Übertriebene Erwartungshaltungen

von Gerd Brenner

Der transatlantische Blätterwald beschwerte sich über den Affront, den der russische Aussenminister Sergej Lawrow dem EU-Aussenbeauftragten Joseph Borrell anlässlich des Besuchs in Moskau angeblich geboten habe: Noch während Borrell in Moskau weilte, wies Russland drei Diplomaten aus EU-Ländern aus. Nun, jede Münze hat zwei Seiten.
  Seit Jahren beherrscht die Delegation der EU die offiziellen Statements der EU-Mitgliedsländer, gerade auch in der OSZE, die sich als Brückenbauer zwischen Ost und West in schwierigen Zeiten versteht. In den vergangenen sechs Jahren waren diese Statements von nichts anderem geprägt als Fundamentalkritik an Russland in jedem Bereich. Daran änderte sich auch nichts, nachdem Joseph Borrell sein Amt als EU-Aussenkommissar übernommen hatte.
  Seit Jahren versuchen die EU-Mitgliedsländer Deutschland und Frankreich, den Konflikt im Osten der Ukraine einer politischen Lösung zuzuführen. Seit Jahren torpediert ihr Nato-Verbündeter USA die Umsetzung der von Frankreich und Deutschland vermittelten Minsker Abkommen, indem die USA der Ukraine sagen, diese seien ein schlechter Deal. Offenbar glaubte insbesondere die Administration Trump, einen besseren Deal herausholen zu können; wie schon im Bereich des New-START Vertrags über strategische Nuklearwaffen, im Bereich des Vertrags über Mittelstreckenwaffen INF, im Bereich des Atom-Deals (JCPOA) mit Iran und anderen mehr. Ein Grossmaul konnte erneut nicht liefern. Und jahrelang bestimmten Polen und Balten in ihrem Revisionismus den Ton der EU gegenüber Russland. Die Ukraine, die Krim und andere Streitpunkte sind nur der Anlass. Es geht ums Prinzip. Wäre es nicht die Krim und der Donbass, würden sie anderes finden.
  Russland bestritt stets, dass Mitarbeiter seiner Nachrichtendienste Alexei Nawalny vergiftet hätten, und die westlichen Staaten, die Russland diesen Vorwurf machten, versäumten es bislang, gerichtsverwertbare Beweise vorzulegen. Für Sanktionen brauchte es eigentlich mehr als Büro-Recherchen von Internet-Spionen. Dass es nicht notwendig ist, handfeste Beweise vorzulegen, um Sanktionen zu rechtfertigen, zeigten mehrere Ereignisse in der Vergangenheit. Trotzdem verhängt die EU laufend Sanktionen gegen Russland und droht neue an. Im neusten Streit um die Demonstrationen der Unterstützer von Nawalny wirft Russland europäischen Diplomaten vor, sie hätten an verbotenen Demonstrationen teilgenommen. Zu ihrer Rechtfertigung erklärten diese, sie hätten die Demonstrationen nur beobachtet. Das mag sein, wie es ist. Andere Staaten weisen ihr diplomatisches Personal an, regierungskritische Demonstrationen generell zu vermeiden, denn die Übermittlung offizieller Ansichten der Regierung und die Teilnahme an Protesten mögen sich beissen. Das sehen Schweden, Deutschland und Polen offenbar etwas lockerer. Wie würden diese Länder reagieren, wenn russische Diplomaten zum Beispiel an verbotenen Demonstrationen gegen den Lockdown teilnehmen würden? Die Frage ist akademisch, denn russische Diplomaten sind erfahrungsgemäss zu professionell für solche Spielchen. Den Gipfel der Frechheit lieferte Albanien, das einen russischen Diplomaten auswies, weil dieser gegen Covid-Schutzmassnahmen verstossen habe. Wohl im Tram keine Maske aufgehabt? Tirana entschuldigte sich mit der Bekanntgabe der Ausweisung auch gleich für diese. Alles klar: Brüssel hatte Druck ausgeübt.
  Und in dieser Lage kam Joseph Borrell nach Moskau und hoffte auf einen warmherzigen Empfang. Aus der Sicht Sergej Lawrows sah das eher so aus, als werde hier das «Good cop, bad cop»-Spiel mit ihm gespielt. Solche Spiele lässt Russland nicht mit sich spielen. Richtig so!

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