Was wir den Kleinkindern mit technologischen Geräten antun

Wiegenlieder sind die bessere Alternative

von Nicole Duprat, pensionierte Lehrerin, Frankreich

Glücklich sind alle Kinder, deren Mütter ihnen vor dem Einschlafen Wiegenlieder vorgesungen haben oder heute noch vorsingen.
  Eine IPSOS-Umfrage* im Auftrag des Vereins La Semaine du Son deckte beunruhigende Praktiken und Zahlen auf, was die Unesco dazu veranlasste, eine Charta auszuarbeiten. Diese wurde zu einem Beschlussentwurf des Exekutivrats der Unesco umformuliert, unter dem Titel «Die Bedeutung des Klangs. Förderung bewährter Praktiken». Der Entwurf wurde am 2. Mai 2017 von den 58 Delegationen, die den Exekutivrat bilden, angenommen.
  Eins von zehn Babys schläft mit Kopfhörern ein, 10 % der Kleinkinder unter zwei Jahren schlafen mit Ohrstöpseln ein, 21 % der unter 6jährigen benutzen Kopfhörer, im Vergleich zu 74 % der 7- bis 12jährigen und 95 % der Teenager.
  Diese Ergebnisse lösten bei Hals-Nasen-Ohren-Ärzten und Kinderärzten Entsetzen aus. Sie schlugen Alarm, da sie langfristige Folgen für die physische und psychische Gesundheit dieser Kinder befürchten, die ab dem Alter von 30 Jahren an früher Taubheit leiden könnten.
  Der Bildschirm für Kinder unter drei Jahren ist unvernünftig, aber Kopfhörer für Kinder unter sechs bis acht Jahren sind genauso gefährlich.
  Aus Zeitmangel, um nicht gestört zu werden oder während einer langen Autofahrt setzen Eltern einem weinenden Kind lieber Kopfhörer auf, als es in den Arm zu nehmen und zu beruhigen. Kinderlieder, die sie zum Schlafen bringen, wie «Do, l'enfant Do» (Schlaf, Kindchen, schlaf), «Fais dodo, Colin mon petit frère» (Schlaf, mein kleiner Bruder Colin) oder «Au clair de la Lune» werden nicht mehr von den Eltern angestimmt, sondern über Kopfhörer abgespielt.
  Wenn eine Mutter ihrem Kind ein Schlaflied vorsingt, tut sie dies in direkter Beziehung und mit einer sanften Stimme, die für das Ohr des Säuglings geeignet ist. Wenn das gleiche Schlaflied über Kopfhörer abgespielt wird, wird der Ton komprimiert. Daher neigt man dazu, ihn lauter einzustellen, um ein angenehmes Gefühl zu haben.
  Das Ergebnis ist jedoch um so drastischer, da es wie ein Presslufthammer wirken kann, ganz zu schweigen von der isolierten Situation, die dadurch geschaffen wird. Das Problem ist, dass ein Baby nicht in der Lage ist, seinen Eltern zu sagen, dass die Lautstärke zu hoch ist, oder sich die Kopfhörer zum eigenen Schutz herunterzureissen. Es ist gezwungen, alles zu erdulden. Dies führt zu einer vorzeitigen Alterung des Ohrs.
  Ich persönlich hatte eine liebevolle Mutter, die uns (wir waren sieben Kinder) immer Wiegenlieder vorgesungen hat, und ich erinnere mich noch heute daran.
  Das Wiegenlied ist ein wichtiger Teil der Eltern-Kind-Beziehung. Mit seinem Rhythmus und der ihm eigenen musikalischen Struktur löst es eine beruhigende Wirkung aus. Es dient der Kommunikation, fördert die Bindung zwischen Eltern und Kind und schafft Stabilität, wenn es jeden Abend wiederholt wird. Diese Erinnerung ist sehr gefühlsbetont (Blick, Wärme, Duft). Wiegen ist eine zeitlose und universelle Praxis, die in vielen Zivilisationen zu finden ist. Die poetischen Texte der Wiegenlieder sind wahrscheinlich nicht nur auf Grund ihres sprachlichen Inhalts, sondern auch auf Grund des melodischen Klangs der Sprache geschaffen worden, und es sind ihre sinkenden Töne (von hoch zu tief, als ob man gleich in den Schlaf sinken würde), die es uns ermöglichen, ein Wiegenlied in einer uns unbekannten Sprache zu erkennen. In vielen Wiegenliedern findet man die Begriffe «schlafen», «ruhen» und «sich beruhigen». Diese Lieder bereiten auf die Ruhe und den Schlaf vor und leiten sie ein. Dies sind ganz besondere Momente, die es ermöglichen, psychische Hüllen des Schutzes und der Liebe zu schaffen. Worte, Klänge und Musik sind beruhigende Elemente mit angstlösender und tröstlicher Wirkung.
  Ein Wiegenlied ist mehr als die Silben, die vorbeiziehen, es ist die Stimme der Mutter und des Vaters. Das Wiegenlied ist eine Kommunikationsform, die eine emotionale Bindung herstellt und die Zärtlichkeit, Sanftheit und die Beziehung zwischen Eltern und Kind fördert. Ein Kind, das keine Zuneigung erfährt, wird Verhaltensstörungen entwickeln.
  Forscher des Londoner Krankenhauses Great Ormond Street, das unter dem Motto «The child first and always» (das Kind zuerst und immer) steht, haben herausgefunden, dass Wiegenlieder auch ungeahnte heilende Wirkungen haben. Sie sollen helfen, die Schmerzen kranker Kinder zu lindern und ihre Herzfrequenz zu senken. Sie beobachteten den Herzrhythmus und das Schmerzempfinden einer Gruppe von Kindern unter drei Jahren, von denen einige eine Herztransplantation benötigten, über einen längeren Zeitraum hinweg und stellten fest, dass Kinder, denen englische Wiegenlieder wie «Twinkle twinkle little star», «Little fish», «Five little ducks» oder «Hush little baby» vorgesungen wurden, offensichtlich weniger Schmerzen empfanden als Kinder, denen keine Wiegenlieder vorgesungen wurden.
  Das ist eigentlich nicht wirklich verwunderlich, denn Eltern singen ihren Kindern schon seit Jahrtausenden vor und wussten schon immer instinktiv, dass sie den Kindern dabei helfen, sich zu entspannen.
  Das Wiegenlied ist ein instrumentales oder vokales Genre der Musik, das vor allem Kindern beim Einschlafen helfen soll. Von einfachen Kinderliedern über klassische Musikstücke wie Brahms’ «Guten Abend, gut’ Nacht – Wiegenlied Op. 49/4», Chopins «Wiegenlied in Des-Dur Op. 57» bis hin zur Volksmusik ist das Wiegenlied in allen Kulturen der Welt sowohl im klassischen als auch im volkstümlichen Repertoire zu finden, meist gesungen, manchmal nur mit geschlossenem Mund gesummt.
  Die positiven Auswirkungen von Musik auf die Gesundheit von Kindern sind wissenschaftlich erwiesen, warum sollte man also seinem Baby kein Schlaflied vorsingen?  •



* IPSOS-Umfrage, veröffentlicht am 29. Oktober 2015

Bibliographische Quellen:
Les berceuses du monde entier (Wiegenlieder aus aller Welt) (Bücher mit CD Band 1 und 2). Editions Gallimard, Oktober 2012
Ces jouets qui nous cassent les oreilles (Spielzeuge, die uns die Ohren kaputt machen). Magazin 60 millions de consommateurs Nr. 477, Dezember 2012
LE SON Zeitschrift TDC (Textes et Documents pour la Classe) Nr. 1046, 15. Dezember 2012
Lullabies reduce pain in children, say academics. The Telegraph Tuesday, 3. November 2015

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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