von Dr. iur. Marianne Wüthrich
Am 19. Oktober hielt der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki vor dem Europäischen Parlament in Strassburg eine vielbeachtete Rede, in der es zum einen um den Begriff der Rechtsstaatlichkeit und das Verhältnis von EU-Recht zu den nationalen Verfassungen der Mitgliedsstaaten ging, zum anderen stellte Mateusz Morawiecki die Frage, die vielen EU-Europäern unter den Nägeln brennt: Wohin rollst du, Äpfelchen? Mit seiner Stellungnahme wollte er den EU-Parlamentariern und der EU-Kommission das heftig attackierte Urteil des Polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober erklären und die Zuhörer auf die Möglichkeit einer EU souveräner Mitgliedsstaaten ansprechen. Wer den Entscheid des Gerichts kennt und die Stellungnahme des polnischen Ministerpräsidenten (mit deutscher Simultanübersetzung) gehört hatte, rieb sich ob der sachfremden Reaktionen von Politikern und Medien verwundert die Augen. Hatten manche Zuhörer gar nicht zugehört?
Polnische Gesetzgebung gerät ins Fadenkreuz der EU-«Werte-Wächter»
Seit in Polen die «nationalkonservative» PIS (Partei für Recht und Gerechtigkeit) die meisten Wählerstimmen und deshalb auch die Mehrheit der Mandate im Parlament errungen hat, greifen die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) immer wieder in die polnische Staatsstruktur ein. Mit einem sogenannten Rechtsstaatlichkeitsverfahren gehen die EU-Organe seit 2017 insbesondere gegen Gesetzesänderungen im Bereich der Justiz vor. Ohne uns mit den Inhalten dieser Gesetze im einzelnen zu befassen, ist hier festzuhalten: Alle Gesetzesrevisionen werden vom rechtmässig gewählten Parlament beschlossen. Dass die Parlamentsmehrheit dabei öfters den Entwürfen der Regierung zustimmt, ist auch anderswo nichts Aussergewöhnliches.
Fazit: Der Hauptvorwurf der westlichen «Wertewächter» lautet, die Politik beziehungsweise die vom Volk gewählte, in Brüssel jedoch ungeliebte PIS-Partei beeinflusse die Gerichte. In Wirklichkeit stört die EU-Spitzen vermutlich etwas ganz anderes: Polen und andere Staaten in Osteuropa beharren darauf, selbst über ihre Staatsstruktur und ihre kulturellen Werte zu bestimmen.
Nur nebenbei: Das europaweit engste Päckli zwischen Exekutive und Justiz bildet zweifellos das Zweigespann EU-Kommission und Europäischer Gerichtshof, die einander – fast immer – gekonnt in die Hände spielen.
Polnisches Verfassungsgericht: Verfassung bleibt das oberste Gesetz der Republik Polen
Angesichts der Eingriffe des EuGH in polnisches Recht ist der Entscheid des Polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober gut nachvollziehbar.
Aus dem Urteil des Polnischen Verfassungsgerichts: Der Europäische Gerichtshof habe sich in das Verfahren zur Ernennung von Richtern gemäss polnischer Verfassung eingemischt, indem er die «Rechtmässigkeit des Verfahrens zur Ernennung von Richtern […]» in Polen kontrolliert und gerügt habe (Urteil des Verfassungstribunals, Ziffer 2 lit a). Dies sei unvereinbar mit der polnischen Verfassung. Durch seine weite Auslegung verschiedener Artikel des Vertrages über die Europäische Union (EUV) habe der Europäische Gerichtshof die EU-Organe ermächtigt, «ausserhalb der Grenzen der von der Republik Polen in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten zu handeln» (Ziffer 1 lit a).
Die Europäische Union, so das polnische Verfassungsgericht, sei aber «von gleichberechtigten und souveränen Staaten gegründet» worden, die der EU lediglich bestimmte Kompetenzen übertragen hätten. Die Verfassung des Einzelstaates – in diesem Falle Polens – bleibe «das oberste Gesetz der Republik Polen» (Ziff. 1 lit b). Andernfalls könne «die Republik Polen nicht als souveräner und demokratischer Staat funktionieren» (Ziff.1 lit c).3 Wer kann etwas dagegen haben, dass ein Staat – auch als EU-Mitglied – souverän und demokratisch bleiben und sich an seine Verfassung halten will?
Protest gegen die absolute Macht des EuGH und der EU-Kommission
Der Sturm, der nach diesem Richterspruch durch die westlichen Medien brauste, ist jedem Zeitungsleser bekannt. Wie sonst sollen denn Polen oder Ungarn oder ein anderer EU-Mitgliedsstaat sich zur Wehr setzen, wenn der Europäische Gerichtshof, im Verbund mit der EU-Kommission, der Union immer mehr Kompetenzen zuspricht, die über die Inhalte der EU-Verträge hinausgehen? Wer nicht spurt, wird unter Druck gesetzt und bestraft, wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 19. Oktober in Strassburg demonstrierte – noch bevor der polnische Ministerpräsident zu Wort kam.
«Wir können und wir werden es nicht zulassen, dass unsere gemeinsamen Werte aufs Spiel gesetzt werden», erklärte sie mit viel Pathos. Das Urteil aus Warschau sei «eine unmittelbare Herausforderung der Einheit der europäischen Rechtsordnung». Und sie zählte gleich die Strafmassnahmen auf, die sie gegen Polen in Gang setzen will: ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren und vor allem die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus.4
Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gemäss Art. 7 des EU-Vertrags hat der EU-Rat kürzlich erweitert, damit Brüssel einzelnen Mitgliedsstaaten Zahlungen aussetzen oder kürzen kann, wenn diese «gegen die Rechtsstaatlichkeit verstossen». Damit die Mitgliedsstaaten einander nicht vor diesem echten Hammer schützen können (wer kann es sich schon leisten, auf die Aber-Millionen und Milliarden aus Brüssel zu verzichten?), wurde das Einstimmigkeitsprinzip beim Rechtsstaatsmechanismus gekippt.5
Von der Leyen legte in Strassburg der polnischen Regierung quasi die Daumenschrauben an, indem sie ihr eben solche Beitragskürzungen androhte.6 Der EuGH hat dem Antrag der Kommission bereits am 27. Oktober stattgegeben: Eine Million Euro Busse pro Tag für den «schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden», den Polen der EU-Rechtsordnung zufüge. Dazu kommt seit September eine halbe Million Euro täglich, weil Polen nicht auf den Braunkohleabbau verzichtet; schon 2017 verhängte der EuGH eine tägliche Busse von 100 000 Euro wegen Abholzung in einem Naturschutzgebiet.7 Wie gesagt: Das Päckli zwischen der EU-Kommission (Exekutive) und dem Europäischen Gerichtshof (Justiz) funktioniert bestens – damit kann man sich sogar in die inländische Energieversorgung und das Forstrecht einzelner Staaten einmischen.
Kein Wunder, setzte sich der polnische Ministerpräsident anschliessend zur Wehr – mit deutlichen Worten gegen die Erpressung und gegen die Kompetenzüberschreitungen der EU-Organe: «So gehen Demokratien nicht vor!» Er streckte aber auch die Hand aus zum Beschreiten des künftigen Weges als gleichberechtigte, souveräne Staaten (siehe Kasten unten).
Gegen die Urteile des EuGH gibt es bekanntlich keinen Rechtsweg. Er bestimmt als oberste Instanz, welches Recht und welche Werte in der «Wertegemeinschaft» EU gelten sollen. Das bestätigt die Weisheit des Schweizer Bundesrates, die Verhandlungen zum Rahmenvertrag mit Brüssel abzubrechen – wir freiheitsliebenden Schweizer und unser vom Volk bestimmtes Recht wären andernfalls gewaltig in die Mangel genommen worden! •
1 «Kommission begrüsst Urteil des EuGH zum Pensionsalter für polnische Richter». Erklärung der Europäischen Kommission vom 5.11.2019
2 «Justizreform. Polen legt Disziplinarkammer für Richter begrenzt lahm». Deutsche Welle vom 6.8.2021
3 «Bewertung der Vereinbarkeit ausgewählter Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union mit der polnischen Verfassung» Verfassungstribunal K 3/21 Ref. K 3/21. Urteil im Namen der Republik Polen vom 7. Oktober 2021. Übersetzung Zeit-Fragen. https://trybunal.gov.pl/postepowanie-i-orzeczenia/wyroki/art/11662-ocena-zgodnosci-z-konstytucja-rp-wybranych-przepisow-traktatu-o-unii-europejskiej
4 Steinvorth, Daniel. «Im Streit um die Rechtsstaatlichkeit in Polen droht von der Leyen mit Sanktionen der EU». In: Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.2021
5 siehe dazu Wüthrich, Marianne. «Wer bestimmt die Werte in der ‹Wertegemeinschaft› EU?» In: Zeit-Fragen vom 13.7.2021
6 Steinvorth, Daniel. «Im Streit um die Rechtsstaatlichkeit in Polen droht von der Leyen mit Sanktionen der EU». In: Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.2021
7 Steinvorth, Daniel. «Polen zu saftiger Strafzahlung verurteilt». In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.10.2021
Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki liess sich vom Getöse nach dem Richterspruch des polnischen Verfassungsgerichts nicht abschrecken, sondern begab sich in die Höhle des Löwen, beziehungsweise ins EU-Parlament in Strassburg. Hier folgen einige markante Auszüge aus seiner Rede.
– Spielregeln müssen für alle gleich sein
«Politik muss auf Prinzipien beruhen. Das wichtigste Prinzip, zu dem wir uns in Polen bekennen und das die Grundlage der Europäischen Union bildet, ist das Prinzip der Demokratie. Deshalb können wir nicht schweigen, wenn unser Land – auch in diesem Saal – auf unfaire und parteiische Weise angegriffen wird. […]
Es ist inakzeptabel, Befugnisse auszuweiten und auf der Grundlage vollendeter Tatsachen zu handeln. Es ist inakzeptabel, anderen seine Entscheidungen ohne Rechtsgrundlage aufzuerlegen. Erst recht inakzeptabel ist es, zu diesem Zweck die Sprache der finanziellen Erpressung zu verwenden, von Sanktionen zu sprechen oder noch weitergehende Worte gegen bestimmte Mitgliedsstaaten zu verwenden. […] Das ist nicht die Art und Weise, wie Demokratien vorgehen.»
– Die Europäische Union ist kein Staat
«Das Unionsrecht geht dem nationalen Recht vor […] gemäss den Verträgen und in den Kompetenzbereichen, die der Union übertragen wurden. Dieser Grundsatz gilt in allen EU-Ländern. Die Verfassung bleibt jedoch das oberste Recht. Wenn die durch die Verträge geschaffenen Institutionen ihre Befugnisse überschreiten, müssen die Mitgliedsstaaten über Instrumente verfügen, um darauf reagieren zu können.»
– Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts darf die nationale Verfassung nicht aushöhlen
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Gegen die absolute Machtanmassung des EuGH haben schon manche anderen Verfassungsgerichte in EU-Landen protestiert. In diesem Sinne zitiert der polnische Regierungs-chef aus Entscheidungen des französischen Verfassungsrats, des dänischen Obersten Gerichtshofs sowie des deutschen Bundesverfassungsgerichts und nennt weitere Staaten mit ähnlichen Gerichtsentscheiden. Zum Beispiel: «Die Verfassung verbietet die Übertragung von Kompetenzen in einem Ausmass, das dazu führen würde, dass (ein Staat) nicht als souveräner und demokratischer Staat angesehen werden kann.» Alle diese nationalen Verfassungsgerichte hätten eines gemeinsam, so Mateusz Morawiecki: Sie bestehen auf ihrem «Recht zu kontrollieren, ob das Unionsrecht innerhalb der Grenzen dessen angewendet wird, was ihm anvertraut wurde».
– Verfassungspluralismus und Entscheidung für den künftigen Weg der EU
«Verfassungspluralismus bedeutet, dass es Raum für einen Dialog zwischen uns, unseren Ländern und Rechtssystemen gibt. Dieser Dialog findet auch durch Gerichtsentscheidungen statt. Wie sonst sollten Gerichte kommunizieren, wenn nicht durch ihre Entscheidungen? Es kann jedoch keine Zustimmung dazu geben, den Staaten Anweisungen und Befehle zu erteilen. Das ist nicht der Sinn der Europäischen Union. Wir haben viele Gemeinsamkeiten, wir wollen immer mehr Gemeinsamkeiten haben – aber es gibt auch Unterschiede zwischen uns. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, müssen wir akzeptieren, dass es diese Unterschiede gibt, wir müssen sie akzeptieren, wir müssen uns gegenseitig respektieren.»
«Die Union wird nicht daran zerbrechen, dass unsere Rechtssysteme unterschiedlich sind. […] Heute können wir zwei Haltungen einnehmen: Entweder wir stimmen allen aussergesetzlichen, ausservertraglichen Versuchen zu, die Souveränität der europäischen Länder, einschliesslich Polens, einzuschränken, durch die schleichende Ausweitung der Zuständigkeiten von Institutionen wie dem Europäischen Gerichtshof […], oder wir können sagen: ‹Nein, meine Lieben› – wenn ihr Europa zu einem Superstaat ohne Nationen machen wollt, dann müsst ihr zuerst die Zustimmung aller europäischen Länder und Gesellschaften dazu einholen.»
– Polen respektiert die Verträge mit der EU im Rahmen seiner Verfassung
«Ich wiederhole noch einmal: Das oberste Recht der Republik Polen ist die Verfassung. […] Es ist jedoch zu betonen, dass das polnische Gericht, auch in seinem jüngsten Urteil, nie erklärt hat, dass die Bestimmungen des Unionsvertrags völlig unvereinbar mit der polnischen Verfassung sind.»
– Klare Rechtsgrundlage statt kreative Neuinterpretation
«Das Phänomen des Demokratiedefizits wird seit Jahren diskutiert. Und dieses Defizit hat sich weiter verschärft. Nie zuvor war es jedoch so sichtbar wie in den letzten Jahren. In zunehmendem Masse werden Entscheidungen auf Grund von gerichtlichem Aktivismus hinter verschlossenen Türen getroffen […]. Und immer öfter geschieht dies ohne eine klare Grundlage in den Verträgen, sondern durch deren kreative Neuinterpretation. Und ohne jede echte Kontrolle. […] Heute ist dieser Prozess so weit fortgeschritten, dass wir sagen müssen: Stopp. Die Zuständigkeiten der Europäischen Union haben ihre Grenzen. Wir dürfen nicht länger schweigen, wenn sie überschritten werden.»
– Ein Europa, das für Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit kämpft
«Verehrte Abgeordnete. Ich will ein starkes und grosses Europa. Ich will ein Europa, das für Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit kämpft. Ein Europa, das in der Lage ist, autoritären Regierungen die Stirn zu bieten. Ein Europa, das die neuesten wirtschaftlichen Lösungen priorisiert. Ein Europa, das die Kultur und die Traditionen, aus denen es hervorgegangen ist, respektiert. Ein Europa, das die Herausforderungen der Zukunft erkennt und an den besten Lösungen für die ganze Welt arbeitet. Dies ist eine grosse Aufgabe für uns. Für uns alle, liebe Freunde. Nur so werden die Bürgerinnen und Bürger Europas Hoffnung auf eine bessere Zukunft schöpfen. Sie werden den inneren Willen zum Handeln und den Willen zum Kämpfen finden. Das ist eine schwierige Aufgabe. Aber nehmen wir sie in Angriff. Nehmen wir sie gemeinsam in Angriff. Es lebe Polen, es lebe die Europäische Union souveräner Staaten, es lebe Europa, der grossartigste Ort der Welt! Ich danke Ihnen sehr.»
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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