Covid-19 – eine Aufgabe, die nur gemeinsam gelöst werden kann

Eidgenössische Volksabstimmung am 28. November 2021

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Bereits zum zweiten Mal stimmen die Schweizer Stimmbürger über das Covid-19-Gesetz ab. Nachdem der Bundesrat im Frühling 2020 weitgehende Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie und zur Milderung von deren Auswirkungen mit Notrecht gemäss Artikel 185 der Bundesverfassung ergreifen musste, haben National- und Ständerat die notwendige gesetzliche Grundlage am 25. September 2020 beschlossen. Dagegen wurde das Referendum ergriffen, das Volk stimmte dem Covid-19-Gesetz am 13. Juni 2021 mit rund 60 Prozent zu. Am 28. November stimmen wir nun über die Änderungen ab, die das Parlament am 19. März 2021 beschlossen hat, wogegen ebenfalls das Referendum ergriffen wurde. Auch dieser revidierte Gesetzesentwurf wurde vom Parlament dringlich erklärt, das heisst, er trat sofort (am 20. März) in Kraft, gilt aber nur befristet, grundsätzlich lediglich bis am 31. Dezember 2021. Artikel 6a (Zertifikat) gilt bis zum 31. Dezember 2022 (Abstimmungsbüchlein, S. 46). Hier sollen die wichtigsten strittigen Punkte der Vorlage beleuchtet werden.

Zur Einstimmung – damit wir uns die Köpfe nicht durch die teils heftigen Töne im Abstimmungskampf vernebeln lassen – eine Stellungnahme von Bundesrat Cassis, Leiter des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und Arzt: «Die meisten Staaten auf der Welt haben das Problem, dass sie zu wenige Impfdosen für ihre Bürger haben. Bei uns ist es umgekehrt. Wenn ich das meinen Amtskollegen erkläre, schütteln die nur den Kopf. Sie sagen mir dann: ‹Eure Probleme möchten wir haben.› Wir sollten uns bewusst sein, dass das, was bei uns unglaublich emotionale Konflikte bewirkt, in einer Aussensicht vor allem Luxusprobleme sind. In vielen Ländern sterben Menschen, weil es an Spitalplätzen oder Impfstoff fehlt. Und wir streiten darüber, ob es zumutbar ist, beim Besuch eines Restaurants ein Zertifikat zu zeigen. Was soll man dazu sagen?»1

Übergibt das Parlament dem Bundesrat zu viel Macht?

Diese Frage steht seit Beginn der Pandemie im Raum. Denn in Krisenzeiten ist es unumgänglich, dass die Exekutive jederzeit und rasch aktiv werden kann. Das Parlament kann erst hinterher die entsprechenden Gesetze erlassen.
  Die Referendumsgegner sprechen sich gegen die «Machtausweitung des Bundesrates» aus, der «die Kontrolle über das gesamte Leben der Bürger» erhalte (Abstimmungsbüchlein, S. 35). Unter anderem meinen sie damit folgende Bestimmung des Gesetzesentwurfs:

Art. 1a: Der Bundesrat legt die Kriterien und Richtwerte für Einschränkungen und Erleichterungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens fest. Er berücksichtigt nebst der epidemiologischen Lage auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen.

Aus juristischer Sicht äusserten sich kürzlich in der «Neuen Zürcher Zeitung» gleich vier Staatsrechtsprofessoren der Universitäten Zürich und Basel zur Frage, ob das Parlament dem Bundesrat so weitreichende Rechtsetzungskompetenzen übertragen dürfe.
  Gemäss Andreas Kley (Universität Zürich) verstosse das Parlament mit der Ausweitung der Notrechtskompetenzen des Bundesrates gegen die Artikel 164 («Alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen sind in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen») und Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung (Notrechtsartikel, auf den sich der Bundesrat direkt stützen kann, um bei schweren Störungen der inneren oder äusseren Sicherheit Verordnungen zu erlassen). «Die Bundesversammlung ist verpflichtet, diese Regeln selbst aufzustellen. Sie darf diese Arbeit nicht auf den Bundesrat übertragen», so Andreas Kley.2
  Felix Uhlmann, ebenfalls Staatsrechtler an der Universität Zürich, stimmt seinem Kollegen insofern zu, als er das Covid-19-Gesetz «weitgehend [als] eine Ansammlung von Ermächtigungen» und deshalb als «verfassungsrechtlich problematisch» bezeichnet. Angesichts der Krisensituation sieht Felix Uhlmann «diese [verfassungsrechtlichen] Mängel aber nicht als derart gravierend, dass man das gesamte Gesetz ablehnen muss – zumal dadurch die Bewältigung der Pandemie viel schwieriger würde». Er erinnert daran, dass in der heutigen Zeit der Krise die Unwägbarkeiten immer noch hoch sind. Alle Massnahmen des Bundesrates müssen gemäss Art. 1 Abs. 2bis des Entwurfs verhältnismässig sein und von Parlament und Bundesrat laufend evaluiert werden.3

Verhältnismässigkeitsprinzip in Krisenzeiten

In einer Replik auf Andreas Kley weisen zwei emeritierte Professoren für öffentliches Recht, Georg Müller und René Rhinow, die Behauptung der fehlenden Verfassungsmässigkeit zurück. «Der Gesetzgeber verstösst nicht gegen die Verfassung, wenn er in einem Gesetz, das vor allem der Legalisierung von Notverordnungen dient, dem Bundesrat zusätzliche Befugnisse zur Regelung bestimmter Fragen überträgt […].»4 Auch gebe das Gesetz dem Bundesrat nicht freie Hand, sondern halte präzise «Grundsätze für die Ausübung der dem Bundesrat übertragenen Befugnisse» fest. Wie Felix Uhlmann meinen sie damit vor allem Artikel 1 Abs. 2bis und Abs. 3.

Art. 1 Abs. 2bis: Der Bundesrat orientiert sich an den Grundsätzen der Subsidiarität, Wirksamkeit und der Verhältnismässigkeit. Er richtet seine Strategie auf die mildest- und kürzestmögliche Einschränkung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens aus, indem Bund und Kantone zuvor sämtliche Möglichkeiten von Schutzkonzepten, von Test- und Impfstrategien sowie des Contact-Tracings ausschöpfen.

Abs. 3: Er bezieht die Kantonsregierungen und die Dachverbände der Sozialpartner bei der Erarbeitung von Massnahmen ein, die ihre Zuständigkeit betreffen.

Es ist gut, wenn wir Stimmbürger dabeihaben, dass die Corona-Pandemie kein Sonntagsspaziergang ist. Am besten werden wir gemeinsam die schwierige Lage bewältigen, wenn jeder nach seinen Kräften mitzieht. Selbstverständlich darf die Exekutive nicht tun, was sie will, aber sie muss in Krisenzeiten etwas tun. In diesem Sinne auch Müller/Rhinow: «Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie müssen häufig und rasch den Entwicklungen der epidemiologischen Lage angepasst werden. Das Gesetzgebungsverfahren dauert zu lange, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Deshalb muss der Gesetzgeber dem Bundesrat die Möglichkeit geben, durch die Anordnung von Massnahmen in der Form der Verordnung flexibel auf Veränderungen der Situation zu reagieren.»

Hauptangriffspunkt Covid-Zertifikat

Am heftigsten wird von den Gegnern das Covid-Zertifikat bekämpft, dessen sicherheitstechnische und formale Kriterien in Artikel 6a (Impf-, Test- und Genesungsnachweise) geregelt werden. Entsprechend scharf ist der Ton der Referendumskomitees: «Indirekter Impfzwang», «Diskriminierung», «Spaltung der Gesellschaft» und ähnliches findet sich in ihren «Argumenten». Wie emotional der Abstimmungskampf geführt wird, zeigt sich auch an der unwahren Behauptung, die neue Bestimmung zum Contact-Tracing-System (Artikel 3 b) ziehe die «komplette digitale Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger» nach sich: «Damit halten chinesische Zustände Einzug in der Schweiz.» (Abstimmungsbüchlein, S. 34) Das ist absurd, denn die Benutzung einer Contact-Tracing-App ist freiwillig.
  Zum Thema der Diskriminierung durch die Zertifikatspflicht hat Dario Meili seine Dissertation verfasst.5 Er weist darauf hin, dass nicht jede Ungleichbehandlung eine Diskriminierung ist. Die Zertifikatspflicht stelle zwar eine Ungleichbehandlung dar, aber keine Diskriminierung im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der Schweizerischen Bundesverfassung. Gemäss BV Artikel 36 bedürfen Einschränkungen von Grundrechten «einer gesetzlichen Grundlage» und müssen «durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein». Diese Kriterien seien bei der Zertifikatspflicht erfüllt. Weil alle die Wahl haben, sich impfen oder testen zu lassen, wenn sie ein Restaurant besuchen wollen, könne man nicht von Diskriminierung sprechen, so Dario Meili. Für die Grundversorgung (Läden, öffentlicher Verkehr) gelte keine Zertifikatspflicht, deshalb herrsche auch de facto kein Impfzwang. Bemerkenswert ist die Schlussfolgerung des jungen Autors: «Zertifikatsgegner, die uneingeschränkte Grundrechte einfordern, vernachlässigen, dass ihre Freiheit, sich überall ohne Zertifikat zu bewegen, die Freiheit aller anderen tangiert.»
  Auch Staatsrechtsprofessor Felix Uhlmann hält die Zertifikatspflicht nicht für diskriminierend. «Der Streit um den Begriff der Diskriminierung verstellt den Blick auf die wesentliche Frage: Von Geimpften und Genesenen geht eine geringere Gefahr aus, deshalb werden sie unterschiedlich behandelt. Das ist verfassungsrechtlich nicht nur erlaubt, sondern geboten.» Auch sei die Zertifikatspflicht «sicher die mildere Massnahme im Vergleich zu flächendeckenden Schliessungen». Schliesslich erinnert er daran, «wie komplex es ist, ein Gesetz so auszugestalten, dass die Gleichbehandlung in allen denkbaren Fällen gewährleistet ist. Und wenn sich die Lage laufend ändert, ist dies besonders schwierig […]». Hingegen plädiert Felix Uhlmann für den Fall der 2-G-Regel (kein Zertifikat für Getestete), die auch in der Schweiz bereits diskutiert wird, dafür, dass «eine solche Entscheidung vom Gesetzgeber gefällt wird».6

Fazit

Für uns Schweizer, die im Vergleich zu vielen anderen Menschen auf der Welt im Honigtopf sitzen, wäre es empfehlenswert, unsere eigenen Wünsche ab und zu mit Rücksicht auf unsere Mitmenschen zurückzustellen. Es gehört zur sozialen Natur des Menschen, dass der Freiheitsdrang des Einzelnen seine Grenze am Wohl der Gemeinschaft findet. Heute belegen mehrheitlich Ungeimpfte die Betten der Intensivstationen, obwohl einem der Impfstoff mit einem Impfbus bis vor die Haustüre geliefert wird. Einzelne Kantone veranstalten sogar Nacht-Impf-Partys oder holen Leute mit dem Taxi ab – alles gratis, also mit Steuergeldern bezahlt. Ist das nicht absurd?  •



1 Gafafer, Tobias; Schäfer, Fabian. «Die Schweiz darf in der Europapolitik nicht noch einmal in die gleiche Falle tappen». Interview mit Bundesrat Ignazio Cassis. In: Neue Zürcher Zeitung vom 9.11.2021
2 Kley, Andreas. «Der Bundesrat kann, kann, kann … Die Änderung des Covid-19-Gesetzes ist ein weiterhin verfassungswidriges Vorhaben». Gastkommentar in: Neue Zürcher Zeitung vom 20.10.2021
3 Gerny, Daniel. Interview mit «Staatsrechtsprofessor Uhlmann zum Covid-Zertifikat: ‹Das Parlament hätte Leitplanken setzen müssen›» In: Neue Zürcher Zeitung vom 6.11.2021
4 Müller, Georg und Rhinow, René. «Das Covid-19-Gesetz ist nicht verfassungswidrig». Gastkommentar. In: Neue Zürcher Zeitung vom 9.11.2021
5 Meili, Dario. «Die Covid-Zertifikatspflicht ist nicht diskriminierend.» ETH Zürich (https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2021/09/die-covid-zertifikatspflicht-ist-nicht-diskriminierend.html)
6 Gerny, Daniel. Interview mit «Staatsrechtsprofessor Uhlmann zum Covid- Zertifikat: ‹Das Parlament hätte Leitplanken setzen müssen›» In: Neue Zürcher Zeitung vom 6.11.2021

Föderalismus: Bundesbehörden lernen von den Gemeinden

mw. Ein föderalistisches Lehrstück finden wir im untenstehenden Gesetzesartikel. Als im letzten Winter die Restaurants wegen Corona geschlossen waren, hatten viele Menschen, die den ganzen Tag bei Wind und Wetter draussen arbeiten, eine harte Zeit. Damit sie ihre Mittagspause an der Wärme verbringen konnten, suchten in vielen Gemeinden Wirte mit den kantonalen und kommunalen Behörden zusammen eine Lösung. In manchen Wirtschaften wurde während der Mittagszeit für die im Freien Beschäftigten ein Kantinenbetrieb eingerichtet. Gleichzeitig waren natürlich auch die Wirte und ihre Mitarbeiter froh über diese Einnahmequelle. Nun hat das Parlament diesen Faden aufgegriffen und in das Covid-19-Gesetz geschrieben:

Art. 4 Abs. 3 und 4
3   Der Bundesrat stellt sicher, dass trotz der behördlichen Schliessung von Gastrobetrieben Berufsleute aus dem Landwirtschaftssektor und dem Bausektor sowie Handwerkerinnen und Handwerker und Berufstätige auf Montage die Möglichkeit haben, sich in Gastrobetrieben zu verpflegen. Es gelten dieselben Bedingungen bezüglich Schutzmassnahmen und Öffnungszeiten wie bei Betriebskantinen privater Unternehmen und öffentlicher Institutionen.
4   Der Bundesrat stellt sicher, dass den Lkw-Fahrerinnen und Lkw-Fahrern trotz der behördlichen Schliessung von Gastrobetrieben genügend sanitarische Einrichtungen zur Verfügung stehen und dass die Lkw-Fahrerinnen und Lkw-Fahrer sich in Gastrobetrieben verpflegen können.

 

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