Die neue deutsche Regierung sagt: «Mehr Fortschritt wagen»

Die aussenpolitische Agenda wird nicht mehr Frieden bringen

von Christian Fischer, Köln

Eine umfassende Würdigung des Koalitionsvertrages der kommenden SPD-Grüne-FDP-Regierung erfolgt an dieser Stelle nicht. Es soll ein Blick auf aussenpolitische Perspektiven geworfen werden, auch wenn es vom Bürgergeld über die Cannabisfreigabe oder die LBGTI-Unterstützung auch für Entwicklungsländer bis hin zu Zukunftsinvestitionen genug Themen gibt, die uns Zukunftssorgen bescheren können.

Darf man als alter weisser Mann kritische Worte über eine junge Frau sagen, die nun deutsche Aussenministerin wird? Versuchen wir es mal so: Es ist eine intellektuelle Herausforderung, sich eine 40jährige Person, deren Berufserfahrung aus einer Parteikarriere und davor aus Trampolin-Bronzemedaillen besteht, als Chef*In des diplomatischen Korps und als Vertreter*In deutscher Interessen im weltweiten Ausland vorzustellen. Ich bin dieser Herausforderung kaum gewachsen. Ist es ein Trost, dass ähnliche Biografien nicht untypisch sind bei unserer politischen Elite?
  Aber es kommt ja nicht auf Personen (auch nicht auf meine) an, sondern auf Inhalte, wie man uns immer wieder sagt. Die Inhalte stehen im Koalitionsvertrag. Schauen wir also rein. Die Überschrift «Mehr Fortschritt wagen» erinnert wohl bewusst an das Wort von Willy Brandt «Mehr Demokratie wagen». Dieser Slogan klang zumindest sympathisch. Beim Fortschritt muss man sich immer fragen: Wohin schreiten wir denn fort? Oder: Wovon schreiten wir fort? Was lassen wir hinter uns?
  Zunächst stellen sich die Absichten recht konservativ dar. Bekenntnis zu den Nato-Verpflichtungen, zum transatlantischen Bündnis, zur Uno und zu den Menschenrechten. Das sind keine Überraschungen. Man liest sogar von dem Ziel, Deutschland und möglichst die ganze Welt frei von Atomwaffen zu machen und internationale Abrüstungsgespräche wiederzubeleben. Wobei es etwas unklar bleibt, ob man die Abrüstung vor allem von den anderen oder von sich selbst fordert. Denn immerhin liest man auch vom ausdrücklichen Bekenntnis zu bewaffneten Drohnen, von einem Nachfolgesystem für den Kampfflieger Tornado und davon, dass die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr erhöht werden müsse, um den «strategischen Herausforderungen und Sicherheitsbedrohungen unserer Zeit» gewachsen zu sein. Damit lässt sich fast jeder militärische Einsatz weltweit rechtfertigen – halt nein: Es soll ausdrücklich keinen Export von Rüstungsgütern an Staaten geben, die sich am Krieg im Jemen beteiligen. Das ist gut so, aber es gab einmal Zeiten, da waren Waffenexporte in jedes Krisen-, geschweige denn Kriegsgebiet verboten. Diese Zeiten sind lange vorbei, auch wenn man nun «verbindlichere Regeln für eine restriktive Rüstungsexportpolitik» auf EU-Ebene einfordert.
  Konkreter wird der «Fortschritt» auch beim Blick nach Osteuropa. Mit Russland sind wir (wir!) zu einem konstruktiven Dialog bereit und wollen an Zukunftsthemen arbeiten. Das klingt gut. Weiter will man auf die Interessen «unserer Partner» in Mittel- und Osteuropa achten. Man fordert – natürlich von Russland – ein Ende der Gewalt in der Ost-ukraine und ein Ende der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Man will Partner sein für Demokratiebewegungen in der Ukraine, in Moldawien, Georgien und Belarus; die drei Erstgenannten sollen in ihren Bemühungen unterstützt werden, Reformen in Richtung der EU umzusetzen. Denkt man hier die an anderer Stelle formulierte Zielsetzung dazu, dass zwischen EU und Nato eine intensivere Zusammenarbeit geschehen soll, dann fragt man sich, wie ein konstruktiver Dialog mit Russland bei diesen offen deklarierten Einmischungsabsichten möglich sein soll. Das ist ungefähr so, als hätte – bei einem anderen Verlauf der Geschichte – die Sowjetunion versucht, Alaska und Kalifornien (oder Österreich und Skandinavien) zu Sowjetrepubliken zu machen.
  Im Klartext: Man will wirtschaftlich und militärisch weiter nach Osten vorrücken. Wenn wir uns erinnern, dass sogar Hans-Dietrich Genscher, immerhin 18 Jahre lang FDP-Aussenminister, die Ost-Erweiterung nach Polen und ins Baltikum als grössten Fehler seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet hat (vgl. Zeit-Fragen Nr. 25/26 vom 16. November 2021), dann ist dieser «Fortschritt» in Richtung Osten eine logische Fortsetzung dieses grössten Fehlers. Im ferneren Osten will man mit China die Beziehungen «in den Dimensionen Partnerschaft, Wettbewerb und Systemrivalität gestalten», was immer das heissen mag. Jedenfalls sollen die China-Beziehungen in enger Abstimmung mit EU und USA auf Basis der Menschenrechte und des geltenden internationalen Rechts koordiniert werden.
  Erwähnenswert ist vor allem auch der Fortschritt in Sachen Europäischer Union. Ausdrücklich will man die EU zu einem föderalen Bundesstaat weiterentwickeln. Dafür will man im Europäischen Parlament das «Initiativrecht stärken» (Anm.: man müsste es überhaupt erst einmal einführen, bisher hat das Parlament kein Initiativrecht für Gesetze), man will ein europäisches Wahlrecht für dieses Parlament einführen (Anm.: bisher wird das EU-Parlament nach national sehr verschiedenen Regeln gewählt), wobei dann auch transnationale Listen möglich sein sollen (Anm.: dann kann man in Deutschland portugiesische Abgeordnete wählen und umgekehrt). Grundlage dieses europäischen Bundesstaates soll die EU-Grundrechtscharta sein. Auch der Europäische Gerichtshof soll im Vollzug seiner Urteile unterstützt, und nationale Gesetze sollen stärker auf ihre EU-Konformität überprüft werden. An anderer Stelle ist davon die Rede, dass man den Europarat gegen «autoritäre Europaratsmitglieder» stärken wolle.
  Mit einem Wort: Die Auflösung der Nationalstaaten mit dem Ziel eines Europäischen Bundesstaates ist erklärte und beschlossene Sache dieser Regierung. Dem transatlantischen Bündnis und der Expansion in Richtung Osten haben sich alle EU-Mitglieder (Anm.: nicht alle sind Nato-Mitglieder!) anzuschliessen, wenn sie nicht als «autoritär» ins Abseits gestellt werden wollen. Erhöht werden soll die «strategische Souveränität Europas», aber von einer Souveränität der Nationen oder vom Schutz und Geltungsbereich unseres Grundgesetzes liest man nichts. Ist das den Wählern dieser Regierung klar? Wollten sie das?
  Diese ersten Hinweise auf den aussenpolitischen «Fortschritt» zeigen also schon, dass die bisherige Richtung – fort von unserer nationalen Demokratie, fort in Richtung Osten – nicht verlassen, sondern mit frischem Personal zügig weiterbeschritten werden soll. Wir Bürger werden genug zu tun haben, diese Regierung daraufhin zu kontrollieren, ob sie unsere Interessen vertritt. •

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