«Wahrung der Menschlichkeit in schwieriger Zeit»

Zur DOK-Sendung «Die Buchenwaldkinder» des Schweizer Fernsehens zum Historiendrama «Frieden»

von Diana und Winfried Pogorzelski

In der DOK-Sendung des Schweizer Fernsehens SRF «Die Buchenwaldkinder» von Hansjörg Zumstein1 wird ein Zerrbild der Schweiz und ihrer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs und danach gezeichnet, das so nicht der Realität entspricht. Es wird der Anschein erweckt, das humanitäre Engagement der Eidgenossenschaft sei unzureichend und vor allem aus politischem Kalkül erfolgt und nicht aus Gründen der Menschlichkeit. Die Aussage der Dokumentation zum prestigeträchtigen sechsteiligen SRF-Historiendrama «Frieden»2 fusst vor allem auf dem Bericht der sogenannten Unabhängigen Expertenkommission Schweiz Zweiter Weltkrieg, die unter der Leitung des Sozial- und Wirtschaftshistorikers Jean-François Bergier massive Kritik am Verhalten bzw. an der Politik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg übte. Was von der Schweiz unter schwersten Bedingungen an humanitären Bemühungen geleistet wurde, bleibt weitgehend unberücksichtigt. Zudem werden Forschungsergebnisse der Zeit nach dem Bergier-Bericht3 ignoriert, so dass ein einseitiges und falsches Bild der Schweizer Flüchtlingspolitik entsteht.

Vorwürfe an die Adresse der Schweiz

Die diversen Vorwürfe gegenüber der Schweiz, die in der Dokumentation geäussert werden, lassen sich wie folgt zusammenfassen. Petra Volpe, Drehbuchautorin, Regisseurin und tragende Figur des ganzen Filmprojekts, hat nicht nur neun Jahre den Stoff recherchiert, der ihr ein besonderes Anliegen ist, sondern auch das Drehbuch geschrieben. Sie spricht von einem tiefen Antisemitismus – zumindest in einem Teil der Schweizer Bevölkerung –, der quasi als normal gegolten und gewissermassen dazugehört habe. Mit ihrem Filmprojekt verfolge sie das Ziel, am überkommenen – in ihren Augen wohl zu positiven – Bild von der Schweizer Politik zu rütteln, das ihrer Ansicht nach noch existiert: Es gehe ihr darum, sich «nicht der Hässlichkeit zu verschliessen», damals wie heute und nicht nur in bezug auf die Schweiz.
  Die Historikerin Madeleine Lerf kritisiert, das humanitäre Engagement der Schweiz sei vor allem aus politischem Kalkül erfolgt: Man habe verhindern wollen, von der UNRRA – dem Hilfswerk der Siegermächte – dadurch düpiert zu werden, dass allein sie sich der Hilfe für Kinder und Jugendliche aus Konzentrationslagern annehme. 
  Die Historikerin Tiphaine Robert, Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte, spricht von einer «extrem restriktiven» Flüchtlingspolitik der Schweiz, speziell gegenüber Juden. Nicht nur habe der Bundesrat den «J-Stempel» in den Pässen der Flüchtlinge akzeptiert, sondern auch mit dem Schlagwort «Das Boot ist voll» angeordnet, zivile Flüchtlinge, also solche, die nicht aus politischen Gründen um Schutz ersuchen, sondern weil sie aus rassistischen Motiven verfolgt werden, an der Grenze zurückzuweisen. Man habe gewusst, dass sie bei ihrer Rückkehr sicher getötet würden.
  Auch ein ehemaliges Mitglied der Bergier-Kommission, der französische Historiker Marc Perrenoud, kommt zu Wort. Einerseits habe die Schweiz die humanitäre Geste gezeigt, Flüchtlinge aus den Konzentrationslagern aufzunehmen, andererseits habe es politische Überlegungen gegeben, die diese schmälerten. So sei die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, gerade dann zurückgegangen, als 1942 mit der systematischen Vernichtung der Juden begonnen worden sei. Der kleinen Gruppe der Geretteten stünden Scharen von Ermordeten gegenüber. Perrenoud räumt zwar ein, dass alle demokratischen Staaten die Meinung vertraten, sie hätten keinen Platz, insbesondere seit der Konferenz von Evian 1938. Der Bundesratsdelegierte für Flüchtlingshilfe habe vorgeschlagen, Flüchtlinge aufzunehmen, um das «internationale Bild» der Schweiz zu verbessern; zudem müsse man dafür sorgen, dass man sie auch wieder «loswerde», auch hier also der Vorwurf des politischen Kalküls.

Extreme Bedingungen, verantwortungsvolle Aufgaben

Der Direktor des Schweizerischen Roten KreuzesMarkus Mader ist der einzige Experte, der in der Dokumentation auf das Dilemma verweist, in dem sich das Land die ganze Zeit befand. Man habe die Flüchtlinge nicht besser behandeln können als die eigene Bevölkerung, die zu wenig zu essen hatte. Er spielt damit auf eine Szene des Spielfilms an, in der die Buchenwaldkinder auf dem Zugerberg nach mehr Verpflegung und Zahnpasta fragen. Auch die Schweizer Bevölkerung der Kriegsjahre – besonders in der Innerschweiz – war sehr arm, litt Hunger, hatte weder genug Kleider noch Seife, so Markus Mader. Man habe also jeweils sehen müssen, was in der konkreten Situation überhaupt realisierbar war.
  Situation und Aufgabe waren aussergewöhnlich: Es ging um nicht weniger als um die Aufnahme und Betreuung jüdischer Jugendlicher, die die Tortur in den Konzentrationslagern überlebt hatten, eine Herkulesaufgabe. Natürlich verlief nicht alles reibungslos, was Charlotte Weber, die Hauptverantwortliche für die Jugendlichen auf dem Zugerberg, darlegt: So hatte beispielweise das Rote Kreuz aus finanziellen Gründen nicht geplant, die Ankömmlinge zu unterrichten. Mittels Bittbriefen organisierten die Betreuer selbst Schulmaterial und vermittelten am Ende der Aufenthaltsdauer Lehrstellen. Es war eine grosse Herausforderung der noch nie dagewesenen Art, so Charlotte Weber, traumatisierte Jugendliche, die dem Tod entronnen waren, zu betreuen und sie nach dem Grauen wieder ins normale Leben zurückzuführen.

Verschwiegene Fakten ergeben ein anderes Bild

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Schweizer Bevölkerung in ihrer Mehrheit eine tiefe Abscheu gegenüber dem Nazi-Regime empfand und auch mehrheitlich nicht antisemitisch eingestellt war.4 Dies ist auch durch die Tatsache belegt, dass General Guisan, der das Militär und die Bevölkerung auf den Widerstand im Falle einer Besetzung vorbereitete, bei der Bevölkerung grosse Sympathie, ja, Verehrung genoss. Bereits nach 1933 und vor Kriegsbeginn gelangten Zehntausende Flüchtlinge in die Schweiz, deren genaue Zahl nicht bekannt ist, da noch keine Visums-Pflicht bestand.5 Viele stellten sich auch gegen Einreisebeschränkungen für Flüchtlinge. So dachten die Schweizer bis 1938 nie daran, «irgendeiner Person aus dem Nachbarland die Einreise zu verweigern; Einschränkungen gab es nur hinsichtlich des Rechts, in der Schweiz ständigen Wohnsitz zu nehmen. […] Wir wissen, dass im Jahre 1933 etwa 10 000 deutsche Juden registriert wurden. […] Schätzungsweise hielten sich in den Jahren 1935 bis 1939 immer etwa 12 000 jüdische Flüchtlinge im Land auf. Es scheint, dass zwischen einem Zehntel und einem Sechstel der aus Deutschland fliehenden Juden die Schweiz als Durchgangsland benutzten.»6 Ab 1938 schwoll der Strom der jüdischen Flüchtlinge an, und die Schweizer Behörden waren überzeugt, diesen Flüchtlingsstrom als kleines Land nicht bewältigen zu können.7 Die Schweiz anerbot sich deshalb an der Flüchtlingskonferenz von Evian – Grossbritannien, Frankreich und die USA waren unter anderen die Teilnehmer –, als Ausgangspunkt für den Exodus zu dienen. Die an der Konferenz vertretenen Länder – mit Ausnahme der Dominikanischen Republik – erklärten sich jedoch nicht bereit, mehr jüdische Flüchtlinge aufzunehmen.
  Zu reden gibt immer wieder – auch in der TV-Dokumentation – die Frage des sogenannten «J-Stempels», mit dem die Pässe deutscher jüdischer Einwanderer versehen wurden. Es ist einmal mehr darauf hinzuweisen, dass die Initiative hierzu von Deutschland und nicht von der Schweiz ausging8 und zudem die Realisierung dieses Verfahrens sich erübrigt hätte, «hätten die Teilnehmer der Evian-Konferenz sich wirklich bemüht, Programme zur Organisierung des Flüchtlingsstromes zu Nachbarstaaten wie der Schweiz ordentlich auszuarbeiten […]».9
  Als die deutsche Regierung 1942 begann, die in Frankreich lebenden Juden zu deportieren, versuchten die Schweizer Behörden die Westgrenze zu schliessen, ernteten aber heftige Kritik, unter anderem von dem Historiker Edgar Bonjour, dem Theologen Karl Barth und vielen anderen Persönlichkeiten sowie von kirchlichen, liberalen und sozialistischen Kreisen.10 Daraufhin zeigte sich der Bundesrat bereit, den Wegweisungsbeschluss etwas flexibler zu gestalten, das hiess konkret in Notfällen die Einreise zu gestatten. Da weiterhin viele Flüchtlinge ins Land kamen, nahmen es die damit befassten Stellen an der Grenze mit dem Bundesratsbeschluss offensichtlich nicht so genau.
  Die Bermuda-Konferenz 1943 – Teilnehmer des Treffens in Hamilton (Bermuda) waren nur die USA und Grossbritannien – verlief hinsichtlich der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge ergebnislos. Auch waren die Alliierten nicht bereit, die Bahnlinien in die Konzentrationslager zu bombardieren, was ohne weiteres möglich gewesen wäre und viele Menschenleben gerettet hätte.11
Abschliessend kann man auf die Aussagen David Wymanns verweisen, dass abgesehen von Palästina «die Schweiz, gemessen an ihrer Fläche, der Staat war, welcher Ende des Krieges mit 21 304 jüdischen Flüchtlingen von allen Ländern die meisten Juden aufgenommen hat».12 Proportional zur Gesamtbevölkerung hat die Schweiz fünfmal mehr Flüchtlinge als die USA aufgenommen.13 Hinzuzufügen ist ausserdem, dass die Schweiz auch in der Kinderhilfe Ausserordentliches leistete: So beherbergte sie während des Krieges über 60 000 französische Kinder und nahm nach dem Krieg bis 1949 mehr als 80 000 Kinder aus mehreren europäischen Ländern auf.14
  Die schweren Vorwürfe an die Schweiz sind nicht haltbar, wenngleich festzuhalten ist: «Die schweizerische Regierung hat nicht alles ihr Mögliche getan, um Juden zu retten; das steht ausser Frage. Aber dies rechtfertigt in keiner Weise die Behauptung, die schweizerischen Behörden hätten durch ihre Flüchtlingspolitik dazu beigetragen, dass ‹die Nationalsozialisten ihre Ziele erreichen konnten›. Zutreffender wäre die Feststellung, dass die Schweiz die Vorteile ihrer Neutralität nutzte und rund 27 000 jüdischen Flüchtlingen und weiteren 20 000 Juden mit schweizerischer Nationalität oder Niederlassungsrecht während des ganzen Krieges Zuflucht und Sicherheit in der Schweiz gewährte.»15 Ähnlich äussert sich der Historiker Edgar Bonjour: «Die Schweiz, unter ungleich stärkerem aussenpolitischen Druck der Achse und dem innenpolitischen Druck der Nahrungsknappheit und Arbeitslosigkeit stehend, hat mehr aufgewendet als manche andere Staaten in gleicher Lage – wenn sie auch sehr wohl noch mehr hätte tun können …»16

Vorurteile bestätigt, Chance verpasst

Fazit: Die Autoren und Beteiligten der Serie sowie der dazugehörigen Dokumentation hätten gut daran getan, umfassender zu recherchieren und entsprechend differenzierter die tatsächlichen Sachverhalte und Abläufe darzustellen, als sich nur auf die Berichte der Bergier-Kommission abzustützen, deren Arbeit bereits 18 Jahre zurückliegt, dies um so mehr, als die TV-Produktion auch noch in Zukunft zahlreiche Zuschauer finden wird, zum Beispiel auch, wenn sie zu Lehrzwecken eingesetzt wird. Es ist bedauerlich, dass die Chance verpasst wurde, die über weite Strecken einseitige Sichtweise der Bergier-Kommission zu ergänzen bzw. zu korrigieren. Den verantwortlichen Handlungsträgern während der dreissiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde man damit einmal mehr nicht gerecht – die Frage stellt sich, warum. •


* Das Zitat im Titel entstammt der Antwort von General Henri Guisan auf eine Anfrage von 300 Pfarrern zur Flüchtlingsfrage. Zitiert nach: Stüssi-Lauterburg, Jürg; Luginbühl, Hans. Freier Fels in brauner Brandung. Die Schweiz in den schwersten Jahren des Bundesstaates 1940 bis 1942, Zollikofen und Baden 2009, S. 200


1 Abrufbar unter: https://www.srf.ch/play/tv/dok/video/die-buchenwald-kinder---eine-schweizer-hilfsaktion?urn=urn:srf:video:2b4e3ccf-3ba1-4ad7-83da-261a39ea29fd; vgl. auch Pogorzelski, Winfried. Die «Buchenwaldkinder» auf dem Zugerberg, Wie die «Schweizer Spende» traumatisierten Jugendlichen beistand, in: Zeit-Fragen Nr. 22 vom 6.10.2020
2 Fuchs, Daniel. Zu gross fürs Kino, in: Aargauer Zeitung, vom 7.11.2020, S. 4, vgl. auch Zachery Z.: TV-Serie «Frieden» – Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen Schweizer Fernsehen SRF,https://filmpuls.info/tv-serie-frieden/
3 Es handelt sich um den 25bändigen Bericht der sogenannten Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, der unter der Leitung des Historikers Jean-François Bergier die Situation und Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs in den Jahren 1998 bis 2001 untersuchte.
4 vgl. Stüssi-Lauterburg, Jürg; Luginbühl, Hans. Freier Fels in brauner Brandung. Die Schweiz in den schwersten Jahren des Bundesstaates 1940 bis 1942, Zollikofen und Baden 2009, S. 143
5 vgl. Leisi, Ernst nach Stamm, Luzi. Der Kniefall der Schweiz, Zofingen 1998, S. 110
6 Codevilla, Angelo M. Eidgenossenschaft in Bedrängnis. Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg und moralischer Druck heute. Schaffhausen 2001, S. 115f.
7 Reginbogin, Herbert R. Der Vergleich. Die Politik der Schweiz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs im internationalen Umfeld. Stäfa 2006, S. 114
8 vgl. Picard, Jacques, Mitglied der Bergier-Kommission, in: Stamm, Luzi, S. 96f.
9 Hofer, Walther; Reginbogin, Herbert R. Hitler, der Westen und die Schweiz, Zürich 2001, S. 464
10 Reginbogin, S. 114f.; Stüssi-Lauterburg; Luginbühl, S. 192
11  vgl. Reginbogin, S. 119
12 vgl. Reginbogin, S. 122, vgl. Codevilla, S. 37
13 Codevilla, S. 37
14Cornelio Sommaruga im Vorwort zu: Nessi, Serge. Die Kinderhilfe des schweizerischen Roten Kreuzes 1942–1945 und die Rolle des Arztes Hugo Oltramare, Wien 2013, S. 9, vgl. auch Mächler, Joseph. Wie sich die Schweiz rettete, Grundlagenbuch zur Geschichte der Schweiz, Zollikofen 2017, S. 269
15 Reginbogin, S. 123
16 Bonjour, Edgar. Geschichte der schweizerischen Neutralität, Bd. VI, S. 42f., zit. nach «Schweizerische Selbstbehauptung während des Zweiten Weltkriegs. Die militärischen, kriegswirtschaftlichen und humanitären Pfeiler schweizerischer Neutralitätspolitik in der Zeit schwerer Bedrohung». «Schweizerzeit»- Schriftenreihe Nr. 29, Flaach 1998, S. 225, vgl. Stamm, S. 108ff.

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