von Dr. Eliane Perret, Heilpädagogin und Psychologin
Wer sich gelegentlich etwas Entspannung beim Lesen eines Buches gönnen möchte, dem seien die Kinder-und Jugendbücher der verstorbenen Schweizer Schriftstellerin Olga Meyer empfohlen (vgl. Zeit-Fragen Nr. 21 vom 24. September 2019), heute leider nur noch antiquarisch erhältlich.1 So verkrümelte ich mich vor kurzem mit «Chrigi. Heitere und ernste Erlebnisse eines Bergbuben» aufs Sofa. Die Geschichte nahm mich schnell in ihren Bann, denn sie regte mich zu grundsätzlichen Überlegungen an. Ich war beeindruckt davon, wie Chrigi sich sein Rüstzeug fürs Leben aneignete in einer Familie, die unter sehr anspruchsvollen Bedingungen ihr Leben als Bergbauern meisterte. Auch war wohltuend spürbar, wie die gefühlsmässige Verbundenheit weit über die Familie hinausging und wie selbstverständlich man sich im Rahmen der Dorfgemeinschaft unterstützte, wenn Not am Mann war. So ging ich innerlich mit in Chrigis Welt und hing immer wieder neuen Gedanken nach.
«Ich glaube, dieses Vögelchen macht mich wieder gesund!»
Die Wirtsleute im Dorf hatten einen Vogel, der in Chrigis Welt bis anhin nicht vorgekommen war. Es war ein goldgelber Kanarienvogel, der wunderschön singen konnte. Der Bub lauschte jeweils im Vorbeigehen fasziniert seinem Gesang, aber auch anderen Leuten machte der Vogel Freude, wie seine Mutter einmal nebenbei anmerkte. Chrigi hatte schon seit längerem beobachtet, dass sie oft traurig war, aus Gründen, die sich ihm nicht erschlossen. «Würde der kleine gelbe Vogel sie von ihrem Traurigsein befreien können?» überlegte er. Als die Wirtsleute durch einen tragischen Unfall ums Leben kamen, sollte ihre Habe – dazu gehörte auch der Kanarienvogel – versteigert werden. Das liess Chrigi keine Ruhe, und er schmiedete einen Plan, wie er diesen Vogel für seine Mutter erstehen könnte. Noch fehlte ihm dazu das nötige Geld. So suchte er nach Möglichkeiten, es zu verdienen, und nach zwei Wochen strenger Mithilfe bei einem Hausbau hatte er die nötigen sieben Franken beieinander. Trotz seines Bemühens wäre der Plan fast gescheitert, wenn nicht eine Nachbarin sein Bemühen im geheimen unterstützt hätte. So stand schliess-lich am Namenstag der Mutter der Käfig mit dem gelben Vogel auf dem Tisch und begleitete sie hinfort mit seinem Gesang durch den Alltag. Einige Zeit danach meinte die Mutter nachdenklich: «Ich glaube, dieses Vögelchen macht mich wieder gesund!» Für Chrigi ein tragendes und bestärkendes Erlebnis; es stärkte sein Gefühl der Selbstwirksamkeit, sagt man heute. Ein Beispiel aus einer anderen Zeit und trotzdem in seiner Aussage hoch aktuell!
Von Natur aus kooperativ oder egoistisch?
Was hatte wohl Chrigi zu seinem altruistischen Handeln bewegt? War es die gefühlsmässige Nähe zu seiner Mutter? Sein kindliches Verantwortungsgefühl für deren Wohlergehen? Selbstverständlich spielen diese individuellen emotionalen Faktoren eine wichtige Rolle und müssen genügend gewichtet werden. Dazu stehen uns heute wichtige und klärende Ergebnisse aus der Bindungsforschung und der Individualpsychologie zur Verfügung. Die Anteilnahme Chrigis schien mir jedoch keine selten anzutreffende Ausnahme zu sein. Zu Beginn der Corona-Pandemie hatten sich doch zum Beispiel viele Kinder und Jugendliche spontan anerboten, Einkäufe oder andere Aufgaben für ihnen unbekannte betagte Mitmenschen zu erledigen, oder ihre digitalen Kenntnisse genutzt, um jemandem vorzulesen. Was sage also die Wissenschaft dazu?
Eine dem Menschen innewohnende Eigenschaft
Lange Zeit beherrschten zwei Standpunkte die diesbezügliche Diskussion: «Menschen sind von Natur aus hilfsbereit gegenüber andern und werden durch die Gesellschaft verdorben», war die Position der einen Seite. «Kinder kommen als reine Egoisten zur Welt und ihre Fähigkeit zur Kooperation ist auf ihre Fähigkeit zurückzuführen, kulturelle Normen und Werte zu verinnerlichen. Dazu braucht es die Erziehung», argumentierten die anderen. Der heutige Forschungsstand hält hingegen eindeutig fest, dass es kein Entweder-Oder gibt, sondern dass altruistischem Verhalten ein Zusammenspiel von Biologie, Erziehung und sozialen Gegebenheiten zugrunde liegt. Die spontane Anteilnahme, das Zuspringen, wenn es der andere nötig hat, ist eine dem Menschen innewohnende Eigenschaft, die in der Erziehung gefördert und gefestigt werden muss. Um das genauer zu erfassen, wurde sorgfältige Forschungsarbeit geleistet. Sie befasste sich mit der Frage des Helfens, des Teilens wichtiger Güter und des Weitergebens von wichtigen Informationen im menschlichen Zusammenleben. So kam man den phylogenetischen und ontogenetischen Wurzeln des Altruismus näher.
Spontane Hilfeleistung schon bei den Kleinsten
Schon 2006 hatten Felix Warneken und Michael Tomasello, zwei Psychologen und Anthropologen, die damals am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie arbeiteten, darauf aufmerksam gemacht, dass bereits 18 Monate alte Kinder Menschen in Schwierigkeiten bereitwillig zur Hand gehen, auch wenn sie diese nicht kennen. Kinder, die noch in Windeln waren und erst gerade das Sprechen lernten, erkannten schon, wie sie jemandem helfen konnten. Die beiden Forscher arbeiteten eine Test-reihe aus, in der die Kleinen verschiedene Aufgaben zu erledigen hatten.2 So liess Warneken beim Wäscheaufhängen Klammern ausserhalb seiner Reichweite zu Boden fallen. In den ersten zehn Sekunden versuchte er erfolglos, nach den Klammern zu greifen. Bei den nächsten Versuchen nahm er Blickkontakt mit dem Kind auf und nach weiteren zwanzig Sekunden sagte er: «Meine Klammer!» Fast alle Kinder halfen wenigstens einmal und in 84 Prozent aller Fälle taten sie das schon in den ersten zehn Sekunden, noch bevor Warneken sie überhaupt auf sein Problem aufmerksam machen konnte. Doch bat er das Kind niemals direkt um Hilfe, bedankte sich auch nicht speziell oder belohnte es, wenn es ihm die Klammer brachte. Es zeigte sich sogar, dass Belohnungen dazu führten, dass die Kinder künftig ihre spontane Hilfeleistung einschränkten. Die Forscher vermuteten, dass durch die Belohnung die intrinsische Motivation von Kleinkindern untergraben werde. Ein wichtiger Befund angesichts der heute sehr verbreiteten (Lern-) Therapien, die vorzugsweise mit solchen Verstärkern arbeiten!
«Da ist der Löffel …» – Die geteilte Intentionalität
Doch konnte es nicht sein, dass die Kleinen schon öfter Klammern aufgehoben hatten und das für sie nichts Neues war? Vielleicht räumten sie gerne auf oder suchten durch ein Spiel den Kontakt mit dem Erwachsenen aufrecht zu erhalten? Diese Einwände widerlegte Warneken mit anderen, komplizierteren Aufgaben. Er liess einen Löffel unabsichtlich durch ein enges Loch in eine Kiste fallen, die mit einer Klappe versehen war, durch welche man Gegenstände wieder herausholen konnte. Der Wissenschaftler verhielt sich so, als wüsste er nichts von der Klappe. Die Kinder sprangen wiederum bei und halfen ihm. Doch nur, wenn er sich zuvor vergeblich bemüht hatte, den Löffel durch das Loch aus der Kiste zu klauben, und nicht, wenn er ihn absichtlich hineinfallen liess. Mit einer Vielzahl weiterer Studien verfeinerten die Forscher ihre Aussagen und schlossen durch die Versuchsanlagen mögliche Fehlannahmen aus. Das Verhalten der Kinder war erstaunlich und anspruchsvoll. Um die benötigte Hilfe in solchen Situationen leisten zu können, müssen sie sowohl das Ziel des Gegenübers verstehen als auch motiviert sein, ihm zu helfen. Man spricht deshalb von geteilter Intentionalität, einer gemeinsamen Absicht.
Chrigis altruistisches Verhalten war also – mindestens damals – nichts Aussergewöhnliches, denn bereits zweijährige Kinder sind willens und fähig, sich für andere einzusetzen, auch wenn sie daraus keinen Nutzen ziehen. Sie nehmen sogar einiges auf sich und unterbrechen zum Beispiel ein spannendes Spiel, um Hilfe zu leisten. Diese Bereitschaft bringen sie durch ihre soziale Präadaption mit auf die Welt. Sie muss aber von den Erziehenden angesprochen, weiter entwickelt und kultiviert werden. Auf diese Tatsache hatte bereits Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, hingewiesen.
Nicht nur beim Menschen
Die Forscher beschränkten ihre Testserien nicht auf die menschliche Spezies, sondern schauten sich auch das Verhalten von Schimpansen, den nächsten Primatenverwandten der Menschen, an, um herauszufinden, ob Altruismus ein bereits in der Evolution verwurzeltes Verhalten ist. Auch die Schimpansen sprangen in den Versuchen in ähnlicher Weise bei, allerdings nur bei einfachen Aufgabenstellungen. Das legt nahe, dass die spontane Hilfeleistung tiefe evolutionäre Wurzeln hat und zur Spezies Mensch gehört. – Altruistisches Verhalten beschränkt sich jedoch nicht darauf, anderen zu helfen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wesentlich anspruchsvoller ist das Teilen vorhandener Ressourcen (zum Beispiel von Nahrung) oder das Weitergeben wichtiger Informationen, damit sich ein Problem lösen lässt. Auch hier zeigten die Untersuchungen, dass kleine Kinder dazu neigen, Belohnungen gleichmässig und grosszügig aufzuteilen. Werden sie etwas älter, so beginnen sie, sich ihre Tauschpartner etwas gezielter auszusuchen und teilen lieber mit jemandem, mit dem sie bereits früher etwas getauscht und gute Erfahrungen gemacht haben.
Schon kleine Kinder sind also spontan behilflich, teilen und unterstützen mit wichtigen Informationen.
Nicht nur ich, auch die andern
Auch Chrigi teilte seine Schätze mit seinen Geschwistern und Freunden. So erhielt er von einem Viehhändler, der von der Hilfsbereitschaft und dem Verantwortungsgefühl des Buben beeindruckt war, einen «Batzen» für den Jahrmarkt. Es war für ihn selbstverständlich, dass er seine jüngeren Geschwister einlud, mit ihm mitzugehen, und sich sorgsam überlegte, wie sie gemeinsam einige vergnügte Stunden gestalten konnten. Fehlt heute nicht vielen Kindern genau diese Erfahrung, sich für etwas einsetzen zu können und auch einmal zugunsten anderer zurückstehen zu müssen? Dazu bräuchten sie jedoch unsere Anleitung und unser Vorbild. Chrigi hatte das unter anderen in seinem Vater. Ein Erlebnis blieb ihm (und mir) speziell in Erinnerung: Während eines Winters verbrachte eine Schulklasse aus der Stadt ihr Skilager in Chrigis Nähe. Eines Tages verunglückte einer der Schüler, und als Chrigi aus der Schule nach Hause kam, wurde in der Stube der Verunglückte sorgsam auf den grossen Holzschlitten des Vaters gelagert und von diesem in sorgfältiger, nicht ungefährlicher Fahrt ins Tal transportiert. Chrigi folgte dem Vater, um ihm zu helfen, den schweren Schlitten wieder nach Hause zu bringen.
Hilfe geben und annehmen
Chrigi erlebte aber, dass auch ihm und seiner Familie geholfen wurde. Im selben Winter wurde ihr Bauernhof durch eine Lawine verschüttet. Nun waren es die Nachbarn und die Leute aus dem Dorf, die beisprangen, als der Vater sie zu Hilfe rief. So konnte die Mutter mit ihren Kindern aus den Schneemassen lebend geborgen werden. Aber das Zuhause und die Existenz der Familie waren vernichtet. Die jugendlichen Skifahrer waren tief berührt von der Not der Familie, und nun waren sie es, die ihrem Lehrer spontan vorschlugen, beim Wiederaufbau des Hauses mitzuhelfen, und das dann auch taten. Erinnert das nicht an die vielen spontanen Hilfsangebote zu Beginn der Corona-Pandemie?
Ein Zusammenspiel von Biologie, Erziehung und sozialen Gegebenheiten
Chrigi hatte mich also zu einigen wichtigen Überlegungen angeregt – angewandte Psychologie. Es stimmt zuversichtlich, dass Kinder schon sehr früh in ihrer Entwicklung einfühlsam, hilfsbereit und grosszügig sind und bereitwillig wichtige Informationen beisteuern. Sie sind dazu von ihrer Natur aus präadaptiert, es muss ihnen also nicht «eingeimpft» werden. Allerdings liegt der Entwicklung von altruistischem Verhalten ein Zusammenspiel von Biologie, Erziehung und sozialen Gegebenheiten zugrunde. Im Laufe des Grösserwerdens erhalten die sozialen Erfahrungen und die kulturellen Überlieferungen immer mehr Bedeutung. Dazu brauchen sie Eltern, die sie anleiten, sie in die Werte und Normen der eigenen Kultur einführen und allfällige Fehlentwicklungen korrigieren. Ausserhalb der Familie sind hier auch die Schule und der Staat in die Pflicht genommen, wie sie mit der nachwachsenden Generation umgehen. So hatte ich als Kind das Glück, Chrigis Geschichte als Hörspiel in der Kinderstunde am Radio zu hören. Olga Meyer, die Autorin, hat ihr Buch auch ihren grossen und kleinen Zuhörern gewidmet. Es würde sicher auch heutige Kinder ansprechen. Es geht hier aber nicht darum, «alte Zeiten» zu glorifizieren. Die Menschen hatten schwierige Lebensbedingungen zu bewältigen, und die seither gemachten Fortschritte sind ein Segen. Deshalb können heutige Eltern, Erziehende und Bildungsverantwortliche auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen und ihre Aufgabe auf diesem Hintergrund wahrnehmen. Da legen sie und wir alle die Grundlagen, in gemeinsamer Arbeit auch herausfordernde Situationen gemeinsam zu lösen.
Dieses Wissen um die soziale Natur, um die spontane Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen, kann der Boden für ein friedlicheres Zusammenleben sein, auf das wir alle so dringend angewiesen sind. Dies dabeizuhaben, umzusetzen und weiterzugeben, kann unser persönlicher Beitrag zum Frieden sein. •
1 Die Bücher von Olga Meyer zeichnen Lebensbilder von Kindern und Jugendlichen, die im Tösstal oder in der Stadt Zürich lebten. Sie geben Einblick in die Lebensbedingungen und Lebensgestaltung der Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vgl. Perret, Eliane. «Wir sollten wieder lernen, mit dem Herzen zu sehen. Gedanken zum 130. Geburtstag der Kinder und Jugendbuchautorin Olga Meyer.» In: Zeit-Fragen Nr. 21 vom 24.9.2019
2 Warneken, Felix. Der Ursprung der Kooperation beim Menschen: Neue Einsichten aus der Forschung mit Kindern. Keynote-Referat beim Kongress «Kindheit, Jugend und Gesellschaft VIII»/ 2016 – im Festpielhaus Bregenz – veranstaltet vom Netzwerk Welt der Kinder. Zu sehen auf YouTube: https://swisscows.com/video/watch?query=Felix%20Werneken&id=DD70E141064066CDD58DDD70E141064066CDD58D, abgerufen am 26.12.2021
Quellen:
Meyer, Olga. (1964) Chrigi. Heitere und ernste Erlebnisse eines Bergbuben. Aarau und Frankfurt a. Main: Sauerländer
Tomasello, Michael. (2010) Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp
Warneken, Felix; Tomasello, Michael. «The Developmental and Evolutionary Origins of Human Helping and Sharing». In: The Oxford Handbooks of Prosocial Behavior;www.oxfordhandbooks.com
Warneken, Felix; Tomasello, Michael. «Varieties of altruism in children and chimpanzees». In: Trends of Cognitive Sciences. 2009 Sept. 13(9): S. 397–402; www.academia.edu
Die Wäscheklammer des Versuchsleiters (im Spiegel zu erkennen) ist zu Boden gefallen. Der kleine Junge beobachtet das und bringt sie ihm. – Bereits 18 Monate alte Kinder gehen Menschen in Schwierigkeiten bereitwillig zur Hand. Dazu müssen sie sowohl das Ziel des Gegenübers verstehen, als auch motiviert sein, ihm zu helfen. Man spricht deshalb von geteilter Intentionalität, einer gemeinsamen Absicht. (Bilder Screenshots aus swisscows.com; ©Warneken/Tomasello)
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