Neujahr ohne Perspektive

Krieg und Sanktionen zerstören Lebensgrundlagen im Nahen Osten

von Karin Leukefeld, Damaskus

«Oh, wir haben heute Abend einen Tisch im Four Seasons Hotel reserviert», lacht Hanan und klatscht in die Hände. «Wir alle hier werden mit unseren Familien dort sein und richtig gut ins neue Jahr hineinfeiern.» Der Arbeiter zwinkert mit den Augen, und seine Kollegen grinsen verschmitzt und brechen dann in lautes Gelächter aus. «Hast Du das etwa geglaubt? Da haben wir Dich schön auf den Arm genommen!»
  Hanan und seine Kollegen arbeiten in einem kleinen Familienhotel im Zentrum von Damaskus. Sie sind Kurden aus Afrin und arbeiten, wie schon ihre Väter, in Damaskus. In Afrin haben sie noch immer ihre Häuser und Gärten. Früher ging es ihnen gut, mit der Olivenernte, die jeden Herbst ordentlich Geld in ihre Familienkassen spülte. Doch seit 2018 ist Afrin unter Kontrolle der Türkei und von Kämpfern, die vor zehn Jahren versuchten, Homs und Aleppo unter ihre Kontrolle zu bringen, um dann Damaskus zu stürmen und die Regierung von Bashar al-Assad zu stürzen. Jahrelang zogen sich die Kämpfe hin, Millionen Menschen flohen vor dem Krieg. Regionale und internationale Akteure aus der EU, der Nato unter US-Führung ergriffen Partei für die Aufständischen, während Russland, Iran und die libanesische Hizbullah die syrische Regierungsarmee unterstützen.

Verlorene Heimat

Die dschihadistischen Kampfverbände unterlagen und mussten aus Ghouta östlich von Damaskus, aus Homs, aus Aleppo und Deraa abziehen. Nun leben sie in den Häusern von Hanan und seinen Kollegen und haben die Kurden vertrieben. «Das sind richtig schlechte Menschen», sagt Hanan mit rauher Stimme. 25 Prozent der Bevölkerung in Afrin und in den Dörfern seien noch Kurden, doch die Kämpfer begegneten ihnen mit Verachtung und Gewalt: «Sie schlagen unsere Leute, sie vertreiben sie aus ihren Häusern, sie stehlen alles.» Wann sie Afrin wieder verlassen würden, wisse niemand. «Mein Vater wollte immer wieder zurück nach Afrin, um dort beerdigt zu werden», sagt Hanan. «Er konnte nicht zurückkehren und starb in Aleppo. Wer weiss, ob ich vor meinem Tod Afrin noch einmal wiedersehen werde?»
  Hanan und seine Kollegen sind arm und leben in kleinen beengten Häusern oben auf dem Kassioun, dem Hausberg von Damaskus. Sein Kollege Samir musste das Zimmer seines Bruders räumen, als dieser mit seiner Familie aus der Türkei zurückkam, wo sich seine Hoffnungen auf Arbeit zerschlagen hatten. Von seinem geringen Gehalt hat Samir den Sommer über ein neues Zimmer auf dem Haus des Bruders gebaut, um im Winter ein Dach über dem Kopf zu haben. «Für die Fenster hat es nicht mehr gereicht», sagt Samir und zuckt mit den Schultern. «Sie sind zu teuer. Ich muss drei Monatsgehälter dafür bezahlen.» Also habe er die Fenster mit Plastik verklebt, das die schlimmste Kälte fernhalte. «Aber da, wo wir wohnen, weht der Wind von allen Seiten, und gerade jetzt im Winter ist es wirklich kalt», murmelt der Arbeiter, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er seiner Familie nichts Besseres bieten kann.

Kein Strom, keine Ersatzteile

Es ist der 31. Dezember 2021, und es ist kalt in Damaskus. In dem Familienhotel gibt es keinen Strom, in der Lobby sitzen Mütter mit ihren Kindern bei Schummerlicht. Neue Gäste steigen die Treppe hinauf, um die Rezeption im ersten Stock zu erreichen. Hanan und seine Kollegen schultern das Gepäck und tragen es auf den Schultern in die Gästezimmer.
  «Hier im Hotel haben wir zwei Stunden Strom und vier Stunden keinen Strom», erklärt Nabil, der an der Rezeption arbeitet. Der Generator werde nur selten angemacht, weil sie Heizöl sparen müssten. Ausserhalb von Damaskus sei die Lage noch schlechter, fügt er hinzu: «Bei uns in Jdeideh haben wir eine Stunde Strom und fünf Stunden keinen Strom.» In diesem Winter sei die Stromversorgung besonders schlecht, habe der Minister für Elektrizität vor wenigen Tagen erklärt, sagt Nabil. Es fehle an Öl und Gas, um die Elektrizitätswerke zu betreiben. Ausserdem seien drei E-Werke ausser Betrieb, weil Reparaturen vorgenommen werden müssten, für die noch die Ersatzteile fehlten. Die Bevölkerung müsse noch einige Monate mit der schlechten Stromversorgung leben, so der Minister. Aber dann solle es wirklich besser werden.
  Nabil gehört zu denen, die zwar ihren Speise-plan rigoros um Fleisch und Milchprodukte zusammenstreichen mussten, die aber doch in der harten Wirtschaftskrise irgendwie noch über die Runden kommen. Seine Brüder haben Angehörige im Ausland, die monatlich Geld schicken. Nabil und seine Frau erhalten eine bescheidene Pension, er arbeitet zusätzlich an der Rezeption des kleinen Familienhotels. Der jüngere Sohn leistet seinen Militärdienst ab, der Ältere arbeitet als IT-Ingenieur. Von seinem monatlichen Gehalt bezahlt der junge Mann in den Fonds einer Wohngenossenschaft ein, die ausserhalb von Damaskus einen Wohnkomplex baut. Wenn alles gut geht, wird Nabils Sohn in drei Jahren die Wohnung einrichten und dann auch ans Heiraten denken können. Für viele junge Männer ist diese Perspektive in weite Ferne gerückt.

Abschied nehmen an Neujahr

Für zahlreiche Familien bedeutet Neujahr, von ihren Kindern Abschied zu nehmen. Gut ausgebildete und sprachkundige junge Leute verlassen Syrien, Irak, Libanon oder Iran, um in Europa, den USA, Australien oder Kanada zu arbeiten oder zu studieren. Zurück bleiben Eltern, die ihr Leben lang dafür gearbeitet haben, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Dass diese Zukunft nun nicht im eigenen Land liegt, ist für die Familien mit hohen Kosten verbunden und für alle ein schwerer Schlag.
  Einer der jungen Männer, die Syrien Anfang 2022 verlassen werden, ist Akram (Name geändert). Er hat in Damaskus sein Medizinstudium abgeschlossen und möchte sich zum Herzchirurgen qualifizieren. Weil er in Syrien diese Möglichkeit derzeit nicht hat, hat er sich in Deutschland beworben und wurde angenommen. Den Sprachtest hat er bestanden, bald wird er wie viele junge Leute aus Syrien, Irak, Iran und anderen Ländern in einer deutschen Klinik für ein unterdurchschnittliches monatliches Gehalt arbeiten. «Verglichen mit dem, was der Junge hier bekommen würde, ist es viel Geld», sagt der Vater von Akram, der stolz die Zeugnisse des Jungen zeigt. 75 000 Syrische Pfund sind heute umgerechnet nach dem offiziellen syrischen Umtauschkurs 30 US-Dollar und reichen weder für eine Miete noch um die hohen Energie- oder Lebensmittelkosten zu bezahlen. In Syrien sieht Akram für sich keine Perspektive.
  In Beirut bereiten sich die Eltern von Leyla (Name geändert) ebenfalls auf den Abschied vor. Ihre 17jährige Tochter wird zum Studium in die USA gehen, wo sie bei Verwandten leben wird. «Sie kann weiter Tabouleh und Humus essen», sagt ihr Onkel, der die Ausbildung seiner Nichte finanziell mit seinen Brüdern unterstützt. «Sie wird sich wie zu Hause fühlen, nur ohne die Probleme und Unsicherheiten, mit denen wir uns im Libanon täglich herumschlagen müssen.» Natürlich würden beim Abschied am Neujahrstag die Tränen fliessen, weil Eltern und Tochter sich vermutlich jahrelang nicht wiedersehen könnten. «Aber sie ist selbständig, spricht drei Sprachen fliessend und wird sich schnell an das neue Leben gewöhnen», meint der Onkel. «Sie wird ihren Weg gehen. Im Libanon gibt es für sie keine Perspektive.»

EU- und US-Sanktionen zerstören nationale Ökonomien

Zehn Jahre Krieg und Zerstörung haben die Wirtschaft Syriens und seiner Nachbarländer schwer beschädigt. Die US-Besatzung der syrischen Öl- und Gasressourcen, von Weizenfeldern und Baumwollanbau blockieren den Zugang des Landes zu den eigenen Ressourcen. Verschärft wird die Lage durch die einseitig verhängten EU- und US-Sanktionen, was wie schon der Krieg zur Abwanderung von Zehntausenden Fachkräften führt.
  Die einseitigen EU-Sanktionen werden seit 2011 jährlich verschärft und ergänzen sich mit dem sogenannten «Caesar-Gesetz» der US-Administration, das 2020 in Kraft trat. Danach können nicht nur syrische, sondern alle Unternehmen, Staaten und Organisationen bestraft werden, die mit Syrien Handel treiben. Ein Bericht der US-Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) stellte im Juli 2021 fest, dass die US-Sanktionen in Syrien eine «schwindelerregende Wirtschaftskrise ausgelöst» hätten. Der durch die Caesar-Sanktionen blockierte Handel führe zu einem Anstieg des illegalen Handels, von Korruption und Schwarzmarkt.  •

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