«Hasenohr – Hasenohr, einmal rum und dann durchs Tor»

Schonung schadet – warum Kinder Herausforderungen brauchen

von Dr. Eliane Perret, Psychologin und Heilpädagogin

In der Garderobe neben einem Klassenzimmer stehen die Schuhe der Kinder. Schön eingeordnet, wie das offensichtlich verlangt wird. Interessant, denke ich, alle Schuhe haben Klettverschlüsse, oder man kann hineinschlüpfen, ohne einen Verschluss zu öffnen. Ein einzelnes Paar hat Schnürsenkel, aber auch die muten eher als Zierde an; mindestens scheinen sie nicht geöffnet zu werden, die Ferse ist hinuntergequetscht. Aha, offensichtlich ist es nicht mehr üblich, Schuhe zum Binden zu kaufen, die etwas mühsamer anzuziehen sind und vom Kind verlangen, dass es sich die dafür erforderliche Technik aneignet. Warum wohl? 
  Von seinen feinmotorischen Fähigkeiten her wäre ein Kind mit etwa vier Jahren in der Lage, seine Schuhe selber zu binden. Viele nehmen dazu ein Sprüchlein zu Hilfe: «Hasenohr – Hasenohr, einmal rum und dann durchs Tor.» Wer diese Methode noch nicht kennt, sollte sie einmal ausprobieren, sie funktioniert erstaunlich gut! 

Alles überflüssiger Ballast? 

Aber sollen Kinder solche Dinge überhaupt noch lernen? Ist es nicht alles überflüssiger Ballast? Fertigkeiten, die man im gegebenen Fall mit einen YouTube-Tutorial lernen kann? Vermutlich auch nicht in den Kompetenzen neuer Lehrpläne aufgeführt? Nun, mir scheint es lohnenswert, darüber nachzudenken, denn die obenstehende Beobachtung ist kein Einzelfall und steht stellvertretend für viele andere. Vielen Kinder fehlt es heute an grundlegenden Fertigkeiten, die sie zu einer eigenständigen Lebensbewältigung brauchen würden. In den letzten Jahren wurde dies glücklicherweise zunehmend als Folgen eines ungünstigen Erziehungstrends erkannt.

Was sagt die Wissenschaft dazu?

Wenn es um die Ursachen solcher Phänomene geht, müssen wir bei den personalen Humanwissenschaften, speziell der Pädagogik und Psychologie nachfragen. Einer ihrer Forschungsbereiche befasst sich seit längerem mit der Auswirkung von unterschiedlichen Erziehungsstilen auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes. Von den Forschern wurde zwischen typologischen oder dimensionierten Konzepten unterschieden. Als Vertreter typologischer Konzepte waren der deutsch-amerikanische Psychologe Kurt Lewin und die amerikanische Forscherin Diana Baumrind kategorisiert; sie unterschieden zwischen einem autoritären, autoritativen und permissiven Erziehungsstil. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts kritisierte man diese Konzepte als unzureichend, weil sie lediglich Verhaltensweisen, nicht aber in Skalen erfassbare Dimensionen und deren Wechselwirkungen einbeziehen würden. Diesen Ansatz griffen die deutschen Psychologen Annemarie und Robert Tausch auf und unterschieden zwischen einer Lenkungsdimension, die Kontrolle und Autorität beschrieb, und einer emotionalen Dimension, mit der Wärme, Zuneigung und Wertschätzung erfasst wurden. So ergänzten sie die bisherigen Kategorien um vier weitere elterliche Erziehungsstile und unterschieden einen autokratischen, autoritären, demokratischen, egalitären, permissiven, Laissez-faire- und einen negierenden Stil; diese sind natürlich nie in reiner Form anzutreffen.   

Die Kinder sollen es besser haben 

Und welcher Erziehungsstil bestimmt heute das erzieherische Umfeld? Bei solchen Fragen müssen gesellschaftliche Entwicklungen und zeitgeistige Trends einbezogen werden. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, das gezeichnet war von Weltkriegen und wirtschaftlicher Unsicherheit, herrschte in Europa das autoritäre Erziehungsprinzip vor. Die Menschen waren mit der Sicherung der Lebensexistenz und dem Wiederaufbau beschäftigt. Es blieb wenig Raum, erzieherische Fragen zu wälzen, und man versuchte, die heranwachsende Generation mit Strenge, Demütigung und Härte auf den richtigen Weg zu zwingen. In den sechziger Jahren war in breiten Bevölkerungsschichten ein gewisser materieller Wohlstand vorhanden und ein verwöhnender (permissiver) Erziehungsstil wurde seither mehr und mehr üblich. Die Kinder sollten es besser haben. Nicht nur materiell, sondern auch sonst wollte man sie – in bester Absicht – von den Erschwernissen des Lebens fernhalten. 
  Bereits einige Jahrzehnte früher, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte Alfred Adler, der Wiener Arzt und Psychologe und Begründer der Individualpsychologie, den Finger auf die Bedeutung der Erziehung gelegt und sich auch dadurch von Sigmund Freud abgegrenzt, welcher die Persönlichkeitswerdung mit der Trieblehre begründete. Adler widmete seine Aufmerksamkeit den Erziehungsfragen und machte sich durch entsprechende Aus- und Weiterbildung von Eltern, Lehrpersonen und Ärzten verdient. Als er in den dreissiger Jahren mehrheitlich in den USA weilte, war in seinen Fallbeispielen nur noch vom verzärtelnden Erziehungsstil die Rede. Offenbar war Adler in Amerika anderen Formen der Erziehung begegnet, als sie damals in Europa üblich waren. Heute hat sich dafür der Begriff Verwöhnung durchgesetzt.

Auf der nützlichen Seite des Lebens bleiben

Adler ging bei seinen Überlegungen über einen kindgerechten Erziehungsstil von der anthropologischen Tatsache aus, dass ein Kind in seiner ersten Lebenszeit von der pflegenden Zuwendung seiner Bezugspersonen abhängig ist, sonst würde es nicht überleben. Gehen sie angemessen auf die körperlichen und gefühlsmässigen Bedürfnisse des Kindes ein, so fasst es zunehmend Vertrauen, entsprechend seinem körperlichen Entwicklungsstand aus dieser Abhängigkeit herauszuwachsen und selbständig am Leben teilzunehmen. Eingebettet in eine Vertrauensbeziehung sollten seine Bezugspersonen diesen Lern- und Entwicklungsprozess ermutigend begleiten und an den Schwierigkeiten und Erfolgen unterstützend Anteil nehmen. Wichtig ist es, dass im emotionalen Austausch ein gleichmässiges Geben und Nehmen entsteht und erhalten bleibt. Das bedeutet, das Kind ernst zu nehmen, nicht herabzusetzen, so dass es den Mut zu stetem Weiterlernen entwickelt und seine Aktivität auf die gemeinschaftsbejahende, nützliche Seite des Lebens verlegt. Fehlentwicklungen ordnete Adler vor diesem Hintergrund ein.

Es schneit – und nun?

In den letzten Wochen waren unsere Dörfer und Städte zeitweise tief im Schnee versunken. Eine Kindergartenklasse zog an unserem Haus vorbei. Sie hatte den Vormittag am nahen Schlittelhügel verbracht. Man sah den Kindern das Vergnügen und die Anstrengung an. Wie oft hatten sie den Schlitten wohl den Berg hochgezogen, bevor sie wieder hinuntersausten? Vor dem Kindergarten warteten einige Mütter und Väter. Es ging spannend weiter. Ein Bub legte stillschweigend der Mutter die Zugleine des Schlittens in die Hand. Nebeneinander machten sie sich auf den Heimweg. Die Mutter zog den Schlitten, er stapfte munter links und rechts des Weges durch den Schnee. Ein anderer grüsste knapp seinen Vater, setzte sich auf seinen Schlitten und wurde nach Hause gezogen. Bald zottelte ein Mädchen an mir vorbei. Sie war offensichtlich müde. «Und, war’s schön?», fragte ich sie. Sie strahlte und blieb einen Moment stehen: «Ja, ich bin zwanzig mal hinunter gefahren und dreimal umgekippt und jetzt habe ich Hunger!» Drei Kinder, drei Varianten, das Leben anzupacken!

Vor Enttäuschungen bewahren 

In vielen Familien ist heute der Erziehungsalltag so eingerichtet, dass die Kinder möglichst wenig (wärmespendende!) Reibung erfahren. Sie sind umgeben von einer Schutzmauer, so dass das echte Leben nur beschränkt zu ihnen vordringen kann. Dabei würde es in und ausserhalb von Elternhaus und Schule viele Lerngelegenheiten bereithalten. Oft werden faule Kompromisse eingegangen, um den erwarteten unangenehmen Reaktionen zuvorzukommen. So erhält das Kind eine irrige Vorstellung vom Zusammenleben, und es wird Mühe haben, sich in der grösseren Gemeinschaft des Kindergartens und der Schule einzuleben und zurechtzufinden. 
  Auch in der Familie entwickelt es sich nicht zu einem zuverlässigen Mitspieler, der einen altersgemässen Beitrag im Zusammenleben beisteuert. Im Gegenteil wird es dazu verleitet, Anforderungen aus dem Weg zu gehen und sich in der Beziehung mit früher eingeübten Verhaltensweisen einzugeben und sich so die Zuwendung zu sichern. 
  Diese elterliche Flucht in die Überbehütung macht es den Kindern schwer, Konflikte und Enttäuschungen als Teil des Lebensalltags zu akzeptieren. Sie vermeiden es, Verantwortung zu übernehmen, sind dafür in der Hauptrolle des «Ich nicht – er auch»-Spiels bestens bewandert. Sie haben wenig Frustrationstoleranz und werden Weltmeister darin, anstrengendere Aufgaben vor sich her zu schieben. Eine solche Strategie bringt aber keine Lebenszufriedenheit mit sich. Deshalb ist es von Vorteil, wenn ein Kind früh mit dem Prinzip LJAM vertraut wird – lieber jetzt als morgen!

Der Weg führt in eine andere Richtung

Ein verwöhnender Erziehungsstil enthält deshalb dem Kind wichtige Lerngelegenheiten vor, denn das Leben gestaltet sich nicht wie an einer Playstation. Es gibt Herausforderungen, denen man sich stellen muss. Man muss sich überwinden, etwas zu tun oder eben gerade nicht zu tun. Es gibt Wartezeiten, die man sinnvoll ausfüllen muss. Manchmal auch Enttäuschungen und Niederlagen, die zu einer Chance werden können. Manchmal gibt es Streit, man muss etwas aushandeln; das kann anstrengend wirken, weil man von eigenen Vorstellungen Abstand nehmen muss. Man findet es mühsam, und trotzdem, oder gerade deshalb lohnt es sich. Fehlt das im Leben eines Kindes, macht es zu selten die Erfahrung, dass es schwierige Situationen aus eigener Kraft bewältigen kann und dabei die Genugtuung erfährt, wozu es fähig ist. Erziehende jedoch, die ihren Kindern diese Erlebnisse ermöglichen, auch hinstehen und soziale Normen einfordern, legen den Grundstein zu Schul- und Lebenserfolg. 

Nicht nur ein pädagogisches Problem

Verwöhnte Kinder und Jugendliche wachsen zu verwöhnten Erwachsenen heran. Sie bringen dann ihre als Kinder erworbenen Haltungen in die Arbeitswelt ein. Mittlerweile beklagen Handwerksmeister und Firmenchefs das Anspruchsdenken eines Teils ihrer Mitarbeitenden, deren ständiges Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung, aber auch die geringe Bereitschaft, weniger attraktive Arbeiten zuverlässig und vollständig zu erledigen. Sie beobachten mangelnde Eigeninitiative und den fehlenden Impuls, sich über das Pflichtsoll hinaus anzustrengen, genauso wie den Mangel an Teamfähigkeit und konstruktiver Konfliktbereitschaft und monieren nicht zuletzt auch eine oft unsorgfältige Sprache. Dies nicht nur bei der Generation Z oder «Schneeflocke», wie die nach 1995 Geborenen mancherorts bezeichnet werden. Auch auf Führungsetagen sind verwöhnte Lebensgewohnheiten und Anspruchshaltungen zum Problem geworden. 

Die eigenen Fähigkeiten erproben können

Es ist das Herzensanliegen der allermeisten Eltern, ihren Kindern optimale Startchancen für ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Mit einem verwöhnenden Erziehungsstil stehen sie aber sich und dem Kind im Wege. Und nun? Ursachenforschung muss stets alle Akteure einbeziehen. Deshalb stehen nicht nur das Kind, sondern auch seine Eltern im Fokus. Die «Erziehung der Erziehenden» gehört seit langem zu den Grundpfeilern von Pädagogik und Psychologie. Dabei geht es nie um Schuldzuweisung, sondern um ein differenziertes Erfassen ungünstiger oder auch günstiger Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes, damit sie allenfalls verändert werden können und einen Ausweg aus einer verfahrenen Situation eröffnen. Mit ihrem Weg, wie sie ihre Lebensfragen angehen, wie sie ihre Beziehungen und ihre unterschiedlichen Lebensbereiche gestalten, sind die Eltern den Kindern Vorbild und Modell. Aus dieser Grundsubstanz entwickeln sie wiederum ihre ganz individuelle Art, im Leben zu stehen. Soll der Weg konstruktiv sein, brauchen sie Aufgaben, echte Aufgaben, an denen sie ihre Fähigkeiten erproben und entwickeln können. Diese Verantwortung können Eltern nicht delegieren. Kinder brauchen für ihre Entwicklung Herausforderungen, worin man unschwer das Wort Forderung erkennt. 

Auch in Krisenzeiten

Es gibt sie aber, die Jugendlichen, die sich gerne engagieren, denen übertriebene Sorge und Nachgiebigkeit lästig ist und die auch kein Zimmer ohne Gegenleistung im «Hotel Mama und Papa» gebucht haben. Wer erinnert sich nicht gerne an das Engagement von Jugendlichen in der ersten Welle der Covid-19-Erkrankung! Viele von ihnen boten ihren älteren Nachbarn unaufgefordert Hilfe an und übernahmen beispielsweise das Einkaufen und Gartenarbeiten, machten Botengänge mit dem Fahrrad oder Skateboard und nutzten die digitalen Medien zum Plaudern oder sogar zum Vorlesen einer Geschichte. Sie meldeten sich freiwillig für Hilfsdienste in Spitälern und liessen sich nicht bejammern, wie es seit einiger Zeit die Medien tun, denn sie hatten einen anderen Lebensinhalt als Partys und Trinkgelage. Sie fanden auch Wege, ihre sozialen Kontakte mit den Gleichaltrigen aufrechtzuerhalten und gar zu vertiefen, ohne sich und andere zu gefährden. Sie hatten einen Weg ins Leben gefunden, der ihnen auch in Krisenzeiten Halt, Orientierung und innere Zufriedenheit gab – Verwöhnung steht dem im Wege. •


Folgende Quellen waren mir beim Schreiben dieses Artikels hilfreich:
Kaiser, Annemarie. Das Gemeinschaftsgefühl – Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Zürich 1981, Verlag Menschenkenntnis
Müller, Andreas. Schonen schadet. Wie wir heute unsere Kinder verziehen. Bern 2018. ISBN 978-3-0355-1088-1
Berner, Winfried. Verwöhnung: Der Kraftakt, verwöhnte Kulturen zu verändern; https://www.umsetzungsberatung.de/psychologie/verwoehnung.php. Abgerufen am 1.2.2021
 

Die achtjährige Yuna hat ein Herz aus Gold

Yuna ist acht Jahre alt, stammt aus Südkorea und lebt in der Schweiz. Sie weiss, dass sie im Leben bisher viel Glück gehabt hat. Zu ihrem achten Geburtstag hatte sie eine besondere Idee. Sie bat ihren Vater, das IKRK zu kontaktieren. Anstatt sich Geschenke von ihren Freunden zu wünschen, wollte sie lieber Geld sammeln, um denjenigen zu helfen, die weniger Glück im Leben haben als sie selbst. Sie dekorierte eine Schachtel mit Bildern, welche die Arbeit des IKRK zeigen, und erklärte ihren Freunden, warum sie unsere Organisation unterstützen will. Yuna möchte so den Menschen ein wenig Freude schenken, die nichts haben, denn es ist ihr bewusst, dass nicht alle die Möglichkeit haben, eine Feier zu ihrem Geburtstag zu organisieren. Ausserdem möchte sie, dass die Menschen sich mehr Gedanken um andere machen. Yuna konnte den Mitarbeitenden des IKRK ihre gefüllte Spendenbox bei einem persönlichen Treffen überreichen; seither ist sie noch motivierter, das IKRK weiter zu unterstützen. 
  Wir danken Yuna, ihren Freunden und ihrer Familie von Herzen für ihre Unterstützung. Grosszügigkeit kennt kein Alter.

Quelle: Das internationale Komitee vom Roten Kreuz.
In Aktion, Dezember 2020, Nr. 08, Seite 4

 

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