von Živadin Jovanović, Präsident des Belgrader Forums für eine Welt der Gleichen
Das Belgrader Forum für eine Welt der Gleichen, der Klub der Generäle und Admirale Serbiens und eine Reihe anderer unabhängiger, überparteilicher und gemeinnütziger Organisationen gedenken seit dem Jahr 2000 kontinuierlich dem 24. März 1999, dem Datum des Beginns der militärischen Aggression der Nato, indem sie Gedenkveranstaltungen, inländische und internationale Konferenzen organisieren, Kränze an den Gedenkstätten für die Opfer der Aggression niederlegen, Bücher herausgeben, Erklärungen veröffentlichen und Freunde und Partner im In- und Ausland daran erinnern, sich ebenfalls an diesen Aktivitäten zu beteiligen. Dies ist ein bedeutender Teil der gesamten Gedenkaktivitäten der serbischen Gesellschaft und neuerdings auch der staatlichen Institutionen Serbiens. Die diesjährigen Aktivitäten mussten im Einklang mit den Massnahmen stehen, die auf Grund der Covid-19-Pandemie getroffen wurden.
Moralische Pflicht gegenüber den Opfern der Nato-Aggression
Der erste und wichtigste Grund ist das Gefühl der moralischen Pflicht gegenüber den menschlichen Opfern – bei Militär, Polizei und Zivilisten gleichermassen –, weil sie alle unschuldige Opfer sind, die auf dem Boden ihres eigenen Landes durch die Waffen des ausländischen Aggressors gefallen sind. Die Aggression selbst forderte zwischen 3500 und 4000 Menschenleben, von denen mehr als 1100 Angehörige des Militärs und der Polizei waren, während der Rest aus Zivilisten, Frauen und Kindern, Arbeitern, Angestellten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Passagieren in Zügen und Bussen und Vertriebenen auf der Flucht bestand. Die Zahl derer, die nach der bewaffneten Aggression starben – zunächst der etwa 10 000 Verwundeten, dann derjenigen, die durch die Streubomben umkamen, und derjenigen, die den Folgen des Einsatzes von mit abgereichertem Uran gefüllten Raketen und der Vergiftung durch giftige Gase erlagen, die bei der Bombardierung von Raffinerien und Chemiewerken entstanden –, ist noch nicht ermittelt. Wir gedenken ihrer aller heute und zollen ihnen unsere tiefste Ehrerbietung. Wir sind zuversichtlich, dass auch die heutige Jugend und alle zukünftigen Generationen dieser Opfer gedenken werden, im Bewusstsein, dass dieses Gedenken die moralische Pflicht der ganzen Nation ist.
Die Wahrheit verteidigen
Der zweite Grund ist, dass wir die Wahrheit verteidigen und keinen Raum für Fälschungen, Lügen und Betrügereien lassen wollen, die damals wie heute darauf abzielen, die Verantwortung des Aggressors zu mindern, indem sie das Opfer beschuldigen. Deshalb müssen wir klarstellen, dass der Nato-Krieg weder eine Intervention, noch ein Luftangriff, noch ein «kleiner Kosovo-Krieg», nicht einmal ein blosses Bombardement war, sondern eine illegale Aggression, die ohne Zustimmung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen begangen wurde, ein eklatanter Verstoss gegen die UN-Charta, die OSZE-Schlussakte, die Grundprinzipien des Völkerrechts und vor allem ein Verstoss gegen die Nato-Grundakte von 1949 und die jeweiligen nationalen Verfassungen der Mitgliedsstaaten der Nato.
Die Grundprinzipien der internationalen Beziehungen wurden untergraben
Dies war der erste Krieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg, der gegen einen unabhängigen und souveränen Staat geführt wurde, der weder die Nato noch einen ihrer Mitgliedsstaaten angegriffen oder anderweitig bedroht hat. Damit fügte die Nato dem Erbe des Zweiten Weltkriegs und der Vereinbarungen von Teheran, Jalta, Potsdam und Helsinki einen schweren Schlag zu. Ihre Aggression gegen Serbien (die Bundesrepublik Jugoslawien) im Jahre 1999 untergrub die Grundprinzipien der internationalen Beziehungen und des Sicherheitssystems, für die Dutzende von Millionen Menschen gestorben sind. Der 24. März 1999 ist in die Geschichte als ein Wendepunkt in den internationalen Beziehungen eingegangen, der den Höhepunkt der unipolaren Vorherrschaft, den Beginn ihres Untergangs und die entstehende multipolare Weltordnung symbolisiert. Nicht nur einmal haben wir gehört, dass die Nato und ihre Führungsmacht mit dem Angriff auf Jugoslawien ihre internationale Glaubwürdigkeit bewahren wollten. Das Ergebnis war genau das Gegenteil.
Präzedenzfall für die Globalisierung des bewaffneten Interventionismus
Der Aggressor wollte den Krieg mit allen Mitteln, nicht für irgendeine friedliche und nachhaltige Lösung für Kosovo und Metohija, schon gar nicht zum Schutz der Menschenrechte oder zur Vermeidung einer «humanitären Katastrophe». Die Nato wollte einen Krieg, um ihre Existenz in der Ära nach dem Kalten Krieg und die enormen Haushaltsmittel für die Rüstung, d. h. die riesigen Gewinne für den militärisch-industriellen Komplex, zu rechtfertigen. Die Nato wollte einen Krieg, um die praktische Umsetzung der Doktrin der Expansion nach Osten, bis an die Grenzen Russlands, zu demonstrieren und auch um einen Präzedenzfall für die Globalisierung des bewaffneten Interventionismus ohne Beachtung des Völkerrechts und der Rolle des UN-Sicherheitsrats zu schaffen. Es war ein Vorwand für die Stationierung amerikanischer Truppen auf der Balkanhalbinsel und eine Kette neuer Militärstützpunkte der USA von Bond Steel in der Provinz Kosovo und Metohija bis zu einem Dutzend anderer Stützpunkte vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee.
Europa ist tief gesunken
Europa ist tief gesunken, als es sich bereit erklärte, an einem Krieg gegen sich selbst teilzunehmen. Die Tatsache, dass Europa es immer noch nicht schafft, sich auf sich selbst, seine eigenen Interessen und seine Identität zu konzentrieren, während es Serbien unter Druck setzt, den gewaltsamen Diebstahl eines Teils seines Staatsterritoriums (Kosovo und Metohija) zu akzeptieren und der Revision des Dayton-Abkommens und der Schaffung eines einheitlichen Bosnien und Herzegowina zuzustimmen, zeugt nur von einem beunruhigenden Syndrom der Vergangenheit, das jetzt die eigene Unabhängigkeit, Einheit und Entwicklung bedroht.
Die Verantwortung der Nato für die Aggression darf nicht reduziert werden
Drittens, weil wir dem Defätismus und der Neigung einiger Medien aus dem sogenannten Nichtregierungs-Sektor und einiger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nicht zustimmen, welche die Nato-Aggression in einer Weise interpretieren, die die Verantwortung des Aggressors reduziert, und gleichzeitig vorschlagen, dass Serbien im Namen eines angeblichen Realismus und um einer «besseren Zukunft» willen das Thema der Aggression beiseite schieben und sich von Kosovo und Metohija als von einer Last, die seinen Fortschritt erstickt, «befreien» sollte.
Die Verantwortung der Nato für die Aggression und das Bündnis mit der terroristischen und separatistischen UÇK kann jedoch in keiner Weise reduziert werden, am allerwenigsten könnte sie auf Serbien übertragen werden. Das wäre eine Schande für Serbien und das serbische Volk und sehr nachteilig für Europa und die Zukunft der internationalen Beziehungen. Die Zukunft der europäischen Identität, Autonomie, Sicherheit und Zusammenarbeit hängt in hohem Masse davon ab, dass die Aggression von 1999 gegen Jugoslawien neu untersucht und als historischer Fehler akzeptiert wird. Andernfalls wird es weiterhin seine eigenen Interessen ernsthaft behindern.
«Farbige Revolutionen» und Marschflugkörper tragen nicht zum «Export» von Demokratie und Menschenrechten bei
Obwohl Serbien Europa zugetan ist, kann es nicht den Preis für die Wiederherstellung der gestörten Einheit der EU und der Nato und/oder für die Verfolgung der geopolitischen Ziele ihrer wichtigsten Mitglieder zahlen, indem es auf Kosovo und Met-o-hija, seine staatliche, kulturelle und geistige Grundlage, verzichtet. Ich bin zuversichtlich, dass Serbien einer friedlichen, gerechten und nachhaltigen Lösung im Einklang mit den Grundprinzipien des Friedens, der Sicherheit und der Zusammenarbeit verpflichtet bleiben wird, wobei es sich an seine Verfassung und die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates halten wird.
Der weitaus grösste Teil der Menschheit ist zu der Einsicht gelangt, dass es keine humanitären Kriege oder Kriege zum Schutz der Bevölkerung gibt. «Farbige Revolutionen» und Marschflugkörper tragen nicht zum «Export» von Demokratie und Menschenrechten bei, sondern dienen den Herrschaftsinteressen des liberalen multinationalen Konzernkapitals. Im Gegensatz zu dem, was die Politik der Gewalt und der selbsternannten «Ausnahmestellung» vermuten lässt, kann die Geschichte nicht aufgehalten und die Unipolarität nicht wiederhergestellt werden.
Zutiefst besorgt über die Eskalation der globalen Beziehungen
Viertens sind wir zutiefst besorgt über die nicht enden wollende Eskalation der globalen Beziehungen, das Wettrüsten, das Fehlen eines Dialogs zwischen den führenden Mächten und die Vertiefung des Misstrauens zwischen den Hauptakteuren der europäischen und der globalen Beziehungen. Die öffentliche Bezeichnung von Atommächten und ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats als Gegner, Pläne zur Bildung «demokratischer Koalitionen», die auf eine Konfrontation mit «autoritären Systemen» abzielen, massenhafte Militärübungen vom Atlantik und der Ostsee bis zum Indopazifik, um die «bösartigen Einflüsse» «einzudämmen» – all dies signalisiert eine ernsthafte Verschlechterung der globalen Beziehungen und birgt das Risiko unvorhersehbarer Folgen. All dies betrifft nicht nur die Grossmächte, obwohl es vor allem von ihnen abhängt, sondern wirkt sich auch negativ auf die Position und Entwicklung aller Länder in der Welt aus, auch auf die Position Serbiens und anderer kleiner und mittlerer Länder. So wie der Frieden unteilbar ist, so sind auch die Gefahren für Frieden und Sicherheit unteilbar.
Aufruf zum Dialog
Deshalb rufen wir zum Dialog auf der höchsten Ebene der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates auf, zum dringenden Abbau der Spannungen, zum Stoppen des sich vertiefenden Misstrauens, zur Achtung der Gleichberechtigung und zur Partnerschaft bei der Lösung der wichtigsten dringenden internationalen Herausforderungen und Probleme, wie zum Beispiel der Covid-19-Pandemie, der sich vertiefenden globalen wirtschaftlichen und sozialen Kluft, der Klimaerwärmung, des Wettrüstens und vieler aktueller oder -potentieller Konflikte.
Fünftens, weil wir wollen, dass sich die Qualen, die Opfer und die Verwüstungen, die unsere Nation während und nach der Nato-Aggression 1999 erlitten hat, nie und nirgendwo auf der Welt wiederholen. Das tragische Schicksal der Kinder in Belgrad, Varvarin, Korisha, Kosovska Mitrovica, Murino darf sich nicht wiederholen. •
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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