von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich
Am 28. November sind wir Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger erneut gefordert. Wir stimmen ab über eine Volksinitiative, die einen neuen Verfassungsartikel vorschlägt, und indirekt über den Gegenvorschlag des Parlaments, der ein neues Gesetz beinhaltet (Bundesgesetz vom 19.3.2021 über die Ausbildung im Bereich der Pflege). Beide wollen das Gesundheitswesen nachhaltig verbessern.
Falls wir die Volksinitiative ablehnen, tritt der gesetzliche Gegenvorschlag in Kraft, falls nicht das Referendum dagegen ergriffen wird. In diesem Fall kommt es zu einer weiteren Volksabstimmung über den Gegenvorschlag. Es ist eine anspruchsvolle Situation auch für den demokratiegewohnten Stimmbürger der Schweiz. (Seit der Einführung dieser Volksrechte in den Jahren 1874 und 1892 waren es bereits mehr als 600 Abstimmungen.)
Die Schweiz hat eines der besten Gesundheitswesen. Das ist unbestritten. Es muss jedoch erneut verbessert werden. Auch das ist unbestritten. Etwa 10 000 Stellen im Pflegebereich sind unbesetzt. Hinzu kommt, dass ein grosser Teil der Ärzte und des Pflegepersonals aus dem Ausland kommt. Es fällt zudem auf, dass zunehmend gut ausgebildete Pflegefachleute schon nach wenigen Jahren die Stelle oder gar den Beruf wechseln. Eine Diskussion über die Ursachen und mögliche Lösungen tut not.
Volksinitiative des Pflegefachverbandes und Gegenentwurf des Parlaments
Die Volksinitiative «Für eine starke Pflege» will die Arbeitsbedingungen verbessern. Die Initianten schlagen einen nationalen Gesamtarbeitsvertrag vor. Forderungen der Gewerkschaften liegen bereits auf dem Tisch. So äusserte sich Roland Brunner von der Zürcher Sektion des Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD: 10 Prozent mehr Lohn für das Pflegepersonal, eine Reduktion der Wochenarbeitszeit auf 36 Stunden und Pensionsalter 60 bei voller Rente – wie in der Baubranche («Neue Zürcher Zeitung» vom 27. Oktober). Dies würde den Personalmangel für den Moment wohl eher verstärken. Der Gegenentwurf des Parlaments will diesbezüglich keine neue Regelung. Arbeitsbedingungen und Löhne blieben primär in der Zuständigkeit der Kantone, Betriebe und Sozialpartner. Regionale Unterschiede – zum Beispiel auf Grund unterschiedlicher Lebenskosten – können wie bisher berücksichtigt werden. In Ausnahmefällen kann ein Gesamtarbeitsvertrag von den zuständigen Behörden im Bund und in den Kantonen auch allgemeinverbindlich erklärt werden. Dieser Weg hat sich bewährt. Ausserdem ist es umstritten, ob die Lohnfrage für das Pflegepersonal im Vordergrund steht. Die meisten Pflegefachleute möchten vor allem mehr Zeit für Pflege und Betreuung der Patienten haben. Deshalb haben sie diesen erfüllenden Beruf gewählt.
Direkte Abrechnung zu Lasten der Krankenkasse
Sowohl die Initiative wie auch der Gegenvorschlag wollen vermehrt zulassen, dass Pflegefachleute direkt – ohne Arzt – mit den Krankenkassen abrechnen. Dies wäre wohl nur in der Spitex (Betreuung und Pflegedienst ausserhalb des Spitals) möglich. Ob das zu weniger administrativem Aufwand und zu mehr Zeit für den Patienten führt, ist zu bezweifeln. Der Gegenvorschlag des Parlaments hat wenigstens noch einen Sicherungsmechanismus eingebaut: Steigen die Kosten überdurchschnittlich, könnten die Kantone die Zahl der Pflegefachpersonen oder der Pflegeorganisationen beschränken, die direkt abrechnen.
Sind einheitliche und zentralistische Regelungen sinnvoll?
Die Schweiz hat mit dezentralen, flexiblen Lösungen gute Erfahrungen gemacht. Vor einigen Jahren ist eine Initiative der Sozialdemokraten, die eine nationale Einheits-Krankenkasse einführen wollte, vom Volk deutlich abgelehnt worden. Eine Volksinitiative, die einheitliche Mindestlöhne für alle Berufe vorschreiben wollte, war ebenfalls chancenlos. Flexible Regelungen von unten – mit betrieblichen und regionalen Gesamtarbeitsverträgen – entsprechen dem direktdemokratischen System. Sie haben den Arbeitsfrieden begründet, der seit dem Zweiten Weltkrieg ganz wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz beigetragen hat. Zudem haben die Gewerkschaften des Pflegepersonals in der aktuellen Situation des Personalmangels eine gute Verhandlungsposition.
Lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach?
Bundesrat und Parlament wollen ihre laufenden Ausbildungsanstrengungen im Pflegebereich verstärken. Der Bundesrat will sofort zusätzlich 1 Milliarde Franken (für den Zeitraum von acht Jahren) zur Verfügung stellen, falls die Initiative abgelehnt wird und das neue Gesetz des Gegenentwurfs in Kraft tritt. Falls die Initiative angenommen wird, müsste das Parlament ein Gesetz zur Umsetzung des neuen Verfassungsartikels ausarbeiten, gegen das Gegner das Referendum ergreifen könnten, und es käme möglicherweise erneut zur Volksabstimmung.
Offene Fragen
Zu weiteren Problembereichen im Gesundheitswesen geben sowohl die Volksinitiative wie auch der Gegenvorschlag des Parlaments keine Antwort. Die Abstimmung vom 28. November muss deshalb ein Anstoss sein, die Diskussion über weitere Reformschritte im Gesundheitswesen grundsätzlich und ganzheitlich fortzuführen – zum Beispiel zur Frage, wie der Beruf innerlich wieder mehr erfüllt und Freude bereitetet. •
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