten, bis hin zu internationalen Nichtregierungsorganisationen.
Ihre Bedenken waren wohlbegründet. Die Lebensmittel- und Agrarindustrie hat im Vorfeld des Gipfels die Transformation des Ernährungssystems thematisiert und dabei unter anderem die Themen Klima, Lebensgrundlagen, Natur und Transparenz angesprochen. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass sich die Konzerne an die Regeln halten, wenn die Regierungen sie nicht zur Verantwortung ziehen.
Mangelnder Ehrgeiz war ein weiteres grosses Hindernis für den Erfolg. Die Notwendigkeit einer umfassenden Reform war noch nie so klar wie heute: Neue Zahlen von Anfang September 2021 belegen, dass 87 % der weltweiten Agrarsubventionen in Höhe von 540 Milliarden US-Dollar (etwa 500 Milliarden CHF) dem Klima, der Natur und der menschlichen Gesundheit schaden. Dennoch ist es dem Gipfel nicht gelungen, einen klaren Kurs in Richtung einer nachhaltigeren Lebensmittelproduktion einzuschlagen.
Agrarökologie steht als Lösung parat
Es hat sich gezeigt, dass die Agrarökologie die Ernteerträge um fast 80 % erhöht, den Zugang der Menschen zu Lebensmitteln verbessert und den Hunger reduziert, die Einkünfte der Bäuerinnen und Bauern steigert und die Widerstandsfähigkeit gegenüber Überschwemmungen, Dürren und anderen Schocks erhöht. Nichtsdestotrotz ist die Agrarökologie nach wie vor stark unterfinanziert.
Zwar wurden auf dem Gipfel einige Zusagen zur Reform der Subventionen gemacht, und einige Regierungen beginnen, die Agrar-ökologie ernst zu nehmen. Die meisten Fonds werden jedoch weiterhin einen Ansatz unterstützen, der mehr oder weniger dem «Business as usual» entspricht.
So diente der Gipfel beispielsweise als Startrampe für AIM, eine US-Klimainitiative zur Förderung einer «klimaintelligenten» Landwirtschaft, die sich weitgehend darauf konzentriert, die Klimaauswirkungen der derzeitigen – stark umweltverschmutzenden – Lebensmittelproduktion abzumildern, statt zu wirklich nachhaltigen landwirtschaftlichen Systemen überzugehen.
Das Gipfeltreffen wurde auch genutzt, um Spenden für die Alliance for a Green Revolution in Africa (AGRA) zu sammeln. Diese Initiative wird von der Gates-Stiftung finanziert und von Agnes Kalibata, der Sonderbeauftragten des Gipfels, geleitet. Mehr Geld für AGRA bedeutet mehr Lösungen von oben nach unten, die für die Afrikanerinnen und Afrikaner und nicht mit ihnen entwickelt werden.
Das letzte Aushängeschild des Gipfels war eine von oben nach unten gerichtete, intransparente Arbeitsweise. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der «Scientific Group», die eingerichtet wurde, um die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger schnell zu beraten, die aber wegen ihrer Voreingenommenheit zugunsten industriefreundlicher High-Tech-Lösungen in die Kritik geraten ist.
Schluss mit «Business as usual»
Die Organisatoren sahen sich gezwungen, die Pläne aufzugeben, diese Gruppe in ein ständiges Gremium umzuwandeln. Die Versuche, diese Version der Wissenschaft voranzutreiben, werden den Gipfel jedoch überdauern und drohen, die wichtige Arbeit bestehender Institutionen wie des Ausschusses für Welternährungssicherheit zu untergraben, in dessen wissenschaftlichem Gremium eine grössere Bandbreite von Stimmen, einschliesslich der Produzentinnen und Produzenten sowie der Zivilgesellschaft, vertreten ist.
Zusammengenommen haben diese Versäumnisse zu einem Gipfel geführt, der uns weiter von wirklichen Lösungen für die Ernährung und das Klima entfernt hat.
Wie geht es nun weiter?
Um wieder auf den richtigen Weg zu kommen, muss ein Konsens über Ideen wie die Agrarökologie geschaffen werden, die nachweislich etwas bewirken. Damit dies erreicht werden kann, müssen die Regierungen auf bestehenden Institutionen wie dem Ausschuss für Welternährungssicherheit aufbauen und dürfen diese nicht untergraben. Denn sie werden von den Menschen unterstützt, die an vorderster Front von der Ernährungs-, Gesundheits- und Klimakrise betroffen sind. Dies ist das richtige Forum, um die Agenda für die Transformation unserer Ernährungssysteme wieder aufzugreifen und die Ideen voranzubringen, mit denen dies erreicht werden kann.
Der Klima- und der Biodiversitätsgipfel bieten uns eine weitere Chance, die Transformation des Ernährungssystems auf den Tisch zu bringen. Die Regierungen müssen diese Chance erkennen und ein faires und nachhaltiges Ernährungssystem in den Mittelpunkt eines Abkommens zur Senkung der CO2- und Methan-Emissionen, eines Abkommens zur Reduzierung der Entwaldung und von Ausgabenentscheidungen stellen.
Der Gipfel zu den Ernährungssystemen hat das «Business as usual» als etwas Neues aufgetischt. Angesichts der dringenden Klima-, Gesundheits- und Umweltkrisen können wir es uns nicht leisten, diesen Fehler erneut zu begehen. •
Quelle: https://www.biovision.ch/fazit-hans-herren-welternaehrungsgipfel/ vom 13.10.2021; der Text erschien ursprünglich in englischer Sprache auf der Internetseite der Thomson Reuters Foundation
* Hans Rudolf Herren ist ein Schweizer Landwirtschafts- und Entwicklungsexperte. Er war 2008 Mitautor und Ko-Vorsitzender des von sechs Uno-Organisationen und der Weltbank beauftragten Weltagrarberichts des Weltagrarrates (IAASTD). Als erster Schweizer wurde Herren 1995 mit dem Welternährungspreis und 2013 mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet. Letztere Auszeichnung erhielt Herren zusammen mit der Biovision – Stiftung für ökologische Entwicklung, welche er 1998 gründet hatte.
Die Welt ist bei der Hungerbekämpfung vom Kurs abgekommen und entfernt sich immer weiter vom verbindlichen Ziel, den Hunger bis 2030 zu besiegen. Bereits die letzten UN-Berichte haben deutlich gewarnt, da die Zahl der Hungernden und Armen seit einigen Jahren wieder ansteigt. Weltweit hungern etwa 811 Millionen Menschen, und 41 Millionen leben am Rande einer Hungersnot. Besonders dramatisch ist die Lage in Somalia, Jemen, Afghanistan, Madagaskar und dem Südsudan. Der neue Welthunger-Index untersucht die Ernährungslage in 128 Ländern und bestätigt die deutlichen Rückschritte bei der Hungerbekämpfung. 47 Länder werden bis 2030 noch nicht einmal ein niedriges Hungerniveau erreichen, 28 davon liegen in Afrika südlich der Sahara.
«Befürchtungen im letzten Jahr haben sich leider bestätigt. Hungersnöte sind zurück, und multiple Krisen lassen die Zahl der Hungernden immer weiter steigen. Die Corona-Pandemie hat die angespannte Ernährungslage in vielen Ländern des Südens noch einmal verschärft, und Millionen Familien haben ihre Existenzgrundlage verloren. Die grössten Hungertreiber bleiben aber Konflikte und der Klimawandel. Die Ärmsten und Schwächsten werden von den Folgen des Klimawandels besonders hart getroffen, obwohl sie am wenigsten dazu beitragen. Die Klimakrise ist eine Frage der Gerechtigkeit. Daher brauchen wir auf der anstehenden Klimakonferenz im November in Glasgow klare und verbindliche Ziele für die Reduzierung des CO2-Ausstosses sowie finanzielle Unterstützung für die Förderung von Klimaresilienz», fordert Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe.
Verheerende Wechselwirkung von Konflikten und Hunger
Der Welthunger-Index zeigt in diesem Jahr die verheerende Wechselwirkung von Konflikten und Hunger. Die Anzahl der gewaltsamen Konflikte hat in den letzten Jahren wieder zugenommen. In acht von zehn Ländern mit einer sehr ernsten oder gravierenden Hungersituation tragen Konflikte massgeblich zum Hunger bei.
«Mehr als die Hälfte aller unterernährten Menschen lebt in Ländern, die von Gewalt, Konflikt und Fragilität geprägt sind. Wo Krieg herrscht, werden Ernten, Felder und wichtige Infrastruktur zerstört. Die Menschen verlassen ihre Dörfer aus Angst vor Kämpfen und Übergriffen und sind auf humanitäre Hilfe zum Überleben angewiesen. Wo Hunger und Armut herrschen, nehmen aber auch Konflikte zu. Wir brauchen tragfähige politische Konfliktlösungen und eine Stärkung des Rechts auf Nahrung. Der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe muss endlich konsequent sanktioniert werden. Darüber hinaus benötigen wir flexible Finanzierungsmodelle, die die Wechselwirkung von Ernährung und Frieden stärker in den Blick nehmen», betont Thieme.
Quelle: Pressemitteilung der Welthungerhilfe vom 14.102021; https://www.welthungerhilfe.de/presse/pressemitteilungen/2021/welthunger-index-2021-rueckschritt-bei-hungerbekaempfung/
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km. Was ist das für eine Welt, in der 811 Millionen Menschen hungern müssen und die Situation eher noch schlechter als besser wird? Die Pressemitteilung der Welthungerhilfe schreibt, der aktuelle Welthunger-Index bestätige «die deutlichen Rückschritte bei der Hungerbekämpfung». Obwohl es schon sehr lange gut ausgearbeitete Programme gibt, mit deren Verwirklichung der Hunger auf der Welt beseitigt werden könnte!
Zu Recht nennt die Welthungerhilfe klimatische Bedingungen sowie Konflikte und Kriege als zwei Hauptursachen der Hungerkatastrophe. An anderer Stelle hat sie auf das grosse Problem aufmerksam gemacht, dass immer mehr bäuerliche Kleinbetriebe in den Hunger leidenden Ländern aufgegeben werden (müssen) und (oftmals ausländische) Grossinvestoren das Land aufkaufen und für ihre Profit- und Machtinteressen missbrauchen. Hinzu kommen Handelsbedingungen, welche die reichen Länder des Nordens machtvoll bevorzugen. Alles auf Kosten der Ärmsten der Welt!
Zeit-Fragen hat immer wieder auf Alternativen zu dieser ungerechten und Menschen mordenden Weltwirtschafts- und Weltlandwirtschaftsordnung hingewiesen. Herausragend dabei der «Weltagrarbericht» und die Initiativen, die mit ihm vor allem in den armen Ländern der Welt aktiv geworden sind – aber sich oft wie Sisyphos vorkommen müssen, der den Stein nach oben rollt, um – oben angekommen – sehen zu müssen, wie er wieder nach unten rollt.
Von der Ideologie des Marktradikalismus getäuscht, glauben viele in unseren Ländern, die Möglichkeiten der Welt beschränkten sich auf ein Nullsummen-Spiel. Die Armut und den Hunger zu bekämpfen, müsste auf unsere Kosten gehen. Das ist absolut falsch. Aber so soll die Welt gespalten bleiben und mitmenschliche Solidarität gestört werden. Wir dürfen dem nicht recht geben. •
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