Politische DNA der Schweiz als Massstab

EU-Politik und Service public

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

«Die Schweiz ist aus verständlichen Gründen kein EU-Mitglied. Es passt nicht zu ihrer politischen DNA.» Diese Aussage in einem kürzlich erschienenen Zeitungsinterview stammt von einem Deutschen, der lediglich zwei Jahre in der Schweiz gelebt hat. Und doch hat er etwas Essentielles erfasst – oder erahnt –, das manchen Schweizern weniger klar ist. Nach der Mitteilung des Bundesrats im Mai 2021, er breche die Verhandlungen mit der EU zum Rahmenvertrag ab, weil sie nicht zu befriedigenden Lösungen geführt hätten, äusserten zunächst sehr viele Bürger, auch Politiker, ja, selbst Redaktoren der Mainstreammedien ihre Erleichterung. Inzwischen haben die EU-Turbos erneut ihre Griffel gespitzt und erhalten in den Medien Raum, um für die engere Einbindung der Schweiz in die EU mobil zu machen. Aber das kann uns nicht schrecken – wir auf der Gegenseite haben auch spitzige Griffel.
  Alle Jahre wieder wird der gute Service public der Schweiz angegriffen. Vor einem Jahr haben wir uns in «Zeit-Fragen» gegen eine weitere Privatisierung der Post gestellt und erklärt, was das EU-Verbot staatlicher Beihilfen für den Service public bedeuten würde.
1 Zur Jahreswende 2021/22 greifen nun einige Journalisten die Frage andersherum auf: Die noch vorhandenen Teile der Post sollen auf Sparkurs gesetzt und sukzessive privatisiert werden. Damit würden sich bei Bedarf allfällige Widersprüche mit dem EU-Beihilfe-Verbot von selbst erledigen.
  Diese zwei Schwerpunkte sollen hier aufgegriffen werden.

In einem ganzseitigen Zeitungsartikel tischt uns der frühere Chef des Seco (Staatssekretariat für Wirtschaft), Jean-Daniel Gerber, die unverdaulichen Brocken aus dem gescheiterten Rahmenvertrag erneut auf und fordert uns auf, diese zu schlucken. Sonst bestehe das Risiko, dass die Schweiz «in einen Drittlandstatus, vergleichbar mit jenem einiger osteuropäischer Nachbarländer, abrutscht».2

«Wir sind nicht bereit, die in Brüssel […] erlassenen Direktiven quasi automatisch zu übernehmen»

Vor zehn Jahren tönte es bei Jean-Daniel Gerber noch ganz anders. Damals wies er die Sichtweise Brüssels zurück, wonach die Schweiz sich als Nutzniesserin des EU-Binnenmarkts «auch an die Regeln, die diesen Markt bestimmen, zu halten [habe] – und zwar nicht nur an die jetzigen Regeln, sondern auch an die zukünftigen». Demgegenüber hielt er fest, dass die Schweiz nicht voll in den Binnenmarkt integriert sei und dessen künftige Ausgestaltung als Nicht-Mitglied der EU nicht mitbestimmen könne. Ausserdem sei die Schweiz «einer der grössten Aussenhandelspartner der EU und wichtiger Investor». Gerber zog 2011 das Fazit: «Entsprechend sind wir nicht bereit, die in Brüssel beschlossenen Gesetze und erlassenen Direktiven quasi automatisch zu übernehmen.»3 Gerbers damalige Argumente haben heute nichts an Aktualität verloren …

Vor 30 Jahren: Ablehnung des EWR durch das Schweizer Volk

Sozusagen der Vorläufer des Rahmenvertrags war ein anderer Rahmen, den Brüssel vor 30 Jahren für die Eingliederung der vier Efta-Mitgliedsstaaten Norwegen, Liechtenstein, Island und Schweiz gezimmert hatte: Den Europäischen Wirtschaftsraum EWR. Am 6. Dezember 1992 wurde der Beitritt zum EWR vom Schweizer Volk an der Urne knapp (mit 50,3 % Nein), von den Kantonen deutlich (16 zu 7) abgelehnt. Damit war auch der vom Bundesrat bereits beantragte Vollbeitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG) vom Tisch. In der Folge regelten die Schweiz und die EU ihre Angelegenheiten weiterhin im beidseitigen Interesse auf bilateraler Ebene.
  Dass Brüssel sich heute als «Strafe» für die Nichtunterzeichnung des Rahmenvertrags weigert, einzelne Abkommen dem aktuellen Stand anzupassen und die EU-Forschungs- und Bildungsprogramme für die Schweiz zu öffnen, ist vertragswidrig. Aber wie gesagt – solches Imponiergehabe kann uns nicht schrecken: Wir haben noch viele Pläne B im Köcher.

Service public: Gegensteuer gegen neoliberale Ambitionen ist angesagt

Der qualitativ hochstehende Schweizer Service public ist in der grossen Mehrheit der Bevölkerung fest verankert und dank der direkten Demokratie nur scheibchenweise zu knacken. Aber es bedarf der höchsten Wachsamkeit und des aktiven Einsatzes von uns Bürgern, um gegen den ständig drohenden Abbau auf Grund eines nicht menschgemässen Renditedenkens anzukämpfen. Die Schweiz kann sich eine erstklassige Gesundheitsversorgung, einen Spitzen-öV, Poststellen im ganzen Land und den dringend notwendigen Ausbau der Stromproduktion unter der Hoheit der Kantone und Gemeinden leisten. Wir Steuerzahler bezahlen dafür. Wehren wir uns also gegen neoliberale Theorien, wonach zum Beispiel ein grosses Spital «effizienter» sei als mehrere kleine – was erstens nicht stimmt (kleine Einheiten wirtschaften in der Regel am sparsamsten) und zweitens nicht den Bedürfnissen der Land- und Bergbevölkerung und auch nicht der Belegschaft, also dem Wohl der ganzen Gemeinschaft, dient.
  Kurz vor dem Jahreswechsel 2021/22 nahm nun die «Neue Zürcher Zeitung» die Schweizer Post ins Visier und listete ein knallhartes Programm auf, um den «Service public endlich [zu] entstauben».4 Erstens soll die PostFinance privatisiert werden, zweitens «gehört das Restmonopol der Post abgeschafft» (gemeint ist das Monopol für Briefe bis 50 Gramm), drittens «sollte man nach der PostFinance auch die Post in die unternehmerische Freiheit entlassen». Und als Fazit: «Es braucht jetzt eine mutige Reform, bevor die Post finanziell ausblutet.»
  Das heisst, wir würden unsere (immer noch) gut funktionierende Post ausländischen Konzernen überlassen und gleichzeitig den Weg in die EU ebnen. (siehe dazu: «Exkurs: Nicht alle Liberalen sind neoliberal!») Was vorausgegangen ist: Im Januar 2021 setzte der Bundesrat eine Expertenkommission unter dem harmlos klingenden Namen «Weiterentwicklung der Grundversorgung im Bereich von Post- und Zahlungsverkehrsdiensten» ein. Die Kommission wird von der ehemaligen Aargauer Ständerätin Christine Egerszegi (FDP) geleitet und soll anfangs 2022 ihre Vorschläge vorstellen.5 Diese werden wir mit der Lupe lesen.

«Überholter Luxus» bei der Schweizer Post?

Ist ein (heute ohnehin nur noch eingeschränkt) bürgernaher Service der Post «überholter Luxus», wie die «Neue Zürcher Zeitung» schreibt? Dank der Verbindung des Brief- und Paketverkehrs sowie des Postauto-Bereichs mit dem Zahlungsverkehr der PostFinance blutete die Post bisher eben gerade nicht aus, sondern wurde durch letztere querfinanziert. Wer allerdings von einem Service-public-Betrieb Renditen erwartet, der lehnt Querfinanzierungen schon im Grundsatz ab. In der heutigen Zeit von Null- und Negativzinsen bringen der Bargeldverkehr und die Einzahlungen am Schalter leider gar nicht mehr viel ein. In solchen Zeiten hat der Staat allfällige Defizite abzudecken: Wir Steuerzahler haben ein Recht auf den sozialverträglichen Einsatz unserer Steuergelder.
  Etwas anderes gehört ebenfalls zum Service public: Gerade in unserer schnellebigen und digitalisierten Zeit schätzen viele Menschen eine persönliche Ansprache am Postschalter oder mit dem Briefträger. Aber genau hier kann mit der grossen Kelle gespart werden: «Die Corona-Krise hat gezeigt: Die meisten Dienste der Post lassen sich prima digital erledigen», so die «Neue Zürcher Zeitung» vom 29. Dezember. In Krisen-Zeiten ist die digitale Schiene tatsächlich besser als nichts – aber wir wollen ja auch nicht den Fernunterricht zum Normalfall machen.

«Spiel der Marktkräfte» nicht gefährden – «Die EU hat darauf ein Auge»

Seit 2013 sind die Schweizer Postfilialen von 1657 auf 902 beinahe halbiert worden, gleichzeitig sind die Agenturen (Postdienste in Läden oder an Kiosken) auf 1185 gestiegen.6 Hier könne noch mehr gespart werden, so die Autoren in der «Neuen Zürcher Zeitung»: «Entfiele der Auftrag im Zahlungsverkehr, könnte die Post ganz auf eigene Filialen verzichten. Ein weiterer Ansatzpunkt wäre, dass der Postbote nicht mehr jeden Tag, sondern nur noch jeden zweiten oder dritten Briefe ausliefern würde. […] Dadurch liessen sich jährlich 50 bis 90 Mio. Fr. einsparen.»
  In Schweden gehe das auch, so die Autoren: Dort kriegen die Bürger ihre Post nur noch jeden zweiten Tag, und Poststellen gibt es für Privatkunden schon länger nicht mehr. Hier kommt das liebste Kind Brüssels, der Wettbewerb, ins Spiel. Schweden und Dänemark haben ihre staatlichen Postbetriebe 2009 zur Gesellschaft Postnord zusammengelegt, und jetzt gelten die Regeln des «freien» Marktes: «Postnord finanziert sich durch das operative Geschäft; für allfällige Defizite müssen Mittel am Kapitalmarkt beschafft werden. Schiessen die beiden Staaten als Eigner Geld ein, muss dies so geschehen, dass das Spiel der Marktkräfte nicht gefährdet wird. Die EU hat darauf ein Auge.»

Folge der Privatisierung: Nachlässiger Umgang und schlechter Service

Allerdings, so die «Neue Zürcher Zeitung», habe das Ansehen von Postnord bei den Kunden seit der Privatisierung «deutlich gelitten»: «Dem Betrieb wird bisweilen nachlässiger Umgang mit Briefen und Paketen und schlechter Service vorgeworfen.» Das kommt einem bekannt vor. Erinnern Sie sich an die Privatisierung der Eisenbahnen in Grossbritannien, in deren Folge die Geleise nicht mehr ordentlich gewartet wurden und sich deshalb Zusammenstösse und Entgleisungen häuften? Solche Zustände wollen wir in der Schweiz nicht.
  Zum Abschluss ein warnendes Müsterchen aus unserem Nachbarland Liechtenstein: «Als EWR-Mitglied ist Liechtenstein verpflichtet, den Postmarkt vollständig zu liberalisieren.» Deshalb soll das Briefmonopol bis 50 Gramm aufgehoben werden, und Postdienste dürfen künftig «von jedermann erbracht werden, sofern die im Gesetz festgelegten Anforderungen erfüllt werden». Damit eine flächendeckende, qualitativ gute und kostengünstige Grundversorgung trotz des von Brüssel vorgeschriebenen Wettbewerbs gewährleistet ist, soll es statt der staatlichen Post einen «Universaldiensteanbieter» geben (ein herrliches Bürokraten-Unwort!).7 Diesen darf vorläufig die Post übernehmen, solange sich kein billigerer findet.
  Fazit: Der Kleinstaat Liechtenstein zählt elf Gemeinden, da braucht es kein Wettbewerbsgerangel um den Postdienst. Es ist absurd, in diesem kleinen, wohlhabenden und wohlgeordneten Staatswesen die staatliche Post abzuschaffen, nur weil das Ländle 1995 – warum eigentlich? – dem EWR beigetreten ist und Brüssel «ums Verrode» seine sture Bürokratie durchboxen will. Für uns Schweizer ist es ratsam zu überlegen, ob wir nicht doch lieber ein «Drittstaat» bleiben wollen, mit Plänen B, wo immer wir es für nötig und sinnvoll erachten. Dazu brauchen wir keinen institutionellen Rahmen – und schon gar nicht den Ausverkauf unseres guten Service public.  •



1 Wüthrich, Marianne. «Service public in der Hand des Souveräns behalten! Kein Ausverkauf an EU-Grosskonzerne». In: Zeit-Fragen Nr. 28/29 vom 15.12.2020
2 Gerber, Jean-Daniel. «Europapolitik: Die Schweiz darf nicht in den Drittlandstatus relegiert werden». In: Neue Zürcher Zeitung vom 27.12.2021
3 Spescha, Geli. «Im Gespräch mit alt Staatssekretär Jean-Daniel Gerber: Wie Reformen erfolgreich angehen?» In: Die Volkswirtschaft vom 1.4.2011
4 Eisenring, Christoph. «Die Schweiz leistet sich bei der Post einen überholten Luxus – und schafft so einen ‹Service sans public›». In: Neue Zürcher Zeitung vom 29.12.2021
5 «Christine Egerszegi übernimmt Leitung der Expertenkommission Grundversorgung Post». Medienmitteilung des Bundesrates vom 20.1.2021
6 Belz, Nina; Eisenring, Christoph; Hermann, Rudolf; Rasch, Michael. «Wie viel Service public soll es sein? Während die Schweiz darüber streitet, klingelt in Schweden der Postbote nur noch jeden zweiten Tag». In: Neue Zürcher Zeitung vom 29.12.2021
7 Meier, Günther. «Liechtensteins Post verliert das Monopol über die Briefpost». In: Neue Zürcher Zeitung vom 27.12.2021

Exkurs: Nicht alle Liberalen sind neoliberal!

mw. Um den Schweizer Liberalen gerecht zu werden, ist festzuhalten, dass zwar die meisten von ihnen mit mehr Privatisierung beim Service public liebäugeln. Das heisst aber noch lange nicht, dass alle FDP-Politiker und freisinnigen Unternehmer das Rahmenabkommen oder sogar einen EU-Beitritt befürworten, um mit Hilfe des EU-Beihilfeverbots leichter zu diesem Ziel zu kommen. Im Winter 2020/21, als es um Sein oder Nichtsein des Schweizer Modells ging, traten viele junge und ältere Persönlichkeiten verschiedener politischer Couleur aus Wirtschaft und Politik an die Öffentlichkeit und sagten nein zum Rahmenvertrag und ja zur Schweiz. Sie läuteten das Ende der unseligen Verhandlungen mit Brüssel ein. Darunter waren auch viele Freisinnig-Liberale, allen voran alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann.

siehe dazu: Wüthrich, Marianne. «Es tut sich etwas in der direkten Demokratie Schweiz. Immer mehr Stimmen fordern Neustart mit Brüssel». in: Zeit-Fragen Nr. 2 vom 26.1.2021

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