Kriegsgefahr im Südkaukasus

von Ralph Bosshard

Trotz des von Russland vermittelten Waffenstillstands, der dem sechswöchigen Krieg vom Herbst 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan ein vorläufiges Ende setzte, schwelt der Konflikt um Nagornyi Karabakh (Berg-Karabach) weiter. In diesem Frühjahr begann der Konflikt weitere Kreise zu ziehen und sich mit anderen Konflikten zu verbinden, so dass heute eine Eskalation zu einem regionalen Krieg im Südkaukasus nicht mehr ausgeschlossen werden kann. In diesen könnten auch Atommächte hineingezogen werden. Die letzten Tage brachten eine Verschärfung der Lage bei sich erhöhendem Zeitdruck.

Seit vergangenem April stellte Aserbaidschan immer dreistere territoriale Forderungen an seinen Nachbarn Armenien, welche weit über den Gebietsstreit in Berg-Karabach hinausgehen. Baku will nicht nur Transitrechte für Landtransporte zwischen dem aserbaidschanischen Mutterland und der Exklave Nakhichevan, wie es im Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 festgelegt worden war, sondern einen eigentlichen Korridor durch die südarmenische Provinz Syunik.1 Von einem solchen Korridor war im Waffenstillstandsabkommen nie die Rede gewesen.2 Inzwischen setzte Aserbaidschan seine Übergriffe gegen armenisches Territorium an verschiedenen Orten fort. Durch diese Übergriffe gegen unbestrittenermassen armenisches Territorium entsteht nun die Gefahr, dass Russland als Verbündeter Armeniens in einen Krieg hineingezogen wird. Im September drohte Aserbaidschan mit der Blockade der Strasse zwischen den zwei armenischen Städten Kapan und Goris in der Provinz Syunik, die streckenweise über aserbaidschanisches Territorium verläuft.3 Diese Drohung wiederum rief Teheran auf den Plan, denn diese Strasse ist wichtig für den Verkehr zwischen dem Iran und Armenien. Für den Fall, dass aserbaidschanische Truppen in Armenien einfallen und die armenische Armee aus der Region Syunik vertreiben, drohte der Iran bereits explizit mit einem militärischen Eingreifen.4
  Zusätzliche Brisanz erhielt der Konflikt in den letzten Wochen durch offen vorgetragene israelische Drohungen gegen den Iran im Zusammenhang mit dem Streit über dessen Atomprogramm.5 Dazu kam jüngst eine gemeinsame Übung der türkischen, pakistanischen und aserbaidschanischen Marine im Kaspischen Meer, südlich von Baku.6 Diese unweit der iranischen Grenze stattfindende Übung wurde in Teheran als Provokation aufgefasst und löste den Aufmarsch iranischer Truppen an der Grenze zu Aserbaidschan aus.7
  In diesem aufgeheizten Klima wirken die Aufrufe von US-Präsident Joe Biden schon fast etwas blutleer, und auch Frankreich hat eine konkrete Unterstützung Armeniens bereits ausgeschlossen.8

Die Zeit wird knapp

Das Zeitfenster für eine militärische Lösung des Konflikts im Süden Armeniens schliesst sich wohl schon bald, denn der Beginn des Winters wird militärische Operationen dort schon bald massiv erschweren. Um so mehr könnten die Konfliktparteien in Versuchung kommen, jetzt noch rasch fait accomplis zu schaffen, um sich in eine günstige Ausgangslage für das nächste Frühjahr zu bringen.
  Auch in den Verhandlungen um das Atomabkommen (Joint Comprehensive Plan of Action JCPOA) zwischen dem Iran und einer Staatengruppe, bestehend aus China, Russland, Frankreich, Grossbritannien, Deutschland und vielleicht bald schon wieder den USA, könnte bald Zeitdruck aufkommen. Nach der Wahl von Ebrahim Raisi zum neuen iranischen Staatspräsidenten im vergangenen August waren die Verhandlungen vorerst unterbrochen worden. Besonders Israel drängt seit längerem auf den gänzlichen Abbruch der Verhandlungen und wartet immer wieder einmal mit Prognosen auf, dass der Iran nächstens genügend waffenfähiges Uran produziert haben werde, um eine erste Kernwaffe zu bauen.9 Hinter vorgehaltener Hand sagen Experten der Internationalen Atomenergie-Behörde IAEA allerdings, dass der Bau der ersten iranischen Kernwaffe dann doch nicht so schnell gehen werde.

Poker um Gefangene

Inzwischen hat sich auch die Parlamentarische Versammlung des Europarats des Konflikts um Berg-Karabach angenommen. Ihr Resolutionsentwurf «Humanitarian consequences of the conflict between Armenia and Azerbaijan» zeigt in etwa auf, welche Narrative die europäischen Abgeordneten den Konfliktparteien abzukaufen bereit sind und welche nicht:10 So halten die europäischen Abgeordneten Berichte über die Teilnahme von Söldnern, welche die Türkei in Syrien anheuerte und in den Krieg nach Berg-Karabach entsandte, offensichtlich für plausibel. Etwas seltsam scheint allerdings der Vergleich zwischen diesen Söldnern und jenen Armeniern aus der weltweiten Diaspora, die in die alte Heimat zurückkehrten, um diese gegen die aserbaidschanische Aggression zu verteidigen. Hier haben sich offensichtlich die aserbaidschanischen Abgeordneten durchgesetzt.11
  Seit Monaten beschwert sich Armenien, dass Aserbaidschan noch immer nicht alle armenischen Kriegsgefangenen vom Herbst letzten Jahres freigelassen habe. Derzeit sollen sich noch 48 Armenier in aserbaidschanischem Gewahrsam befinden.12 Die entsprechenden Nachweise waren offenbar zu stichhaltig, als dass Aserbaidschan diese Tatsache hätte leugnen können. Verständlicherweise befürchtet Armenien, dass Aserbaidschan es mit diesen Gefangenen erpressen will. Das zynische Spiel mit Kriegsgefangenen könnte sich für Baku noch als gefährlich erweisen, denn der durch Russland vermittelte Waffenstillstand sieht explizit die Rückkehr aller Kriegsgefangener vor. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew glaubt offenbar, gestützt auf seine militärische Überlegenheit, sich einen derartigen eklatanten Bruch des Waffenstillstandsabkommens leisten zu können. Sollte er die Geduld Russlands aber über Gebühr strapazieren, könnte ihm dies noch auf die Rechnung gesetzt werden.

Ilham Alijew auf Gratwanderung

Das politische System Aserbaidschans lebt davon, dass das Gros der Einnahmen aus der Öl- und Gasförderung einer kleinen politischen Elite zukommt, in deren Zentrum der Alijew-Clan steht. Derweil wird der Bevölkerung gerade genug davon zugestanden, damit sie nicht aufmüpfig wird. Daneben werden bedeutende finanzielle Mittel gebraucht, um sich das Wohlwollen massgeblicher Kreise im Westen zu sichern. Bekannt ist, dass finanzielle Zuwendungen an Politiker und Diplomaten schon fünfstellige Euro-Beträge erreichten.13 Das politische Überleben des Regimes Alijew hängt somit in hohem Mass von den Einnahmen aus der Erdöl- und Erdgas-Förderung ab. Ohne diese wird es für den Alijew-Clan rasch gefährlich. Die Krise des Jahres 2014, als die Preise in den Keller fielen, mag Baku als Warnung gedient haben.14
  Die Abhängigkeit der aserbaidschanischen Wirtschaft von den Einnahmen aus der Förderung von Erdöl und Erdgas ist und bleibt gross, aber die Einnahmen werden auf absehbare Zeit nicht mehr das Niveau von 2010 erreichen.15 Viele Förderanlagen sind mittlerweile alt, und die seit über 100 Jahren betriebene Förderung von Erdöl hat ökologische Schäden verursacht, deren Beseitigung das Land noch teuer zu stehen kommen wird. Viel Geld wurde in Prestige-Projekte investiert, vor allem in Baku. Wer einmal aus Baku hinaus aufs Land fährt, sieht rasch, dass dort von den Einnahmen aus Erdöl und -gas nicht viel hängen geblieben ist. In wirtschaftlicher Hinsicht hat Aserbaidschan ausser Erdöl und -gas derzeit wenig zu bieten. Die aserbaidschanische Regierung muss diversifizieren und versucht deshalb, sich zur Handelsdrehscheibe für Erdöl und Erdgas aus Turkmenistan zu profilieren. Dabei machen die Europäer gerne mit, denn sie hoffen, dass Öl und Gas aus dem Kaspischen Meer ihre Abhängigkeit von Russland mindern könnte.16
  Ganz generell will Aserbaidschan seine vorteilhafte geographische Lage zwischen Asien, Europa, dem Iran und Russland verstärkt nutzen.17 Gerne würde es von der von China ins Leben gerufenen Belt & Road Initiative profitieren und sich als regionale Drehscheibe für den internationalen Warentransport von Ost nach West sowie von Süden nach Norden (Teheran – Moskau) etablieren. Damit bekommt der Ausbau der Verkehrs-Infrastruktur neue Bedeutung. Das betrifft unter anderem die Eisenbahnverbindungen Baku–Tbilisi–Kars und jene von der iranischen Stadt Rascht bis an die russische Grenze bei Yalama, sowie den Seehafen von Aljat.
  Schon lange vor dem Krieg im vergangenen Herbst wurde die intensive Zusammenarbeit zwischen Israel und Aserbaidschan auf dem Gebiet der Rüstung offensichtlich.18 Parallel zu dieser dürfte sich auch die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit entwickelt haben, über welche naturgemäss nicht viel veröffentlicht wird. Dass aber israelische Nachrichtendienste im Süden von Aserbaidschan aktiv sind, um in den Iran hineinzuhorchen, ist mehr als plausibel. In Teheran wird man sicher auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Israel von aserbaidschanischem Territorium aus Drohnenangriffe gegen iranische Atomlabors führt oder zumindest von Aserbaidschan aus die dafür notwendigen Nachrichten beschafft.19 Sollte eine derartige israelische Operation dem Iran tatsächlich empfindlichen Schaden zufügen, könnte der Zorn Teherans durchaus die Machthaber in Baku treffen.

Armenien in der Klemme

In den letzten Jahrzehnten versuchten die Türkei und Aserbaidschan, Armenien wirtschaftlich zu isolieren und auszuhungern. Die Grenzen Armeniens bzw. Arzachs zur Türkei und zu Aserbaidschan sind hermetisch geschlossen. Umso wichtiger ist für Armenien die offene Grenze zum Iran im Süden und zu Georgien im Norden. Der Export von landwirtschaftlichen Produkten und der Bergbau sind für die armenische Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Umgekehrt ist die offene Grenze auch für den seit Jahrzehnten von Wirtschaftssanktionen gebeutelten Iran wichtig.20
  Die genaue Anzahl der im Herbst vergangenen Jahres gefallenen armenischen Soldaten ist nicht abschliessend bekannt, aber sie dürfte sich neusten Erkenntnissen zufolge zwischen 3700 und 3900 bewegen. Das ist eine ungeheure Anzahl für ein kleines Volk von circa 3 Millionen Menschen und eine aktive Armee von 45 000 Mann. Damit wird klar, dass die Verluste des sechswöchigen Kriegs eine massive Lücke in die Reihen der Streitkräfte Armeniens und der Republik Arzach gerissen haben.21 Es dürfte Jahre dauern, bis sich diese von diesem Aderlass erholt haben. In den nächsten paar Jahren sind die militärischen Handlungsoptionen der armenischen Regierung eingeschränkt. Das weiss man auch in Baku.

Windige Argumentation

Als sich 1991 Armenien und Aserbaidschan für unabhängig erklärten und Mitgliedsstaaten der Uno sowie Teilnehmerstaaten der OSZE wurden, war der Streit um die Zugehörigkeit der autonomen Republik Nagornyi Karabakh bereits in Gang. Die in Auflösung begriffene Sowjetunion war zuvor nicht mehr in der Lage gewesen, diesen Streit einer Lösung zuzuführen. Schon damals musste bekannt sein, dass die Karabach-Frage im Rahmen der Uno oder der OSZE zu lösen sein werde. Ansonsten waren die Staatsgrenzen der neuen Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft unbestritten. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Verwaltungseinheiten der Sowjetunion waren im Gelände allerdings oftmals nicht eindeutig erkennbar markiert worden. Bis heute verblieben Ungenauigkeiten in der Grenzziehung.22
  Bei ihren territorialen Forderungen an Armenien stützt sich die aserbaidschanische Regierung auf das Kaukasus-Reich der sogenannten Albaner, die nicht zu verwechseln sind mit jenen auf dem Balkan. Ihr Königreich bestand vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis ins frühe 8. Jahrhundert. Die antiken Albaner sprachen eine kaukasische Sprache und bekannten sich ähnlich früh wie Georgier und Armenier zum christlichen Glauben.23 Die ältesten Zeugnisse der kaukasisch-albanischen Sprache wurden 1975 im Katharinenkloster auf der Halbinsel Sinai gefunden. Dieses stellt eines der ältesten immer noch bewohnten Klöster des Christentums dar und liegt am Fusse des Berges Sinai, wo sich Gott der Überlieferung zufolge in einem brennenden Dornbusch Mose offenbarte. Dank seiner isolierten Lage wurde das Kloster nie zerstört. In Aserbaidschan leben noch circa 4000 Menschen, deren Muttersprache das Udische ist und die im weitesten Sinne als Nachfahren dieser Albaner betrachtet werden können. Sie bekennen sich zum Christentum. Woher die restlichen 10 Millionen Aserbaidschaner die Legitimation nehmen, um Gebietsansprüche an Armenien zu stellen, ist nicht ersichtlich. Dass sich die Aserbaidschaner als überwiegend schiitische Muslime und Sprecher einer Turksprache in ihren territorialen Forderungen auf das antike kaukasische Albanien stützen, ist unseriös. Die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats geforderte Untersuchung des Narratives der kaukasischen Albaner tut dringend not.24

Infrastruktur und Bodenschätze

Seit der Antike kam dem antiken Persien eine bedeutende Rolle als Drehscheibe zwischen West und Ost zu. Mit der Unabhängigkeit der Republiken Zentralasiens von der Sowjetunion 1991 wurde der Iran zum Transitland für die jungen Republiken zum Persischen Golf und zum Indischen Ozean, um so mehr, als es seit dem Abzug der Sowjetarmee nie richtig gelang, Afghanistan zu stabilisieren. Der iranische Hafen von Tschahbahar an der Küste des Golfs von Oman weckte in jüngster Zeit das Interesse Indiens, weil es über diesen Hafen im Verkehr mit Afghanistan und Zentralasien den Erzfeind Pakistan umgehen kann. Allerdings muss die Verkehrsanbindung des Hafens landseitig noch massiv verbessert werden. Im Norden des Iran liegt in Bandar-e Torkaman (früher Bandar-e Schah) ein Hafen an der Südküste des Kaspischen Meers. Er war bereits im Zweiten Weltkrieg ein bedeutender Umschlagpunkt für die US-amerikanischen Hilfslieferungen an die Sowjetunion im Rahmen des Lend-Lease-Programms durch den sogenannten «persischen Korridor».25 In Bandar-e Torkaman wurden die amerikanischen Hilfsgüter von der Bahn auf Frachter verladen. Auf diesem Weg kann auch heute Aserbaidschan umgangen werden. Damit würden die aserbaidschanischen Investitionen in die Bahn-Infrastruktur nutzlos. Im Gegensatz dazu werden die gebirgigen Strassen im Süden Armeniens niemals die Kapazitäten erreichen, welche Bahn- und See-Verbindungen in der Region des Kaspischen Meers besitzen. Die aserbaidschanischen Provokationen an der Strasse Kapan–Goris sind folglich nicht als Massnahmen gegen einen potentiellen Konkurrenten zu interpretieren, sondern als Versuch, Armenien weiter einzukreisen und von seinem Nachbarn Iran zu isolieren.
  Nachdem der Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Interpretation des Transitrechts im Waffenstillstand vom 9. November letzten Jahres nicht beigelegt werden konnte, schaltete sich erneut Russland ein. Gerüchteweise wurde bekannt, dass zwischen Aserbaidschan und Armenien vereinbart wurde, dass letzteres für die Gewährung von Transitrechten an seinen Nachbarn mit jährlich 250 Millionen Dollar entschädigt werden soll.26 Wenn dem so wäre, dann würde Aserbaidschan seinen Erzfeind Armenien inskünftig solide finanzieren. Das wiederum würde die Ergebnisse des für Armenien so unvorteilhaft verlaufenen Krieges vom Herbst 2020 massiv verändern. Das wäre dann auch ein grosser Erfolg für die russische Diplomatie und ein erster Schritt zur Normalisierung der politisch-wirtschaftlichen Beziehungen im Südkaukasus.
  Im Zuge des Streits um Transitrechte setzte Baku unter anderem auch mit militärischen Mitteln Druck auf. Damit haben die Machthaber in Baku Erfahrung. Vielsagend ist, an welchen Orten sich in den letzten Monaten bewaffnete Zwischenfälle ereigneten.27 Wer schon auf dem Vardenis-Martakert-Highway vom Sevan-See ins Tal des Terter fuhr, dem fielen die Bergwerke beidseits der Strasse auf. Dort befindet sich die Goldmine von Sotk, in welcher das Edelmetall im Tagebau besonders rentabel gefördert werden kann. Etwas weiter südlich davon, nahe der Ortschaft Verin Shorzha, liegt die Goldmine am Tsartsar-Berg. In diesem Frühjahr bezogen aserbaidschanische Truppen in der Nähe dieser Ortschaften Stellungen an oder vielleicht schon jenseits der armenischen Grenze, von wo aus sie problemlos die Aktivitäten rund um die Bergwerke überwachen und gegebenenfalls durch Beschuss stören können.
  Ähnlich liegen die Verhältnisse nahe der Dörfer Aravus und Tekh am Übergang zwischen Armenien und dem Laçin-Korridor, wo neben Gold auch Kupfer und Molybdän-Vorkommen im Boden schlummern. Nicht weit davon drangen aserbaidschanische Truppen in armenisches Territorium am Sev- bzw. Sevlich-See ein, der für die Wasserversorgung der armenischen Stadt Goris von grosser Bedeutung ist. Und schliesslich kam es im Vierländereck bei Yeraskh, wo der Iran, die Türkei, Armenien und Aserbaidschan aneinandergrenzen, im Juli zu längeren Gefechten.28 In all diesen Fällen kommt der Verdacht auf, es gehe bei diesen militärischen Operationen darum, Armenien den Zugriff auf seine natürlichen Ressourcen zu verweigern und es so unter Druck zu setzen. Die wirtschaftliche Zielsetzung aserbaidschanischer Kriegführung offenbart sich immer deutlicher.

Beurteilung

Nach seiner Niederlage im Krieg gegen Armenien 1994 beklagte sich Aserbaidschan nicht ganz zu Unrecht, dass ihm die Kontrolle über bedeutende Teile seines Staatsgebiets entrissen worden sei. Frustriert über jahrelang ausbleibende Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft zur Umsetzung der sogenannten Madrider Prinzipien, enttäuscht von der harten Haltung der Regierung Pashinyan und gedemütigt in den Grenzgefechten im Juli letzten Jahres, entschloss sich Baku für eine militärische Lösung. Im sechswöchigen Krieg im Herbst letzten Jahres eroberte Aserbaidschan einen grossen Teil der 1994 verlorenen Gebiete zurück und deutete mit der Eroberung von Teilen der Provinz Hadrut an, dass es gewillt ist, das Problem insgesamt mit militärischen Mitteln zu lösen. Die Ereignisse der letzten Monate gingen jedoch weit über die militärische Umsetzung der Madrider Prinzipien hinaus. Grosse Geopolitik hat Einzug gehalten im Südkaukasus. Zu Russland, das sein unmittelbares Umfeld stabilisieren möchte, kamen die Türkei, die unter dem Banner des Turanismus eine Verbindung mit den turksprachigen Völkern Zentralasiens anstrebt, und der Iran, der nicht weiter eingekreist werden will. Auch die Konkurrenz zwischen den Staaten in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit und die Rivalität in der notorisch instabilen Nahostregion spielen in den lokalen Konflikt in Berg-Karabach hinein. Und schliesslich haben alle Beteiligten wirtschaftliche Interessen, namentlich in den Bereichen Verkehr und Energie. Der Konflikt um Berg-Karabach hat schon viel zu weite Kreise gezogen und sollte dringend wieder auf das Mass reduziert werden, das er ursprünglich einmal hatte. Die Zeit drängt, und das Eskalationsrisiko ist hoch. •



1 siehe «Azerbaijan’s Aliyev offers Armenia peace in exchange for ‹Zangezur corridor›», in: News.am vom 24.9.2021, online unter https://news.am/eng/news/664280.html. Vgl. auch «Armenia Will Defend its Sovereignty and Territorial Integrity by All Means, PM Pashinyan», bei Massis Post vom 15.07.2021, online unter https://massispost.com/2021/07/armenia-will-defend-its-sovereignty-and-territorial-integrity-by-all-means-pm-pashinyan/. Die Gespräche zwischen Aserbaidschan, Armenien und Russland über die vereinbarten Transitrouten zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nakhichevan über armenisches Territorium wurden im Juni vorderhand ausgesetzt. Uneinigkeit herrscht, weil Aserbaidschan begann, von einem «Korridor» zu sprechen, was Armenien als territoriale Ansprüche interpretiert. Baku drohte implizit damit, den Laçin-Korridor, den es im Waffenstillstandsvertrag vom 9. November den Armeniern überliess, wieder zurückholen zu wollen. Vgl. Joshua Kucera: «Armenia and Azerbaijan suspend ‹corridor› talks», in: Intellinews vom 7.6.2021, online unter https://www.intellinews.com/armenia-and-azerbaijan-suspend-corridor-talks-212591/. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew drohte Armenien schon am 27. April 2021 mit Krieg, wenn es in der Provinz Syunik keinen Transportkorridor zwischen Aserbaidschan und der Exklave Nakhichevan öffne. Durch den Waffenstillstand vom 9. November 2020 war bereits ein Transitkorridor entlang des Arax-Flusses eingerichtet worden. Siehe https://twitter.com/NKobserver/status/1386858478388588544. Vgl. auch «Aliyev threatens to establish ‹corridor› in Armenia by force», in: OC Media vom 21.4.2021, online unter https://oc-media.org/aliyev-threatens-to-establish-corridor-in-armenia-by-force/.
2 siehe Заявление Президента Азербайджанской Республики, Премьер-министра Республики Армения и Президента Российской Федерации, 10.11.2020, online unter http://www.kremlin.ru/events/president/news/64384. Eine englische Version findet sich unter https://web.archive.org/web/20201111212431/http://en.kremlin.ru/events/president/news/64384.
3 siehe «Azerbaijan levies duties on vehicles going through Armenia’s Goris-Kapan road», in: OC Media vom 13.9.2021, online unter https://oc-media.org/azerbaijan-levies-duties-on-vehicles-going-through-armenias-goris-kapan-road/.
4 siehe «In less than 48 hours, troops, equipment transferred to drill field in northwest Iran», in: Teheran Times vom 3.10.2021, online unter https://www.tehrantimes.com/news/465724/In-less-than-48-hours-troops-equipment-transferred-to-drill. Vgl. «Iran Army military drill kicks off in NW borders» in: Mehr News Agency vom 01.10.2021, online unter https://en.mehrnews.com/news/179238/Iran-Army-military-drill-kicks-off-in-NW-borders.
5 Der israelische Premier Naftali Bennett erklärte am 27.9.2021 in der UN-Vollversammlung, das iranische Atomprogramm sei an einem Wendepunkt angelangt und damit auch die Toleranz von Seiten Israels. Worte würden Uran-Zentrifugen nicht stoppen. Damit testete er die Toleranz der internationalen Gemeinschaft gegenüber einem israelischen Militärschlag. Siehe Sharon Wrobel: «Iran’s Nuclear Program at ‹Watershed› Moment, Bennett Warns UN General Assembly», in: algemeiner vom 27.9.2021, online unter https://www.algemeiner.com/2021/09/27/irans-nuclear-program-at-watershed-moment-bennett-warns-un-general-assembly/.
6 siehe Jeyhun Aliyev: «‹Three Brothers› – 2021›: Turkey, Azerbaijan, Pakistan start joint military exercises, International drills kick off with solemn opening ceremony in Azerbaijan's capital Baku», in: AA vom 12.09.2021, online unter https://www.aa.com.tr/en/turkey/three-brothers-2021-turkey-azerbaijan-pakistan-start-joint-military-exercises/2362892. Vgl. «Turkey, Azerbaijan, Pakistan joint military exercises continue», in: Daily Sabah vom 16.9.2021, online unter www.dailysabah.com/politics/diplomacy/turkey-azerbaijan-pakistan-joint-military-exercises-continuehttps://www.aa.com.tr/en/turkey/three-brothers-2021-turkey-azerbaijan-pakistan-start-joint-military-exercises/2362892.
7 siehe «Golnar Motevalli, Zulfugar Agayev: Politics; Turkey, Azerbaijan Plan Military Drills After Iran Moved Forces», in: Bloomberg vom 3.10.2021, online unter https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-10-03/iran-s-khamenei-defends-military-drills-near-azerbaijan-border.
8 siehe «U.S. urges Armenia and Azerbaijan to get involved in substantive talks on Karabakh as soon as possible», in: Arka New vom 5.8.2021, online unter http://arka.am/en/news/politics/u_s_urges_armenia_and_azerbaijan_to_get_involved_in_substantive_talks_on_karabakh_as_soon_as_possibl/. Siehe «Ambassador Lacote: France will consider Armenia’s petition in defense sector», in: News.am vom 23.7.2021, online unter https://news.am/eng/news/654977.html.
9 siehe Benny Morris. «Opinion, On Nuclear Iran, Israel Faces Two Terrible Options», in: Haaretz vom 27.9.2021, online unter https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-israel-s-two-terrible-options-live-with-a-nuclear-iran-or-bomb-it-1.10243995.
10 siehe Parliamentary Assembly Resolution 2391 (2021), Provisional version, «Humanitarian consequences of the conflict between Armenia and Azerbaijan / Nagorno-Karabakh conflict», online unter https://pace.coe.int/pdf/7ec6e96b54134e95cad9686e43ee33520a8a81f83fe6891990a95ff8391c2b5b/resolution%202391.pdf.
11 ebd., Artikel 8.5.
12 ebd., Artikel 6. Mit Film- und Fotoaufnahmen seien 30 Armenier in aserbaidschanischer Gefangenschaft dokumentiert. Vgl. auch «231 troops, 22 civilians missing – Armenia Investigative Committee on 2020 Nagorno Karabakh War», in: Armenpress vom 27.9.2021, online unter https://armenpress.am/eng/news/1064086.html.
13 vgl. Gerd Brenner. «Kaviar und Krieg im Kaukasus», in: World Economy vom 11.5.2021, online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/kaviar-und-krieg-im-kaukasus/.
14 siehe Bundeszentrale für politische Bildung. «Die Talfahrt des Ölpreises» vom 30.1.2015, online unter https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/200167/entwicklung-des-oelpreises.
15 zur aserbaidschanischen Wirtschaft siehe Daniel Heinrich. «Ein Öl-Staat zwischen grossen Plänen und trister Realität», in: Deutschlandfunk vom 17.3.2018, online unter https://www.deutschlandfunk.de/aserbaidschan-ein-oel-staat-zwischen-grossen-plaenen-und.724.de.html?dram:article_id=413275. Zur Wirtschaftslage Aserbaidschans siehe auch Länderprofil Aserbaidschan der Wirtschaftskammer Österreichs, online unter http://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-aserbaidschan.pdf. Vgl. Wirtschaftsbericht Aserbaidschan für 2018 der Schweizerischen Botschaft in der Republik Aserbaidschan und in Turkmenistan, online unter https://www.s-ge.com/sites/default/files/publication/free/wirtschaftsbericht-aserbaidschan-eda-2019-05.pdf.
16 siehe Michael Martens. «Hilfe aus Baku, Erdgas für Europa», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.5.2014, online unter https://www.faz.net/aktuell/politik/aserbaidschans-gas-koennte-europa-unabhaengiger-machen-12941688.html.
17 hier und im folgenden: «Germany Trade Invest: Aserbaidschan treibt Projekte im Transportsektor voran», online unter https://www.gtai.de/gtai-de/trade/branchen/branchenbericht/aserbaidschan/aserbaidschan-treibt-projekte-im-transportsektor-voran-21584.
18 siehe «Turkish, Israeli made drones gave Azerbaijan upper hand, German media argues», in: Daily Sabah vom 20.11.2021, online unter https://www.dailysabah.com/business/defense/turkish-israeli-made-drones-gave-azerbaijan-upper-hand-german-media-argues; vgl. Seth J. Frantzman. «Israeli drones used by Azerbaijan under spotlight in new TV report», in: Jerusalem Post vom 13.03.2021, online unter https://www.jpost.com/middle-east/israeli-drones-used-by-azerbaijan-under-spotlight-in-new-tv-report-661804. Vgl. auch «Azeris use Israeli-made drones as conflict escalates with Armenia — report», in: The Times of Israel vom 30.9.2020, online unter https://www.timesofisrael.com/azeris-use-israeli-made-drones-as-conflict-escalates-with-armenia-report/.
19 So etwas deutete das politische und religiöse Oberhaupt des Iran, Ali Chamenei, auf Twitter an: https://twitter.com/NKobserver/status/1444719813604093952?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Eembeddedtimeline%7Ctwterm%5Eprofile%3ANKobserver%7Ctwgr%5EeyJ0ZndfZXhwZXJpbWVudHNfY29va2llX2V4cGlyYXRpb24iOnsiYnVja2V0IjoxMjA5NjAwLCJ2ZXJzaW9uIjpudWxsfSwidGZ3X2hvcml6b25fdHdlZXRfZW1iZWRfOTU1NSI6eyJidWNrZXQiOiJodGUiLCJ2ZXJzaW9uIjpudWxsfSwidGZ3X3NwYWNlX2NhcmQiOnsiYnVja2V0Ijoib2ZmIiwidmVyc2lvbiI6bnVsbH19%7Ctwcon%5Etimelinechrome&ref_url=https%3A%2F%2Fnkobserver.com%2F. Am 4. Oktober dementierte das aserbaidschanische Aussenministerium iranische Berichte über die Präsenz einer «dritten Kraft» in Aserbaidschan; siehe https://en.trend.az/azerbaijan/politics/3493377.html.
20 vgl. Wirtschaftskammer Österreich. «Die iranische Wirtschaft», online unter https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-iranische-wirtschaft.html#heading_statistik_laenderprofil.
21 vgl. die Daten zur Bevölkerung Armeniens bei https://www.laenderdaten.info/Asien/Armenien/bevoelkerungswachstum.php. Zur Stärke der Armee siehe Global Firepower, online unter https://www.globalfirepower.com/country-military-strength-detail.php?country_id=armenia.
22 Dies veranlasste das US-Aussenministerium unlängst zu einem Aufruf, bei der Demarkation der Grenze auf Gewalt zu verzichten; siehe  Siranush Ghazanchyan: «U.S. rejects use of force to demarcate the border, urges Armenia, Azerbaijan to return to substantive negotiations», in: Public Radio of Armenia vom 9.6.2021, online unter https://en.armradio.am/2021/06/09/u-s-rejects-use-of-force-to-demarcate-the-border-urges-armenia-azerbaijan-to-return-to-substantive-negotiations/.
23 hier und im folgenden: siehe Wolfgang Schulze: CAUCASIAN ALBANIAN (ALUAN), the Language of the ‘Caucasian Albanian’ (Aluan) Palimpsest from Mt. Sinai and of the ‘Caucasian Albanian’ inscriptions, o.O. 2001, online unter http://wschulze.userweb.mwn.de/Cauc_alb.htm. Siehe auch Homepage der Palimpsest-Projekts: http://sinaipalimpsests.org/. Vgl. Zaza Aleksidze, J-P. Mahé: «Découverte d’un texte albanien: une langue ancienne du Caucase retrouvée», in: Comptes rendus des séances l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, 1997, S. 512–532, online unter https://www.persee.fr/doc/crai_0065-0536_1997_num_141_2_15756; vgl. auch Zaza Aleksidze, J-P. Mahé: «Le déchiffrement de l'écriture des Albaniens du Caucase», in: Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, 2001, S. 1239–1257, online unter https://www.persee.fr/doc/crai_0065-0536_2001_num_145_3_16334.
24 siehe PA Resolution 2391, a.a.O., Artikel 18.6.
25 siehe den Artikel Leih- und Pachtgesetz, in: aus-der-Zeit vom 18.2.1941, online unter https://www.aus-der-zeit.ch/books/der-zweite-weltkrieg-band-02/page/leih--und-pachtgesetz-%2818021941%29. Vgl. «Bandar Shahpur – World War II – Persian Gulf Command», online unter http://www.parstimes.com/travel/iran/bandar_shahpur_gallery1a.html.
26 siehe » Newspaper: Armenia-Azerbaijan agreement details known», in: News.am, online unter https://news.am/eng/news/663217.html.
27 hier und im folgenden «New Armenia-Azerbaijan border dispute: 3 villages and gold, copper, silver and molybdenum deposits», in: Nagorno Karabakh Observer vom 5.9.2021, online unter https://nkobserver.com/archives/6867. Vgl. auch «Armenia foils Azerbaijani army offensive in Gegharkunik», in: Panermenian Net vom 28.7.2021, online unter https://www.panarmenian.net/eng/news/294621/.
28 siehe https://twitter.com/NKobserver/status/1417255693107834881.

Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee. Im Anschluss daran folgte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage im Südkaukasus ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er unter anderem als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz tätig war.

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