Ein «weltweiter Plan für Brüderlichkeit und Wohlstand»

von Andrés Manuel López Obrador, Präsident von Mexiko und derzeit Präsident des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Ich spreche nicht von Sicherheit als Synonym für militärische Macht oder als Argument für die Anwendung von Gewalt gegen jemanden. Mein Ansatz beruht vielmehr auf dem, was der, laut Pablo Neruda, Titan der Freiheiten, nämlich Präsident Franklin Delano Roosevelt, bei der Gründung der Uno postulierte: «das Recht auf ein Leben frei von Angst und Elend», das nach wie vor die solideste Sicherheitsgrundlage für alle Gesellschaften und Staaten darstellt.
  Das Haupthindernis für die Ausübung dieses Rechts ist die Korruption in all ihren Erscheinungsformen: transnationale Mächte, Opulenz und Frivolität als Lebensweise der Eliten; das neoliberale Modell, das Verluste sozialisiert, Gewinne privatisiert und die Plünderung der natürlichen Ressourcen und des Vermögens der Völker und Nationen fördert.
  Es ist Korruption, wenn Gerichte diejenigen bestrafen, die nichts haben, womit sie ihre Unschuld erkaufen könnten, und mächtige Leute und grosse Unternehmen schützen, die den Fiskus bestehlen oder keine Steuern zahlen.
  Es ist Korruption, wenn diejenigen ungestraft bleiben, die illegale Gelder in Steuerparadiesen verbergen und verstecken, und es ist Korruption, wenn die Anteilseigner und Verwalter der sogenannten Geierfonds Wucher treiben, ohne auch nur ihr Ansehen zu verlieren.
  Es wäre Heuchelei, die Tatsache zu ignorieren, dass das Hauptproblem des Planeten die Korruption in all ihren Dimensionen ist: politisch, moralisch, wirtschaftlich, rechtlich, steuerlich und finanziell.
  Es wäre unsinnig zu verschweigen, dass Korruption die Hauptursache für Ungleichheit, Armut, Unzufriedenheit, Gewalt, Migration und schwere soziale Konflikte ist.
  Wir befinden uns im Niedergang, weil noch nie zuvor in der Weltgeschichte so viel Reichtum in so wenigen Händen durch Machtausübung, das Leiden anderer Menschen in Kauf nehmend, angehäuft wurde. Dies, indem privatisiert wurde, was allen gehört oder was keinen Besitzer haben sollte, indem Gesetze verbogen wurden, um das Unmoralische zu legalisieren, und soziale Werte sinnentstellt wurden, um das Verwerfliche als akzeptables Geschäft erscheinen zu lassen.
  Ein Beispiel dafür ist die Verteilung des Impfstoffs gegen Covid-19. Während private Pharmaunternehmen 94 % der Impfstoffe verkauft haben, hat der von der Uno für arme Länder geschaffene Covax-Mechanismus nur 6 % verteilt – ein schmerzlicher und durchschlagender Misserfolg.
  Diese einfache Tatsache sollte uns dazu veranlassen, uns das Offensichtliche einzugestehen: In der heutigen Welt werden Grosszügigkeit und Sinn für das Gemeinwohl von Egoismus und privatem Ehrgeiz verdrängt; der Geist der Zusammenarbeit verliert gegenüber dem Profitstreben an Boden, und wir sind dabei, von der Zivilisation in die Barbarei abzugleiten, indem wir uns wie entfremdet bewegen, moralische Grundsätze vergessen und uns von den Leiden der Menschheit abwenden.
  Wenn wir nicht in der Lage sind, diese Entwicklung durch konkrete Massnahmen umzukehren, werden wir auch keines der anderen Probleme lösen können, unter denen die Völker der Welt leiden.
  Was machen wir in Mexiko? Wir haben die Devise ausgegeben, die Korruption zu beseitigen und alle freiwerdenden Mittel für das Wohlergehen des Volkes zu verwenden, unter dem Gesichtspunkt, dass die Armen zum Wohle aller an erster Stelle stehen müssen.
  Sich für die Armen zu entscheiden bedeutet auch, davon auszugehen, dass Frieden die Frucht von Gerechtigkeit ist und dass kein Land lebensfähig sein kann, wenn Marginalisierung und Elend fortbestehen und zunehmen.
  Deshalb sind wir der Meinung, dass die grundlegende Lösung für ein Leben ohne Angst, Risiko und Gewalt darin besteht, der Arbeitslosigkeit ein Ende zu setzen, jungen Menschen zu Arbeit und Studium zu verhelfen, den Zerfall der Familien und der Gesellschaft zu verhindern und den Verlust kultureller, moralischer und geistiger Werte abzuwenden.
  In Mexiko könnte es einige Zeit dauern, das Land zu befrieden, aber das sicherste Mittel ist, das Problem an der Wurzel zu packen, so wie wir es tun; zum Beispiel, indem wir den Jugendlichen Möglichkeiten geben, zu studieren und zu arbeiten, um zu verhindern, dass sie in die Kriminalität abrutschen.
  Der wirkliche Sieg über kriminelle Banden wird immer darin bestehen, ihnen den Nährboden und ihre Reservearmee zu entziehen.
  Mit diesem Kriterium begegnen wir auch dem Phänomen der Migration. Die wesentlichen Massnahmen sind nicht Zwangsmassnahmen, sondern solche, die alle Menschen zu Studium, Arbeit, Gesundheit und Wohlstand an ihren Geburts- und Wohnorten verhelfen, damit sie nicht gezwungen sind, ihre Dörfer wegen Hunger oder Gewalt zu verlassen, und damit nur diejenigen auswandern, die dies wollen, so dass die Migration freiwillig und nicht erzwungen ist, eine individuelle Entscheidung und kein Phänomen demografischen Ausmasses.
  Kürzlich habe ich Präsident Biden respektvoll einen neuen Weg zur Bewältigung des Migrationsphänomens aufgezeigt, ohne dabei die Notwendigkeit ausser Acht zu lassen, die Migrationsströme zu steuern, Chaos und Gewalt zu vermeiden und die Menschenrechte zu garantieren.
  Ich schlug ihm vor, zwei Programme, die wir in Chiapas, einem mexikanischen Bundesstaat nahe der Grenze, erfolgreich durchführen, sofort in drei Partnerländern anzuwenden. Heute pflanzen wir dort auf 200 000 Hektar Nutzholz und Obstbäume an, und dieses Programm bietet 80 000 Menschen Arbeit. Ebenso arbeiten in diesem südostmexikanischen Bundesstaat 30 000 junge Menschen als Lehrlinge und erhalten einen Mindestlohn, um in Werkstätten, Unternehmen und anderen produktiven und sozialen Tätigkeiten ausgebildet zu werden.
  Würden diese beiden Massnahmen in Guatemala, Honduras und El Salvador sofort umgesetzt, könnten rund 330 000 Menschen, die derzeit Gefahr laufen, aus Mangel an Arbeit abzuwandern, in ihren Ländern bleiben.
  Ich denke, dass diese Vorschläge von der Uno umgesetzt werden sollten, um den Problemen in den armen Ländern auf den Grund zu gehen; es ist notwendig, dass das wichtigste Gremium der internationalen Gemeinschaft aus seiner Lethargie aufwacht und aus seiner Routine, seinem Formalismus herauskommt, um sich zu reformieren und die Korruption in der Welt anzuprangern und zu bekämpfen, die Ungleichheit und die sozialen Unruhen, die auf dem Planeten grassieren, mit mehr Entschlossenheit, mehr Tiefe, mit mehr Protagonismus, mit mehr Führungswillen zu bekämpfen.
  In der Geschichte dieser Organisation wurde noch nie etwas wirklich Substantielles für die Armen getan, aber es ist nie zu spät, um Gerechtigkeit zu schaffen. Heute ist es an der Zeit, gegen die Marginalisierung vorzugehen und die Ursachen und nicht nur die Folgen zu bekämpfen.
  In diesem Sinne wird die mexikanische Vertretung in den kommenden Tagen der Generalversammlung der Vereinten Nationen einen weltweiten Plan für Brüderlichkeit und Wohlstand vorschlagen. Ziel ist es, das Recht auf ein menschenwürdiges Leben für 750 Millionen Menschen zu garantieren, die mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen müssen.
  Mexikos Vorschlag, einen weltweiten Zustand der Brüderlichkeit und des Wohlstandes zu schaffen, kann mit einem Fonds aus mindestens drei Quellen finanziert werden: ein jährlicher freiwilliger Beitrag in Höhe von 4 % des Vermögens der 1000 reichsten Menschen auf dem Planeten; ein ähnlicher Beitrag von den 1000 grössten privaten Unternehmen, gemessen an ihrem Wert auf dem Weltmarkt; und eine Beteiligung von 0,2 % des Bruttoinlandsprodukts jedes der G-20-Mitgliedsländer.
  Wenn dieses Einnahmenziel erreicht wird, könnte der Fonds jährlich über rund eine Billion Dollar verfügen. Die Uno könnte in ihrem Jahresbericht einen Tag vorsehen, an dem sie Auszeichnungen oder Solidaritätszertifikate an Einzelpersonen, Unternehmen und Regierungen vergibt, die sich durch ihr humanitäres Engagement auszeichnen und zur Finanzierung des weltweiten Plans für Brüderlichkeit und Wohlstand beitragen.
  Die Mittel dieses Fonds sollten die Begünstigten direkt erreichen, ohne jegliche Vermittlung, denn wenn Gelder zur Unterstützung der Armen an Nichtregierungsorganisationen der Zivilgesellschaft oder andere Arten von Organisationen vergeben werden, ich möchte es nicht verallgemeinern, aber in vielen Fällen verbleiben diese Gelder in bürokratischen Apparaten, um Luxusbüros und Berater zu bezahlen, oder sie werden abgezweigt und erreichen die Begünstigten nicht.
  Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds könnten bei der Schaffung der erforderlichen Struktur zusammenarbeiten und ab dem nächsten Jahr eine Zählung der ärmsten Menschen der Welt durchführen. Sobald die Zielbevölkerung in jedem Land definiert ist, könnte mit der Verteilung der Mittel begonnen werden, um Renten für ältere Menschen, für Kinder mit Behinderungen, Stipendien für Studenten, Unterstützung für Landwirte und junge Menschen, die als Lehrlinge in produktiven Tätigkeiten arbeiten, sowie für kostenlose Impfungen und Medikamente bereitzustellen.
  Ich glaube nicht, und das sage ich aufrichtig, dass eines der ständigen Mitglieder dieses Sicherheitsrates sich unserem Vorschlag widersetzen wird, denn er bezieht sich weder auf Atomwaffen noch auf militärische Invasionen, noch gefährdet er die Sicherheit irgendeines Staates; im Gegenteil, er zielt darauf ab, durch Solidarität mit denjenigen, die unsere Unterstützung am meisten brauchen, Stabilität und Frieden zu schaffen.
  Ich bin sicher, dass wir alle, ob arm oder reich, ob Geber oder Empfänger, ein reineres Gewissen haben und mit grösserer moralischer Stärke leben werden.
  Das erinnert mich an die Worte von Adam Smith: «Wie egoistisch der Mensch auch sein mag, es gibt offensichtlich einige Elemente in seiner Natur, die ihn sich so sehr für das Schicksal anderer interessieren lassen, dass ihr Glück für ihn notwendig ist, obwohl er nichts davon hat, ausser dem Vergnügen, es zu sehen.»
  Mit anderen Worten: Nur wenn wir gut sind, können wir glücklich sein. Und wir sollten nie vergessen, dass es die kollektive Pflicht der Nationen ist, jedem ihrer Kinder das Recht auf Nahrung, Gesundheit, Arbeit, soziale Sicherheit, Sport und Erholung zu gewähren. […]
  Es ist mir eine Ehre, mit Ihnen, den Ständigen und Nicht-Ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates, zusammen zu sein, der einer Weltregierung am nächsten kommt und das wirksamste Gremium zur Bekämpfung der Korruption und der edelste Wohltäter der Armen und Vergessenen der Erde werden kann.  •

Quelle: https://www.jornada.com.mx/notas/2021/11/09/politica/propone-amlo-ante-la-onu-plan-mundial-de-fraternidad-y-bienestar/

(Übersetzung Zeit-Fragen)

gl. Andrés Manuel López Obrador ist seit 2018 mexikanischer Präsident. Eines seiner Hauptversprechen an die Bevölkerung war, gegen Gewalt, Korruption und Straflosigkeit im Land anzukämpfen. Mexiko hat eine der höchsten Mordraten der Welt, die Drogenkartelle beherrschen das Land nach wie vor. Dieser Herkulesaufgabe widmet sich López Obrador mit ganzer Kraft, aber auch Besonnenheit. Gleichzeitig versucht er vom Neoliberalismus wegzukommen, z. B. in der Energiepolitik. Aussenpolitisch verfolgt er einen Kurs der nationalen Souveränität und bemüht sich, den Zusammenhalt Lateinamerikas zu stärken, ohne in direkte Konfrontation mit den USA zu geraten. Im Volk ist er beliebt auf Grund seiner Glaubwürdigkeit und seines volksnahen Auftretens.

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