von Dr. Eliane Perret, Heilpädagogin und Psychologin
Vor kurzem las ich in der Zeitung einen Bericht über eine Familie, deren zwei kleine Kinder, drei und fünf Jahre alt, seit Beginn der Pandemie mehr als tausend Zeichnungen gemacht hatten. Damit schmückten sie die Wohnung, aber irgendwann war an den Wänden einfach kein Platz mehr frei. Das brachte ihre Eltern in Zugzwang. Sie überlegten und fanden eine herrliche Lösung. Kurzerhand entwickelten sie einen cleveren Bilderrahmen, der in einfacher Weise die Zeichnungen sammelte und eine Wechselausstellung möglich machte. Der Bericht stellte beispielhaft das gute Zusammenspiel zwischen Eltern und Kindern in Zeiten der Pandemie dar. Er brachte mich zum Nachdenken und liess bei mir anklingen, was mir zur Bedeutung der Familie für das Kind wichtig erscheint.
Bausteine der Entwicklung
Kinder lassen sich den ganzen Tag viel einfallen, oft mit Blick auf die erwachsenen Beziehungspersonen und eine Reaktion herausfordernd. Das macht den Erziehungsalltag spannend, manchmal auch anstrengend. Es ist leicht nachvollziehbar, dass die beiden Kinder mit ihrer schöpferischen Aktivität bei ihren Eltern ein positives Echo und viel Interesse fanden. Das bestärkte sie in ihrer Freude am kreativen Tun und motivierte sie, damit fortzufahren. Solche Erlebnisse sind Kindern zu wünschen, denn sie bilden das seelische Fundament, auf dem sie ihre Persönlichkeit ausformen. Diese Bausteine der seelischen Entwicklung werden heute durch sorgfältig durchdachte und gut validierte Studien der modernen Entwicklungspsychologie, speziell der Bindungsforschung, belegt. Deren Ergebnisse stehen in Einklang mit der personalen Auffassung vom Menschen und der Kulturanthropologie, die das Kind als Wesen sehen, das sich im sozialen Bezug individuell entwickelt.
Im feinfühligen, wechselseitigen Zusammenspiel
Im Beziehungsgeschehen zwischen Eltern und Kind liegt der Schlüssel für einen gelingenden Entwicklungsprozess. Allen Beteiligten sind die dafür notwendigen Voraussetzungen eigen. So ist der Säugling bereits vom ersten Lebenstag an mit seiner ganzen körperlichen und sinnesphysiologischen Ausstattung auf die Kontaktaufnahme zum Menschen ausgerichtet. Er zieht zwischenmenschliche Erfahrungen allen anderen Eindrücken vor, wie entsprechende Studien und Beobachtungen eindrücklich belegen. Damit leistet das Baby einen aktiven Beitrag zum Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, zuerst naturgemäss meist zur Mutter. Gelingt es ihr, in feinfühligem, wechselseitigem Zusammenspiel das Bedürfnis des Säuglings nach menschlicher Geborgenheit zu befriedigen, so kann er Ur- bzw. Grundvertrauen aufbauen, denn er erlebt die Mutter als Hort der Geborgenheit und Wärme.
Mit der Aufgabe, dem Kind die Sicherheit zu vermitteln, dass es sich mit Zuversicht der Welt zuwenden kann, steht die Mutter nicht alleine da. Zunehmend wird die seelische Verankerung in der ganzen Familie, mit dem Vater, den Geschwistern und dem weiteren sozialen Umfeld von Bedeutung. Auch wenn es im folgenden vor allem um die Eltern geht, sind sie alle in ihrer Weise wichtig und können, wie die Resilienzforschung zeigt, wichtige Stütze sein, wenn ein Elternteil ausfällt. So können ältere Geschwister, Grosseltern oder auch Lehrer zu wichtigen Bezugspersonen für Kinder werden, die sie ermutigen, fordern und fördern, ihnen ihre Stärken bewusst machen und als zuverlässige Mitmenschen an ihrer Seite bleiben.
«Ein vertrauensvoller, starker und weiser Gefährte»
Natürlicherweise gestalten Mütter und Väter ihre Beziehung zum Kind unterschiedlich und werden auf diese Weise auch den unterschiedlichen Bedürfnissen des Kindes gerecht. Lange Zeit konzentrierte sich die Forschung vorwiegend auf die Bindungsfrage und damit auf die Bedeutung der Mutter für die Entwicklung des Kindes. Heutige Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass Väter ebenso wichtige Bezugspersonen sind wie die Mütter. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Aufgabe, denn nebst dem natürlichen Wunsch nach Nähe und Schutz ist auch das Bedürfnis, die Umwelt zu entdecken, ein angeborenes Bedürfnis des Menschen. Hier kommt dem Vater eine wichtige Aufgabe zu, indem er dem Kind hilft, sein Umfeld zu entdecken, und es dabei unterstützt, sich an neue Herausforderungen heranzuwagen. Wer hat nicht schon beobachtet, wie begeistert Väter mit ihren Kindern Fussball spielen, ihnen zeigen, wie man auf dem Fahrrad das Gleichgewicht findet oder auf einem Baumstamm balanciert? Der Vater wird auf diese Weise quasi zum Spielgefährten des Kindes oder, wie John Bowlby, einer der Pioniere der Bindungsforschung, es nannte, zum vertrauensvollen, starken und weisen Gefährten, der das Kind bei seinen Erkundungen unterstützt und beschützt.
Beide Elternteile haben demnach wichtige, sich gegenseitig ergänzende Aufgaben und legen beim Kind gemeinsam den Boden für seine geistige Regsamkeit, seinen Leistungswillen, seine Freude am Lernen und seine Verbundenheit mit den Mitmenschen.
Langeweile als Motor für Kreativität
Die Familie ist also der erste und wichtigste Ort der Entwicklung eines Kindes zum heranreifenden Mitmenschen. Nun stellen sich die Aufgaben für Eltern im Laufe des Heranwachsens der Kinder immer wieder neu und oft herausfordernd. Die beiden kleinen Zeichner, drei- und fünfjährig, sassen sicher nicht immer nur ruhig am Tisch und malten still-vergnügt und konzentriert. Sicherlich gab es auch Konflikte, in denen sie ihre Kräfte erprobten. Mit ihrer gestalterischen Aktivität in der «langweiligen» Zeit während des Lockdowns im vergangenen Frühling hatten sie aber einen sinnvollen Weg gefunden, immer wieder tätig zu sein und dadurch zu innerer Ruhe und Zufriedenheit zu kommen. Langeweile wurde für sie zum Motor für Kreativität, die sich in einem komplexen Prozess entwickelt und heute zu den «Schlüsselqualifikationen» gehört, die in der Arbeitswelt verlangt werden. Diese Fähigkeit baute sich auf vielen Vorerfahrungen auf.
Durch aktives Ausprobieren und Spielen sammelt schon das kleine Kind sinnliche Erfahrungen, die sein Denken anregen: Es probiert aus, wie viele Klötze es aufeinanderstapeln kann, bis der Turm zusammenfällt. Gespannt verfolgt es, was passiert, wenn es rote Wasserfarbe zur gelben mischt, und wie es klingt, wenn es zwei Hölzchen aneinanderschlägt. Es spielt mit Lauten und Geräuschen und probiert die Möglichkeiten seiner Stimme aus. Schwebt der Luftballon einfach so – ungefragt – in die Höhe, so ist es je nachdem entzückt oder traurig. Beim gemeinsamen Betrachten eines Bilderbuches nimmt es nicht nur neue Wörter und Satzstrukturen auf und lernt intuitiv eine Sprache, sondern es formt in seinem Gemüt Bilder, verbunden mit warmen Erinnerungen ans gemütliche Kuscheln. So sammelt es Erfahrungen und beginnt sein Umfeld immer genauer zu erfassen. Es entwickelt eigene Ideen, die dann ausprobiert werden müssen – nicht immer zur Freude der Erwachsenen.
Das zwischenmenschliche Echo bestärkt ein Kind, wie im Fall der beiden kleinen Zeichner, zum Weitermachen. Im zwischenmenschlichen Zusammenspiel eignet es sich kreativ und neugierig Weltwissen an. Auf diese Weise beginnt es, Zusammenhänge zu erfassen und Denkstrukturen aufzubauen, die zunehmend komplexer werden und sich an den realen Gegebenheiten der Welt orientieren. Solche Reifungsprozesse werden zur Grundlage für schöpferische Prozesse, in denen sich vernetztes Denken und kreative Ideen verbinden und das Durchdenken von Aufgabenstellungen in unterschiedlichsten Bereichen möglich machen.
Der kindlichen Welt Struktur geben
In diesen ersten Beziehungen bildet das Kind seine Gestimmtheit gegenüber den Mitmenschen, seine Wertvorstellungen und sein Gewissen aus. Von uns Erwachsenen erfordert das ein Bewusstsein darüber, welche Werte uns selbst im Leben wichtig sind. Denn, ob wir es wollen oder nicht, unser Denken, Fühlen, Sprechen und Handeln wirkt immer auf die Kinder. Sie brauchen wohlüberlegte Regeln und Werte, mit denen sie sich altersgemäss auseinandersetzen können. Damit strukturieren wir die kindliche Welt, die viel Unvorhergesehenes bereithält, und geben den Kindern Sicherheit und Verlässlichkeit. Das ermöglicht es ihnen, Vertrauen in sich und ihre Umwelt zu entwickeln. Gerade in der heutigen Zeit, die geprägt ist von Vielfalt und Beliebigkeit möglicher Wertorientierungen, ist es für die heranwachsende Generation um so wichtiger, eindeutige Massstäbe und Grenzen zu erleben. Als Erwachsene müssen wir selber diejenigen Werte vorleben, die wir unseren Kindern vermitteln wollen. Deshalb: Wenn wir ihnen «behilflich» sind, dank einer falschen Altersangabe Zugang zu einer Social-Media-Plattform zu erhalten, ist das kein Kavaliersdelikt, sondern legitimiert Lüge und Betrug.
Es ist auch zweischneidig, von den Kindern zu erwarten, dass sie Konflikte ohne verbale und körperliche Gewalt lösen, wenn wir selbst unsere Meinungsverschiedenheiten nicht in gegenseitigem Respekt austragen. So sind nicht nur die Kinder, sondern auch wir gefordert. Es lohnt sich, das eigene Verhalten unter die Lupe zu nehmen. Auf diese Weise wird die Familie zum Rahmen, in welchem die kulturellen Werte und Normen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das Kind beginnt, sich als Teil der menschlichen Gemeinschaft zu empfinden und entwickelt im geglückten Fall Eigenständigkeit, Bezogenheit auf die Mitmenschen und die innere Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen als Voraussetzung für ein aktives, selbstbestimmtes Leben und eine ausgereifte Kooperationsfähigkeit im zwischenmenschlichen Verbund.
Was mir wertvoll ist
In der Familie der beiden Kinder ist offenbar kreatives Tun ein Wert, der geschätzt wird. Wie dem Zeitungbericht weiter zu entnehmen ist, haben auch die Eltern Freude am Zeichnen und Gestalten. So kann man vermuten und hoffen, dass die Kleinen ihre zeichnerischen Fertigkeiten noch weiter ausbauen werden. Aus der damit verbundenen Erfahrung können sie Zuversicht schöpfen, auf die sie bei Lernprozessen in anderen Bereichen zurückgreifen werden.
Es sind also nicht die grossen Unternehmungen und Projekte, wie sie die Freizeitindustrie den Eltern nahelegt, die es ausmachen, ob sich ein Kind in seiner Familie geschützt und geschätzt fühlt. Das stellte ich auch in einer Unterrichtsstunde fest, in der meine zehn- bis zwölfjährigen Schülerinnen und Schüler darüber nachdachten, was für sie wertvolle Momente in der Familie sind oder waren. Ihre Überlegungen regen zum Nachdenken an: «Meine Mutter und ich gehen im Sommer jeweils an den See und baden unsere Füsse im Wasser.» – «Ich habe meinem Vater beim Kochen zugesehen, und wir haben über alles Mögliche gesprochen.» – «Letzte Woche habe ich mit meiner Mutter einen Kuchen gebacken, da war ich sehr stolz.» – «Mein Vater und ich haben vor dem Haus Fussball gespielt, und er hat mir viele Tricks beigebracht.» – «Mein Vater, meine Mutter und ich haben einmal eine Schneeballschlacht gemacht.» – «Ich bin mit meinem Vater in die Stadt gefahren, und wir haben zusammen die grossen Kirchen angeschaut» … Was machte für die Kinder den Wert dieser Situationen aus? Es war das innere Zuhause, das sie in diesem Moment erlebt haben, die Nähe zu ihren Eltern und das Gefühl, ernst genommen zu sein. Auch bei grösseren Kindern ist deshalb die Familie ein Ort gefühlsmässiger Geborgenheit – nicht immer durch seelischen Einklang, manchmal auch durch Reibung, die Wärme erzeugt.
Diese Erfahrungen schützen sie später beim Übergang ins Erwachsenenleben gegen die aggressiven Verführungen der Freizeit- und Konsumindustrie und helfen ihnen, einen eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen, bei dem sie die eigene Würde wahren und für die anderer Menschen einzustehen wünschen.
Natürliche Grundeinheit der Gesellschaft
Es ist deshalb kein Zufall, dass 1948 die Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen der Familie eine herausragende Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit zugemessen haben. In Artikel 16 würdigen sie die Familie als «natürliche Grundeinheit der Gesellschaft», die «Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat» hat. In dieser Verantwortung stehen wir als Erziehende. Wenn wir verstehen, was eine gesunde kindliche Gefühlsentwicklung möglich macht, werden wir im familiären Lebensalltag (im übrigen auch in der Schule) achtsam sein und Möglichkeiten entdecken, wie wir unsere Kinder in ihrem Selbstwertgefühl stärken und ihnen kindgerecht und altersgemäss ein Empfinden für die sozialen Zusammenhänge des menschlichen Lebens vermitteln. Im Wissen darum, dass unser Handeln ein Mosaikstein eines grösseren Ganzen ist. So wie Zeichnungen der beiden Kleinen. •
Aus folgenden Quellen habe ich wichtige Gedanken und Fakten entnommen:
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