«Landwirtschaft am Scheideweg» war die Schlussfolgerung 2009 – und heute?

Anmerkungen zum Weltagrarbericht und zu den zehn Jahren danach

von Beat Kissling und Petra Hagen Hodgson*

«Die Ursachen der Covid-19-Pandemie oder jeder anderen modernen Pandemie sind kein grosses Geheimnis», bemerkte Peter Daszak anlässlich eines Workshops des IPBES1 vom Juli 2020. «Dieselben menschlichen Aktivitäten, die den Klimawandel und den Biodiversitätsverlust vorantreiben, erhöhen durch ihre Auswirkungen auf unsere Umwelt auch das Pandemierisiko. Veränderungen in der Art und Weise, wie wir Land nutzen, die Ausweitung und Intensivierung der Landwirtschaft sowie nicht nachhaltiger Handel, Produktion und Konsum beeinträchtigen die Natur und führen zu mehr Kontakt zwischen Wildtieren, Nutztieren, Krankheitserregern und Menschen. So entstehen Pandemien.»2 Die beschriebenen Zusammenhänge sind in der allgemeinen Schweizer Öffentlichkeit wenig bekannt.3 Dabei könnte gerade die Erfahrung mit Covid-19 dazu beitragen, dass die Menschen empfänglicher für Informationen und Überlegungen werden, welche die problematische Rolle der gängigen industrialisierten Landwirtschaft für das Wohl von Mensch und Natur greifbar machen.

Tatsächlich sind spätestens seit dem 2009 erschienenen, damals in der Schweiz auch vom Bioforum vertriebenen Weltagrarbericht die Zusammenhänge zwischen Pandemien und industrialisierten Agrar-, Handels- und Vertriebssystemen bestens bekannt. Das Auftreten und die geographische Ausbreitung von Infektionskrankheiten wurden dort längst als Folge der «Intensivierung des Nutzpflanzenbaus und der Tierhaltung», «wirtschaftlicher Faktoren wie Ausweitung des internationalen Handels und niedriger Erzeugerpreise», von «Mutationen und Evolution von Pathogenen» und der «Geschwindigkeit, mit der Menschen um die Welt reisen können»,4 erklärt. Der Bericht enthielt zugleich entgegenwirkende Massnahmen: «Eine Integration und Koordination politischer und landbaulicher Massnahmen und Programme entlang der gesamten Lebensmittelkette kann der Ausbreitung von Infektionskrankheiten entgegenwirken. Beispiele hierfür sind erweiterte Fruchtfolgen, grössere Kulturpflanzenvielfalt und geringere Bestandsdichten, weniger Transport und Austausch von Nutztieren über grosse geographische Distanzen hinweg.»5 Wie man den Ausführungen entnehmen kann, wächst das Risiko für Pandemien insbesondere mit dem Schwinden der Biodiversität. 2010 konnten Wissenschaftler6 erklären und nachweisen, dass beim Artensterben die sogenannten «Puffer-Arten», welche die Verbreitung von Viren erschweren oder gar verunmöglichen, rascher aussterben als die klassischen Zwischenwirte der Erreger.7

Die ‹Grüne Revolution› und ihre Folgen

Das gegenwärtige rasante Artensterben ist bekanntlich ein junges Phänomen in der Menschheitsgeschichte. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die in den 1960er Jahren vollzogene, sogenannte «Grüne Revolution»,8 mit der die Weltbank damals das Hungerproblem in den armen Ländern des Südens bekämpfen wollte. Ein ganzes Bündel agrartechnischer Innovationen sollte den Hunger dauerhaft vertreiben. Es gelang, Hochertragsgetreidesorten zu züchten, die tatsächlich mehr Kalorien abwarfen. Allerdings verlangten diese Sorten den Anbau reiner Monokulturen sowie den Einsatz synthetischer Dünger und Pestizide.
  Zugleich bedingte diese Anbauweise, dass die zumeist wirtschaftlich benachteiligten Kleinbauern genötigt wurden, Hybridsaatgut für grössere Erträge zu kaufen und dafür Kredite aufzunehmen, wodurch sie in Abhängigkeit zu den Agrokonzernanbietern gerieten. Das Zeitalter der industrialisierten bzw. chemischen, auf Hochtechnologie aufbauenden Landwirtschaft hatte begonnen. Die «Grüne Revolution» wurde gefeiert und fast weltweit adaptiert. Erst allmählich wurden die gravierenden damit verbundenen Schäden und Folgekosten für Natur und Mensch für die breitere Öffentlichkeit offenkundig. An der UN-Konferenz von 1992 in Rio de Janeiro wurden die sich global auswirkenden Schäden für die Umwelt und somit auch für die ärmere ländliche Bevölkerung in den Entwicklungsländern thematisiert.
  Anlässlich der Jahrtausendwende und der sich trotz «Grüner Revolution» nicht verbessernden Lage für mehrere Hundert Millionen unterernährter und armer Menschen setzte die Uno mit der Verabschiedung der Millenniums-Entwicklungsziele ein weiteres Zeichen: Sie stellte die «Bekämpfung von extremer Armut und Hunger» zuoberst auf die Agenda. Bis 2015 sollte der Anteil an Menschen, die weniger als einen US-Dollar pro Tag zum Leben haben, sowie der Anteil an Menschen, die Hunger leiden, um die Hälfte reduziert werden. Gut zwei Jahre später initiierten mehrere UN-Agenturen die Erarbeitung eines umfassenden Berichts zum Zustand der Welternährungssysteme, den Weltagrarbericht.

Sinn und Inhalt des Weltagrarberichts

Während vier Jahren analysierten über 400 Wissenschaftler für diesen Bericht die Ernährungssysteme auf allen Kontinenten auf 50 Jahre zurück sowie in Szenarien 50 Jahre in die Zukunft hinein im Hinblick darauf, was sich zur Überwindung des Hungers und der Armut ändern muss bei gleichzeitigem nachhaltigem Schutz der Natur. Die rückschauende Analyse fiel wenig erbaulich aus. Nebst den hungernden Menschen zeigte der Bericht die noch grössere Anzahl an Menschen mit Übergewicht und Fehlernährung auf, offenbarte, dass zwar Milliarden Tonnen Getreide produziert werden, die Hälfte davon aber nicht als Nahrungsmittel, sondern als Tierfutter für Fleischkonsum, Sprit und Industrierohstoffe verarbeitet wird. Hinzu kam die Erkenntnis, dass das gegenwärtige globale Ernährungssystem eine der wichtigsten Ursachen für den Klimawandel, das Artensterben, die Umweltverschmutzung, Wasserknappheit, vermeidbare Krankheiten, Kinderarbeit, Armut und Ungerechtigkeit sei.
  Aus dieser Bilanz erwuchs 2009 das Motto: «Weiter wie bisher ist keine Option». Die Ziele der «Grünen Revolution» waren trotz Produktionssteigerung grundlegend gescheitert. Zugleich erwies sich diese Art von Ernährungssystem als folgenschwere Belastung für die Natur. Der Weltagrarbericht forderte einen notwendigen Paradigmenwechsel: Anstatt allein auf Produktionssteigerung unter rein technisch-ökonomischen Gesichtspunkten zu setzen, sollte eine multifunktionale, also auch ökologische und soziale Landwirtschaft angestrebt werden. Die Förderung und Unterstützung der Kleinbauern wurde als Schlüssellösung für die vielfältigen Problematiken gesehen. Die Kleinbauern sollten ihr indigenes Wissen in Kooperation mit der Wissenschaft weiterentwickeln können; ihnen sollte der Zugang zu den notwendigen Mitteln (finanzielle Mittel, Land, Vernetzung und Kooperationsmöglichkeiten, Infrastrukturmittel und Zugang zu Menschenrechten, vor allem für Frauen) ermöglicht werden, um so befähigt zu sein, nachhaltige, innovative Lösungen in der Nahrungsmittelproduktion zu entwickeln – als Basis für den notwendigen, grundlegenden Wandel. Den Kleinbauern, die weltweit sowieso schon für 70 % der Nahrungsmittelproduktion zuständig sind, sollte damit zugleich endlich Anerkennung gezollt und eine Stimme verliehen werden. Für diese auf Diversität und in Harmonie mit der Natur beruhende Art der Landwirtschaft wurde im Bericht der Begriff der Agrarökologie verwendet.
  Zur Zeit der Veröffentlichung des Weltagrarberichts 2009 war die Aufmerksamkeit der Politik und sonstigen Weltöffentlichkeit mit der damaligen Finanzkrise so absorbiert, dass er kaum zur Kenntnis genommen wurde. Immerhin hatte die schwere Finanzkrise mit ihren Auswirkungen zur Folge, dass über die globalisierte Wirtschaftsweise kritisch nachgedacht wurde. So erhielt nicht ganz zufällig die Politologin und Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom als erste Frau 2009 den Nobelpreis für Wirtschaft. Sie hatte in langjähriger weltweiter Forschung nachweisen können, dass Menschen sehr gut in der Lage sind, ohne Profitorientierung miteinander Gemeingüter zu verwalten. Sie widerlegte die damals in den Wirtschaftswissenschaften populäre, reduktionistische Auffassung, wonach alle Menschen als Homo oeconomicus zu verstehen seien; diese Sichtweise lieferte die bequeme Rechtfertigung für alle Formen sozialer Ungleichheit und von Elend, als ob Armut und Hunger Folgen natürlicher bzw. schicksalhafter Selektionsvorgänge wären. Die Uno erklärte in Anlehnung an Ostroms sozialethischen Ansatz in der Ökonomie das Jahr 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften.

Höchste Zeit für den längst fälligen Paradigmenwechsel

Diese Bekenntnisse zu einer anderen, den Menschenrechten gerechter werdenden Form des Wirtschaftens beeinflussen seither die Diskussionen über Fehlleistungen der industrialisierten Landwirtschaft und Ernährung. 2011 stellte Benedikt Haerlin, der von 2002 bis 2008 als Vertreter der nordamerikanischen und europäischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Mitglied des Aufsichtsrats des Weltagrarberichts war, fest, dass ein Umdenken in weiten Kreisen der Agrarwissenschaften und der Agrarpolitik durchaus stattgefunden hatte, zumal «die Botschaft des Weltagrarberichts zum Standard wissenschaftlicher und politischer Analyse»9 gehöre. Wie Hans Herren, seinerseits Mitautor und Ko-Vorsitzender des Weltagrarberichts zehn Jahre später konstatierte,10 waren es aber ausschliesslich NGOs, die zu einer relevanten Verbreitung des Weltagrarberichts beitrugen, nicht die staatlichen Institutionen und Vertreter der Politik. Herren und Haerlin haben 2020 zusammen mit weiteren Autoren und Herausgebern des Weltagrarberichts in der Publikation «Der Wandel unserer Ernährungssysteme. Die Entstehung eines Paradigmenwechsels»11 nun Bilanz gezogen. Die enthaltenen 30 Beiträge gehen der Frage nach, inwieweit die Erkenntnisse aus dem Weltagrarbericht in den letzten elf Jahren in die Tat umgesetzt wurden. Jüngere Berichte und Stellungnahmen wichtiger agrarpolitischer Organisationen wie der FAO, der UNCTAD, des CFS oder des HLPE12 werden zusammen mit zahlreichen lokalen und regionalen Initiativen auf der ganzen Welt im Buch besprochen. Diese Beiträge befassen sich mit der Transformation der Ernährungssysteme in Richtung landwirtschaftlicher Biodiversität, mit den unterschiedlichen agrarökologischen Varianten weltweit, mit den seit 2018 UN-verbrieften Rechten der Kleinbauern und anderer Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten, und ihren Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, sowie mit den Zusammenhängen von Ernährungssystemen und Gesundheit (von Mensch und Natur). Sie bestätigen Haerlins 2011 geäusserten Eindruck eines zivilgesellschaftlichen Aufbruchs. In anderen Beiträgen wird der Widerstand gegen den längst fälligen Wandel sowie das Versagen der Politik, die den Paradigmenwechsel auf breiter gesellschaftlicher Ebene in Gang bringen könnte, thematisiert.

Agrarökologie, eine Landwirtschaft der Werte: sozial, ökologisch, ökonomisch und demokratisch

Während in Wirtschaft und Politik die Lösung der anstehenden Probleme auf allen Ebenen der Gesellschaft(en), auch global, im Wesentlichen im technologischen Fortschritt gesehen wird (vor allem mittels Digitalisierung und künstlicher Intelligenz), spricht Benedikt Haerlin in seinem einführenden Beitrag angesichts solcher Lösungsvorschläge auch in der Landwirtschaft von einer «De-Humanisierung». Statt auf Werte verlasse man sich ganz auf technologische Instrumente. Haerlin setzt im Gegensatz dazu auf «Re-Humanisierung, Wiederverbinden, Wiederaufbau und Wiederherstellung der Resilienz unserer Nahrungsmittelsysteme»13 als Antwort auf die unleugbaren Herausforderungen. Zur Agrarökologie schreibt er, man sei früher von einer einheitlichen Konzeption ausgegangen. Heute verstehe man darunter Tausende, lokal unterschiedliche Formen der Umsetzung – traditionelle und neue Formen. Agrarökologie sei «sowohl als soziales und kulturelles Konzept sowie als Sammlung landwirtschaftlicher und ernährungssystematischer Praktiken [...] eine der ganzheitlichsten und überzeugendsten Herangehensweisen angesichts der Herausforderungen des neuen Paradigmas».14
  Wie schon im Weltagrarbericht 2009 beschrieben, werden auch 2021 die Kleinbäuerinnen15 und Kleinbauern nach wie vor als die wichtigsten Akteure im agrarökologischen Transformationsprozess angesehen. Verschiedene Autoren unterstreichen die zumeist achtsame Haltung indigener Bauern der Natur gegenüber. Ihre mehrheitlich höchst respektvolle Verbundenheit mit der Natur steht in klarem Gegensatz zum mehrheitlich gängigen Naturzugang in den wohlhabenden industrialisierten Ländern mit ihrer hochtechnisierten Massenproduktion, der auf der Idee der Beherrschung, Instrumentalisierung und Ausbeutung der Natur beruht.

Die unterschätzte Bedeutung der Konsumenten in den industrialisierten Staaten

Der utilitaristische Naturzugang hat u. a. zur Situation geführt, dass zwar billigste Nahrung im Überfluss produziert wird (mit enormem Foodwaste) und der Hunger in diesen Ländern gebannt ist, dafür aber die Bevölkerung von schweren Gesundheitsproblemen infolge Fehl- und Überernährung geplagt wird. Die billig produzierten Nahrungsmittel fordern letztlich ihren Preis durch ihre Folgekosten: zunächst für die Regeneration der schwer beeinträchtigten Natur sowie längerfristig für die gesundheitlichen Schäden bei den Menschen.
  Noch realisieren viele Konsumenten nicht, dass sie selbst mit ihrer Bevorzugung der Billigprodukte die industrialisierten Ernährungssysteme stützen, ja, sogar die Politik animieren, öffentliche Gelder nicht in die Förderung von agrarökologischen Systemen zu investieren, sondern stattdessen weiterhin den Status quo aufrechtzuerhalten. Laut diverser Stimmen aus der Publikation wird viel zu wenig dafür getan, ein öffentliches Bewusstsein und eine Sensibilisierung für gesunde Nahrungsmittel zu schaffen. Wer beispielsweise weiss schon, dass Nahrungsmittel in Bioqualität eigentlich deutlich billiger wären, würden die realen (auch externen) Kosten für die industrialisiert produzierten Nahrungsmittel in den Preis einfliessen? Und wer ist sich bewusst, dass die industrialisierte Landwirtschaft für einen grossen Teil der Treibhausgase verantwortlich ist (Humusabbau, Kunstdüngerherstellung, Methan und Lachgas)? Man muss sich fragen, warum den Bürgerinnen und Bürgern nicht ein echtes Verständnis der bedeutsamen präventiven Arbeit eines Bauern, der gesunde Lebensmittel (ohne Pestizid- und Antibiotika-Rückstände) produziert, vermittelt wird.

Der Einfluss des «neuen Multilateralismus»

Was aber sind die wesentlichen Hemmfaktoren gegen den längst fälligen Wandel in der Landwirtschaft? Hierzu geben etliche Beiträge der Publikation plausible Antworten. Es liegt auf der Hand, dass es sich um einflussreiche, enorm profitierende Interessengruppen handelt, die trotz des seit elf Jahren vorliegenden Weltagrarberichts keine Skrupel haben, Verdichtung und Vergiftung von Ackerböden weiter voranzutreiben, chemische und medikamentöse Kontamination des Grundwassers in Kauf zu nehmen, zur Steigerung der Fleischproduktion Urwälder zu roden und Raubbau an den Ressourcen zu betreiben, unwürdige Tierfabriken und Tiertransporte über grosse Distanzen zuzulassen, höchst energie-intensive Nahrungsmitteltransporte rund um die Welt zu tätigen und dergleichen – alles zu Gunsten des Profits. Die Autoren lasten es insbesondere dem fehlenden Willen und Mut der Politik an, dass ein Ernährungssystem mit so vielen Opfern und wenigen Gewinnern aufrechterhalten und Milliarden von Steuergeldern für dessen Subventionierung (also der konventionell-industrialisierten Landwirtschaft) aufgewendet werden.
  Der kanadische Gewinner des alternativen Nobelpreises (1985) Pat Mooney zeigt auf, dass die Politik westlicher Industrienationen den exzessiven Geschäftsgebaren der global tätigen Agrokonzerne in den letzten Jahrzehnten keinerlei Regulierung auferlegt hat. In der Folge besteht mittlerweile nur noch ein Oligopol von vier gigantischen, global operierenden Konzernen: Es handelt sich um Bayer/Monsanto, um ChemChina/Syngenta, BASF und Corteva, die bis zu zwei Drittel des weltweiten Marktes für gentechnisch verändertes Saatgut, synthetische Dünger, Pestizide usw. kontrollieren. Kommt hinzu, dass die bekannten Digitalkonzerne sowie die einflussreichsten Vermögensverwaltungskonzerne der Welt wie BlackRock, Vanguard und State Street laut Mooney in hohem Masse daran interessiert sind, ins Nahrungsmittelgeschäft zu investieren.16
  Mooneys Analyse zur internationalen Agrarpolitik bestätigte sich durch den im September stattgefundenen UN-Welternährungsgipfel (World Food Summit, WFS), der in enger Kooperation mit dem World Economic Forum (WEF) durchgeführt wurde. Im Vorfeld des Ernährungsgipfels wurde von einem «neuen Multilateralismus» gesprochen, weil bei diesem Gipfel erstmals das WEF, die Vertretung der weltweit einflussreichsten privaten Wirtschafts- und Finanzunternehmen, sozusagen als gleichwertiger Partner mit den beteiligten Nationalstaaten die Zukunft der globalen Ernährungssysteme verhandelt hat. Mooney benennt die Problematik dieses Gipfels denn auch mit klaren Worten: «Das erste Mal in der Geschichte der Uno wurde der Ernährungsgipfel von der Agro-Nahrungs-Industrie vorbereitet und strukturiert».17
  Zu denken gibt auch, dass die frühere ruandische Agrarministerin, Agnes Kalibata, seit 2014 Präsidentin der Allianz für eine grüne Revolution in Afrika (AGRA), von UN-Generalsekretär António Guterres zur Sonderbotschafterin des Welternährungsgipfels berufen wurde. AGRA, deren erklärtes Ziel es ist, den Kleinbauern Afrikas die «Grüne Revolution» (also Steigerung der Nahrungsmittelproduktion auf chemischer Basis) zu bescheren, wurde 2006 von der Rockefeller- sowie der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung gegründet und finanziert. Das AGRA-Versprechen, Hunger und Armut bis 2020 zu halbieren, wurde zum eigentlichen Desaster.18

Bekenntnis des Bundesrats zur Förderung der Agrarökologie

Beim Welternährungsgipfel gehörte die Schweiz zu «den erstunterzeichnenden Staaten einer neu gegründeten Koalition von Regierungen und Organisationen, die in den kommenden Jahren agrarökologische Ansätze in Forschung, Politik und bei Investitionen stärken will»,19 schreibt Frank Eyhorn, Geschäftsführer von Biovision, in einer Pressemitteilung unmittelbar nach Beendigung des UN-Anlasses. Bundespräsident Guy Parmelin habe sich – wie Eyhorn weiter erläutert – in seiner Ansprache «ausdrücklich zur Förderung der Agrarökologie in der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz» bekannt und «sie als Basis für die Fortsetzung des Dialogs in der Schweiz für die Transformation unseres Ernährungssystems»20 bezeichnet. Diese Aussage mag angesichts der beiden gescheiterten Agrarinitiativen im Juni 2021 und der eher zögerlichen Entwicklung der Landwirtschaftspolitik in der Schweiz erstaunen. Doch sie spiegelt wider, dass die Skepsis in der Schweizer Bevölkerung über die Verwendung von Pestiziden in der Landwirtschaft grundsätzlich sehr gewachsen ist. Diese Haltung kommt auch in der parlamentarischen Initiative «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden» zum Ausdruck, die in der Vernehmlassung eine breite öffentliche Unterstützung erhielt.
  Die Gründe für die Ablehnung der als «Pestizid-Initiativen» bekannt gewordenen Volksabstimmungen hat wohl mit dem erbitterten Widerstand durch das Gros der Bauernschaft zu tun. Die Mehrzahl der Bäuerinnen und Bauern befürchteten offensichtlich, im Falle der Annahme der Initiativen ihre Existenz nicht mehr sichern zu können – dies verständlicherweise, zumal sie nicht mit der sicheren Unterstützung vieler Schweizerinnen und Schweizer rechnen konnten. Die grosse Bedeutung des Bauernstandes zur Garantierung einer gesunden Ernährung war und ist leider heutzutage vielen zu wenig bewusst. Nach wie vor ist die Nachfrage nach billigen Nahrungsmitteln (d. h. mit chemischen Hilfsmitteln produziert) wesentlich grösser als diejenige nach biologisch produzierten Nahrungsmitteln. Zugleich schaffen auch Parlament und Exekutive mit ihrer bisherigen Subventionspolitik weiterhin wesentlich mehr Anreize zur Aufrechterhaltung der industriell produzierenden Landwirtschaft.
  Christian Hofer, Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft, unterstreicht deshalb die Notwendigkeit, einen ganzheitlichen Ansatz für die Landwirtschaft zu verfolgen. Er fordert, dass «von der Bäuerin bis zum Konsumenten alle gemeinsam Verantwortung für eine nachhaltige Ernährungspolitik übernehmen» müssen.21 Was er mit einem ganzheitlichen Ansatz konkret meint, erklärt Hofer mit folgenden Worten: «Die auf das Ernährungssystem zukommenden Herausforderungen wie beschränkte Ressourcen, Übernutzung der Ökosysteme, Food Waste, Gesundheitskosten infolge von Fehlernährung usw. sind komplex und miteinander verwoben. Sie können nur gelöst werden, wenn die einzelnen Sektoralpolitiken Landwirtschaft, Umwelt, Raumplanung, Gesundheit, Wirtschaft usw. zusammenarbeiten und kohärent aufeinander abgestimmt sind.»22
  Sehr viel Bedeutung misst der Direktor der Schweizer Landwirtschaft der Rolle der Konsumenten bei, die mit ihrem Kaufverhalten wesentlich bestimmen, was und wie produziert wird. Deshalb legen Biovision und andere engagierte Institutionen, die an vorderster Front versuchen, das Verständnis für die Prinzipien der Agrarökologie an die breite Öffentlichkeit weiterzugeben, besonderen Wert darauf, zunächst nach der äusserst emotional geführten Abstimmungskampagne zu den Agrarinitiativen den Dialog aller Beteiligten wieder zu ermöglichen und insbesondere junge Menschen anzusprechen. Ein solcher Dialog ist wichtig und vielversprechend. Denn, wer sollte sich schon dagegen aussprechen, den Hunger auf der Welt endlich besiegen, eine sichere Zukunftsperspektive für kommende Generationen sicherstellen sowie der Natur wirklich Sorge tragen zu wollen?
  Wie die Autoren des vorgestellten Buches deutlich zum Ausdruck bringen, ist die Transformation bzw. der Paradigmenwechsel zu einer natur- und menschengerechten Ernährung nur zu erwirken, wenn die Bevölkerung sich mit Überzeugung für diesen Weg entscheidet. Sobald Menschen verstehen, dass es sich bei der Agrarökologie um ein zutiefst ethisches Konzept der Landwirtschaft handelt, wird es nicht viel Überzeugungskunst brauchen, gemeinsam die erforderlichen Schritte dazu einzuleiten. Der Geist der Agrarökologie, der auf einer gleichwertigen Kooperation zwischen traditionellem, indigenem Wissen und der Wissenschaft sowie auf der Pflege demokratischer Beziehungen basiert und auf ein Resilienz förderndes Verhältnis zwischen Mensch und Natur angelegt ist, erinnert stark an Albert Schweitzers zeitlose Ethik der «Ehrfurcht vor dem Leben». •



1 Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services = Weltbiodiversitätsrat
2 Zukunftsstiftung Landwirtschaft (11.11.2020): IPBES-Bericht: Natur- und Artenschutz beugt Pandemie vor. Berlin, Link: https://www.weltagrarbericht.de/aktuelles/nachrichten/news/de/34156.html
3 siehe aber «Vom Nutzen der Viren und Schaden der Zoonosen» in Kultur und Politik 3/2020
4 Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ)/Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (2009): Synthesebericht – Weltagrarbericht. Internatinale Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD)
5 ebenda, S. 171;  https://www.weltagrarbericht.de/fileadmin/files/weltagrarbericht/IAASTDBerichte/IAASTDSyntheseDeutsch.pdf
6 In diesem Artikel wird das generische Maskulinum geschlechtsneutral verstanden und gilt somit für alle Menschen.
7 Brunner, J. (2010, 2.12.). Artenschwund gefährdet menschliche Gesundheit. Veränderung natürlicher Ökosysteme begünstigt Überleben von Krankheitsüberträgern. In: scinexx – das wissensmagazin.Link: https://www.scinexx.de/news/geowissen/artenschwund-gefaehrdet-menschliche-gesundheit/
8 Weitere Gründe sind in der Entwaldung und anderen Nutzungsänderungen zu suchen.
9 Haerlin, B. (2011, 9.12.). Genug statt mehr. Le Monde diplomatique
10 Herren, H. R. (2021, 8.1.). Transformation of Our Food Systems: The Need for a Paradigm Shift. Panel Discussion, Oxford Real Farming Conference.
11 Herren, H. R. & Haerlin, B. & IAASTD+10 Advisory Group (2020). Transformation of our food systems. The making of a paradigm shift. Zukunftsstiftung Landwirtschaft & Biovision, Berlin/Zürich
12 FAO = Nahrungsmittel- und Landwirtschaftsorganisation der Uno/UNCTAD = Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (kurz Welthandelsorganisation/CFS = Komitee für Welternährungssicherheit, HLPE = Hochrangiger Ausschuss von Experten zur Nahrungssicherheit und Ernährung)
13 Herren, H. R. & Haerlin, B. & IAASTD+10 Advisory Group (2020), S. 18f.
14 ebenda, S. 19
15 Sie sind oftmals die eigentliche treibende Kraft in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Ihre gesellschaftlich-kulturelle Gleichstellung gehörte bereits im Weltagrarbericht zu einem erklärten Ziel.
16 Mooney, Pat. in: Herren & Haerlin, 2020, vgl. S. 37ff.
17 ebenda, S. 39
18 Wise, Timothey A. (2020, Juli). Failing Africa’s Farmers: An Impact Assessment of the Alliance for a Green Revolution in Africa. Study report, Tufts University, Global Development and Environmental Institute, Working Paper No. 20-01
19 Eyhorn, Frank. Pressemitteilung am 24. September 2021, Medienmitteilungen Schweiz, Nationales Presseportal, 29. Oktober 2021, Link: https://www.presseportal-schweiz.ch/pressemeldungen/un-ernaehrungssystemgipfel-den-worten-der-schweiz-muessen-jetzt-taten-folgen
20 ebenda
21 Stellungnahme am Forum für KURSWECHSEL, organisiert von BIOVISION am 2. Dezember 2020, Link:  https://www.biovision.ch/berichtforumkurswechsel/
22 ebenda

Beat Kissling, Dr. phil., Erziehungswissenschaftler, Psychotherapeut (FSP), Dozent für Umweltethik ZHAW, Beirat des Bioforums Schweiz.
Petra Hodgson, Kunsthistorikerin, Dozentin am IUNR (Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen), ZHAW, Leiterin Forschungsgruppe Grün und Gesundheit.
Der Artikel erschien in seiner ersten Version in der Zeitschrift Kultur und Politik 2/2021. Beide Autoren haben den Text für Zeit-Fragen aktualisiert.
Kultur und Politik ist die Zeitschrift des Bioforums Schweiz. Es versteht sich als Forum für nachhaltigen Biolandbau.
Das Bioforum Schweiz ist aus der Tradition des Möschbergs hervorgegangen, der Geburtsstätte des biologisch-organischen Landbaus in der Schweiz, in Deutschland und Österreich. Es handelt sich um einen Verein, dem Bauern und Bäuerinnen und viele weitere am biologischen Landbau Interssierte aus allen Landesteilen angehören. Die Redaktion von Kultur und Politik ist bestrebt, das Erbe der Bio-PionierInnen zu reflektieren, weiterzuentwickeln und für die Gegenwart und Zukunft nutzbar zu machen.

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