Migration und Geopolitik: die belarussisch-polnische Grenzkrise

von Alfred de Zayas und Adriel Kasonta

Um sicherzustellen, dass diese Krise nicht zu einem gefährlichen Konflikt eskaliert, ist es von entscheidender Bedeutung, den Hype und das Getue zu durchschauen.

«Fake news» und «fake law» erschweren das Verständnis der hochgradig politisierten Migrantenkrise im Mittelmeer, auf dem Balkan und an der Grenze zwischen Polen und Belarus.
  Nachdem man Fakten von Propaganda getrennt und das Prisma der Anti-Lukaschenko-Hetze der Konzernmedien entfernt hat – die mehr damit zu tun hat, dass die Europäische Union die Legitimität der Präsidentschaftswahlen 2020 in Belarus in Frage stellt, als mit der Migrantenkrise vor Ort –, ist es von entscheidender Bedeutung, sachlich zu bleiben, sich auf das tatsächliche Problem an den Grenzen und die möglichen Folgen seines Missmanagements zu konzentrieren.

Was sind die Fakten?

Berichten zufolge haben seit Anfang 2021 mehr als 30 000 Migranten aus dem Irak, Afghanistan und Syrien versucht, die polnisch-belarussische Grenze zu überqueren. Nach Angaben der polnischen Behörden erreichte der Ansturm im August seinen Höhepunkt, als allein mehr als 15 000 Versuche unternommen wurden.
  Obwohl Minsk beschuldigt wird, Migranten durch das Angebot belarussischer Visa und die Organisation des Transports zur EU-Grenze anzulocken, und Warschau eine deutliche Sprache spricht, wurden bisher keine stichhaltigen Beweise zur Bestätigung dieser Anschuldigungen vorgelegt, während die Schwere der Vorwürfe die Vorlage solcher Beweise erfordern würde, bevor weitere Mass-nahmen ergriffen werden.
  «Dies ist eine politische Krise, die geschaffen wurde, um die EU zu destabilisieren», sagte der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki nach Gesprächen mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel am 10. November vor Reportern in Warschau. «Dies ist eine Manifestation des nationalen Terrorismus, eine Rache Lukaschenkos für unsere Unterstützung der demokratischen Wahlen in Belarus.»
  Was auch immer man von Präsident Alexander Lukaschenko und dem Zustand der Demokratie in Belarus unter seiner Herrschaft halten mag, die Autoren dieses Artikels finden es erstaunlich, dass Polen, das laut dem im letzten Jahr veröffentlichten Index von Freedom House von einer «konsolidierten Demokratie» zu einer «halbkonsolidierten Demokratie» herabgestuft und in diesem Jahr in einem Bericht von Varieties of Democracy (V-Dem) als das «am stärksten autokratisierende Land der Welt» bezeichnet wurde, es vorzieht, die Situation an seiner Grenze noch weiter zu verschlimmern, anstatt eine friedliche Lösung zu finden.

Sanktionen sind nicht der beste Weg

Trotz des anhaltenden Drucks des Westens in bezug auf den Ausgang der Wahlen 2020 und der neuen Sanktionen, die die EU gegen Belarus verhängt hat, weil es angeblich einen «hybriden Angriff» verübt hat, indem es Migranten aus dem Nahen Osten, Afghanistan und Afrika ermutigt hat, die Grenze nach Polen zu überqueren, scheint dies in Minsk niemanden zu bewegen.
  Tatsächlich ist es Lukaschenko seit seiner Wiederwahl im letzten Jahr gelungen, die Wirtschaft aus der Rezession zu retten und das Handelsvolumen des Landes erheblich zu steigern, vor allem dank der Exporte in die EU.
  Minsk ist der grösste Exporteur von Holz und Metallen in die EU, und die EU-Mitglieder sind sich nicht einig, wenn es um Beschränkungen für Kali- und Erdöleinfuhren aus Belarus geht.
  Auch die Unterbrechungen der Lieferketten und die Covid-19-Pandemie wirken sich positiv auf Belarus aus. Während erstere die Nachfrage nach belarussischen Produkten wie Möbeln und Maschinen steigerte, hat letztere, gefolgt vom lockeren Umgang des Landes mit Abriegelungen, zum Wachstum des Landes beigetragen, wie ein Bericht der Weltbank nahelegt. Darüber hinaus haben die im August vom Internationalen Währungsfonds bereitgestellten Mittel in Höhe von fast 1 Milliarde US-Dollar die Devisenreserven des Landes erhöht.
  Mit einem Wachstum der weltweiten Exporte von 36,1 % zwischen Januar und September und einem BIP-Wachstum von 5,8 % im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorjahr sowie einer sich vertiefenden wirtschaftlichen und politischen Integration mit Russland muss sich Lukaschenko, was die Wirtschaft betrifft, keine Sorgen machen.

Militärische Eskalation

Da die Migrationskrise an der belarussisch-polnischen Grenze anhält und die Spannungen auf Grund des massiven Militäreinsatzes vor Ort zunehmen, ist die Gefahr einer Fehleinschätzung der Situation deutlich gestiegen.
  Am 10. November entsandte Russland auf Ersuchen Lukaschenkos zwei strategische Bomber des Typs Tupolew Tu-22M3, um Belarus bei der Bewältigung der Situation an der Grenze zu unterstützen. Darüber hinaus führten zwei russische Tu-160-Bomber mit strategischen Raketen in Begleitung belarussischer Su-30SM-Kampfflugzeuge eine gemeinsame Luftpatrouille «zur Gewährleistung der militärischen Sicherheit des Unionsstaates [Russland-Belarus]» durch, teilte das russische Verteidigungsministerium am vergangenen Donnerstag mit.
  Darüber hinaus habe Minsk die Notwendigkeit bekundet, von Moskau nuklearfähige Iskander-Systeme zu erhalten, um sie im Süden und Westen des Landes einzusetzen, sagte Lukaschenko in einem Interview mit der russischen Zeitschrift National Defense.
  Litauen, Estland und Lettland haben sich besorgt über die Krise an der Grenze zu Belarus geäussert und in einer gemeinsamen Erklärung der Verteidigungsministerien der Länder erklärt, dass die derzeitige Situation «die Möglichkeit von Provokationen und schweren Zwischenfällen erhöht, die auch auf den militärischen Bereich übergreifen könnten».
  Während Polen, Litauen und Lettland die Auslösung des Nato-Artikels 4 in Erwägung ziehen, Lettland bereits 3000 Soldaten vor Ort stationiert hat und die Ukraine plant, wegen der Krise an der Grenze zu Belarus 8500 zusätzliche Soldaten und Polizisten zu entsenden, ist es erwähnenswert, dass General Nick Carter, Chef des britischen Verteidigungsstabs, uns an das grössere Risiko eines zufälligen Kriegsausbruchs zwischen dem Westen und Russland erinnert.
  «Ich denke, wir müssen aufpassen, dass die kriegerische Natur einiger unserer Politiker nicht dazu führt, dass die Eskalation zu einer Fehlkalkulation führt», sagte Carter in einem Interview mit Times Radio am Sonntag.

Verwechseln Sie Migranten nicht mit Flüchtlingen

Um die richtige Entscheidung treffen zu können, müssen wir sichere Erkenntnise haben – etwas, das die Konzernmedien vorsätzlich sabotieren. So ist es beispielsweise wichtig, sich daran zu erinnern, dass Migranten nicht zwangsläufig Flüchtlinge sind und dass die rechtlichen Regelungen für Flüchtlinge nicht auf Migranten übertragen werden können.
  Einerseits gewährt die Genfer Flüchtlingskonvention Personen, die eine begründete Furcht vor Verfolgung haben, den Flüchtlingsstatus. Diese Konvention wurde jedoch nicht zur Erleichterung der Massenmigration verfasst und sollte nicht für diesen Zweck instrumentalisiert werden, was eine Auslegung des Textes wider Treu und Glauben und der Absicht der Verfassenden bedeuten würde.
  Andererseits muss eingeräumt werden, dass es keinen internationalen Vertrag gibt, der die Migration zu einem Menschenrecht erklärt oder den Staaten die Verpflichtung auferlegt, Migranten aufzunehmen. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte schweigt zur Frage der Migration.
  Der einzige Vertrag, der sich auf Migranten bezieht, ist die Konvention über die Rechte der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, die nicht die Migration an sich regelt, sondern nur die Bedingungen der Migranten, sobald sie einen legalen Aufenthalt im Aufnahmeland erhalten haben. Nur 56 Staaten haben diese Konvention ratifiziert –weder Belarus noch Polen, noch Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Spanien usw.
  Die Konzernmedien sagen uns das nicht, aber das internationale Recht ist in bezug auf das Konzept der staatlichen Souveränität im Bereich der Migration absolut eindeutig. Die Einreise von Ausländern in ein Land fällt ausschliesslich in die innerstaatliche Zuständigkeit eines jeden Staates. Sie ist sogar Teil des Wesens der Souveränität.
  Ein Staat kann natürlich seine Grenzen für die Migration öffnen, aber nichts im internationalen Recht verpflichtet ihn dazu.
  In Anbetracht der möglichen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Migration sollte kein demokratisches Land seine Grenzen einfach öffnen, ohne zuvor die ansässige Bevölkerung zu konsultieren.
  Wir dürfen nicht vergessen, dass Wesen und Zweck eines Staates die Verpflichtung mit sich bringen, das Wohlergehen seiner Bürger zu verteidigen, und dies kann unter Umständen die Schliessung von Grenzen erfordern, zum Beispiel aus gesundheitlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Gründen. An erster Stelle stehen das Wohlergehen und der soziale Zusammenhalt der Bevölkerung eines jeden Staates.

Der Weg nach vorn

Angesichts der Tatsache, dass laut Fabrice Leggeri, dem Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, der Zustrom von Migranten aus dem Nahen Osten über Belarus zunehmen wird und «wir bereit sein müssen, […] uns dieser Situation für eine lange Zeit zu stellen», sind die Autoren dieses Artikels der Meinung, dass von allen Seiten erhebliche Anstrengungen unternommen werden müssen, um diese Krise schnell zu beenden und einen militärischen Konflikt zu vermeiden, der nicht nur für Europa, sondern für die gesamte internationale Gemeinschaft katastrophal wäre.
  In der Hoffnung, dass sich ein kühler Verstand durchsetzt, halten wir die Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) vom Oktober 2021 für sinnvoll, dass die Regierungen von Belarus, Lettland, Litauen und Polen ihre Anstrengungen bündeln, um den Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, medizinischer Versorgung und vorübergehenden Unterkünften für die im Grenzgebiet zwischen ihren Ländern eingeschlossenen Menschen zu gewährleisten.
  In Anbetracht der Tatsache, dass die «europäischen Werte» die jüdisch-christliche Philosophie der menschlichen Brüderlichkeit und die Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen, umfassen, muss eine kurzfristige Lösung gefunden werden, die die geopolitischen Erwägungen der grossen wie der kleinen Länder überwindet.
  Darüber hinaus unterstützen die Autoren die Idee des Vorsitzenden des Ad-hoc-Ausschusses für Migration der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Kristian Vigenin, dass es «angesichts der Herausforderungen durch die irreguläre Migration wichtig ist, eine koordinierte politische Antwort mit allen Ländern entlang des Migrationspfads zu entwickeln, um weitere unerlaubte Einreisen zu verhindern» – etwas, das einen direkten Dialog mit Lukaschenko umfassen muss, ganz gleich, was wir über den derzeitigen Kurs des Landes denken mögen, da dieser nichts mit dem Problem zu tun hat, welches wir lösen wollen.
  Wir begrüssen es sehr, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beschlossen hat, die politischen Differenzen mit dem belarussischen Staatschef beiseite zu legen und den Dialog dem Konflikt vorzuziehen.
  Am allerwichtigsten ist es, dass wir uns mit den Ursachen der Migration befassen und versuchen, dauerhafte Lösungen zu finden. Dazu gehören auch präventive Strategien, wie die Unterstützung beim Wiederaufbau der Infrastrukturen in Afghanistan, im Irak, in Syrien und Libyen, die in von anderen Staaten geführten Stellvertreterkriegen zerstört wurden.
  Der Logik von Andrew Bacevich folgend, sind die Autoren der Meinung, dass alle an der Zerstörung des Nahen Ostens beteiligten Parteien «die Verantwortung für die Folgen übernehmen sollten, die sich aus [dieser] fehlgeleiteten Handlung ergeben», und zugeben sollten, dass dabei grobe Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen wurden, die zu einem «Push-Faktor» führten, der zu unkontrollierten Migrationsströmen führte.
  Prävention heisst Wiederaufbau, damit die Bevölkerung der Opferländer eine Zukunft hat und in ihrer Heimat bleiben kann, wo sie zweifellos lieber in einer vertrauten Umgebung leben würde, als in den Westen zu wandern, wo sie ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder für eine ungewisse Zukunft riskiert. •


Quelle: https://asiatimes.com/2021/11/migration-and-geopolitics-the-belarus-poland-border-crisis/ vom 17.11.2021

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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