Wo sind die Friedensstifter?

von Kishore Mahbubani*, Singapur

Mit der Verurteilung des Einmarsches in die Ukraine als völkerrechtswidrig war der Westen prompt. Die Besinnung darauf, wann dieser Krieg tatsächlich begann, braucht allerdings etwas länger. Und noch etwas länger wird es brauchen, bis im Westen mehr Nachdenken darüber einsetzt, warum «der Rest» der Welt – doch immerhin die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung – den Krieg aus ganz anderer Perspektive beobachtet als eben «der Westen». Kishore Mahbubani gehört zu denjenigen, die seit Jahren anmahnen, dass die westliche Vorherrschaftsmentalität in eine Sackgasse führt und dass Kooperation die weit intelligentere Form des Herangehens an globale Probleme und Herausforderungen wäre. Je schneller auch die westliche Politik das begreift, um so weniger Opfer wird der nicht mehr aufzuhaltende Übergang zu einer multipolaren Welt mit sich bringen. Eine westliche Politik, die sich noch immer für überlegen, einmalig, indispensible – unentbehrlich – hält und glaubt, zum Totschlagen berechtigt zu sein, weil man ja schliesslich «das Gute» vertritt, wird allerdings noch viel Leid nach sich ziehen. Die Liste der Opfer geht heute schon in die Millionen.

Erika Vögeli

Das eiserne Gesetz der Geopolitik

Die russische Invasion in der Ukraine ist illegal und muss von der internationalen Gemeinschaft verurteilt werden. Und sie wurde verurteilt. Als ehemaliger Botschafter bei den Vereinten Nationen verstehe und unterstütze ich voll und ganz die Notwendigkeit, die Grundsätze der UN-Charta zu schützen. Doch in der Geopolitik müssen wir immer zwei Dinge gleichzeitig tun. Wir müssen moralisieren. Und wir müssen analysieren. Da die Geopolitik ein grausames Spiel ist und der kalten und rücksichtslosen Logik der Macht folgt, müssen wir in unserer Analyse kalt, leidenschaftslos und knallhart sein. Das einzige eiserne Gesetz der Geopolitik ist, dass sie diejenigen bestraft, die naiv sind und ihre kalte Logik ignorieren.
  Hätten wir also diesen Krieg in der Ukraine vorhersehen können? Und hätten wir ihn verhindern können? Die einfache Antwort auf diese beiden Fragen lautet: Ja. In der Tat haben viele führende Staatsmänner des Westens diese Katastrophe in der Ukraine richtig vorhergesagt.
  Der wohl bedeutendste strategische Denker, den die USA im 20. Jahrhundert hervorgebracht haben, war George Kennan. Er entwickelte die berühmte Eindämmungsstrategie, mit der es letztendlich gelang, die Sowjetunion zu besiegen. Er verstarb am 17. März 2005.

Trotz eindeutiger Warnungen führender US-amerikanischer Denker

Am 21. Februar 2022 gab der berühmte Korrespondent der «New York Times», Thomas Friedman, sehr ausführlich wieder, was George Kennan ihm 1998 gesagt hatte. Auf die Frage nach den Auswirkungen der Nato-Erweiterung auf die ehemaligen Gebiete der Sowjetunion sagte er in weiser Voraussicht: «Ich glaube, das ist der Beginn eines neuen Kalten Krieges. Ich denke, die Russen werden allmählich ziemlich negativ reagieren, und das wird sich auf ihre Politik auswirken. Ich halte das für einen tragischen Fehler. Es gab überhaupt keinen Grund für diese Aktion. Niemand bedrohte einen anderen. Bei dieser Entwicklung würden sich die Gründerväter dieses Landes im Grabe umdrehen.»
  Warum also hat die Nato trotz der eindeutigen Warnungen von George Kennan weiter ihre Expansion vorangetrieben? In gewisser Weise wurde die richtige Antwort auch von George Kennan gestützt. Am 1. Dezember 1997 schrieb der berühmte und legendäre Herausgeber der Zeitschrift The National Interest, Owen Harries, einen Artikel, in dem er erklärte, warum die Nato-Erweiterung unklug sei, und nannte dann die Gründe, warum sie stattfand. Er nannte mehrere Gründe, aber ich möchte nur die ersten beiden zitieren: «die Stimmgewalt der polnischen Amerikaner sowie anderer Amerikaner mittel- und osteuropäischer Herkunft» und «die enormen Besitzstandsinteressen – Karrieren, Verträge, Beratungsfirmen, angesammeltes Fachwissen –, die vom Nato-Establishment vertreten werden, das nun einen neuen Grund und Zweck brauchte, um die weitere Existenz der Organisation zu rechtfertigen».
  Kurz gesagt: Kurzfristige innenpolitische Interessen zur Gewinnung von Wählern und engstirnige wirtschaftliche Interessen übertrumpften die geopolitische Weisheit. Unmittelbar nach der Veröffentlichung dieses Artikels durch Owen Harries schrieb George Kennan einen Brief, in dem er alle von Owen Harries angeführten Punkte unterstützte. Er sagte: «Es war in gewisser Hinsicht eine Überraschung, denn einige Ihrer Hauptargumente waren solche, die ich selbst vorgebracht hatte oder vorbringen wollte, von denen ich aber nicht erwartet hatte, sie von jemand anderem so gut dargelegt zu sehen.»
  Bemerkenswert an dem Projekt der Nato-Erweiterung ist, dass viele führende amerikanische Denker, sowohl liberale als auch konservative, dagegen waren, darunter Paul Nitze, James Schlesinger, Fred Ikle, John Mearsheimer, Jack Matlock, William Perry, Stephen Cohen, Bill Burns, Vladimir Pozner, Bob Gates, Robert McNamara, Bill Bradley, Gary Hart, Pat Buchanan, Jeffrey Sachs und Fiona Hill.

Kissinger: «Die Ukraine kann für Russland niemals nur ein fremdes Land sein»

Der bedeutendste lebende strategische Denker in den USA ist heute Henry Kissinger. Er war nicht gegen die Ausweitung der Nato auf die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Osteuropas. Aber er riet dringend davon ab, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Als guter Kenner der Geschichte wies Kissinger darauf hin, warum die Ukraine von den Russen anders gesehen wurde. In einem Artikel, der 2014 in der «Washington Post» veröffentlicht wurde, sagte Kissinger: «Der Westen muss verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein fremdes Land sein kann. Die russische Geschichte begann in dem Gebiet, das Kiewer Rus genannt wurde. Von dort aus verbreitete sich die russische Religion. Die Ukraine ist seit Jahrhunderten Teil Russlands, und ihre Geschichte war schon damals miteinander verflochten. Einige der wichtigsten Schlachten für die Freiheit Russlands, angefangen mit der Schlacht von Poltawa im Jahr 1709, wurden auf ukrainischem Boden geschlagen.»
  Als erfahrener Staatsmann schlug Kissinger eine vernünftige Kompromisslösung vor. Einerseits sagte er: «Die Ukraine sollte das Recht haben, ihre wirtschaftlichen und politischen Verbindungen frei zu wählen, auch mit Europa.» Andererseits sagte er (2014): «Die Ukraine sollte nicht der Nato beitreten, eine Position, die ich schon vor sieben Jahren vertrat, als das Thema aufkam.»
  Die wahre Tragödie der Ukraine ist, dass der Krieg in der Ukraine hätte vermieden werden können, wenn der damalige amerikanische Präsident Barack Obama (ein Friedensnobelpreisträger) den Rat von Henry Kissinger befolgt hätte. Kissingers Formel hob hervor, dass es den Ukrainern freistehen würde, ihr eigenes politisches System und ihre regionalen Zusammenschlüsse zu wählen.
  Der heftige ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion war in der Tat nicht vorhersehbar. Dieser Widerstand bestätigt den starken Wunsch des Landes, der Europäischen Union beizutreten. Und das sollte ihnen auch gestattet werden. Und wie von Kissinger empfohlen, kann die Ukraine der Nato fernbleiben und «neutral» bleiben. In der Vergangenheit war es «neutralen» Staaten erlaubt, der Europäischen Union beizutreten. Die Ukraine könnte diesem Präzedenzfall folgen. Eine solche Win-Win-Lösung hätte einen Krieg verhindern können. Zwei Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine sagte Präsident Selenski (der sich nach dem Einmarsch als regelrechter Held entpuppt hat): «Wir haben keine Angst vor Russland, wir haben keine Angst, Gespräche mit Russland zu führen, wir haben keine Angst, über irgendetwas zu diskutieren, zum Beispiel über Sicherheitsgarantien für unseren Staat, wir haben keine Angst, über den neutralen Status zu sprechen.» Hätte man sich auf einen neutralen Status geeinigt, hätte der Krieg vermieden werden können.

Die Welt benötigt weltweit geachtete Staatsmänner als Friedensstifter

Wenn künftige Historiker über diese Ereignisse in der Ukraine schreiben, werden sie sich sicherlich die Frage stellen, warum die klaren und deutlichen Warnungen führender westlicher Staatsmänner wie Kennan und Kissinger ignoriert wurden. Sie werden sich auch fragen, warum es in unserer Welt heute keine herausragenden Friedensstifter gibt, die den Konflikt hätten verhindern können.
  Dies ist vielleicht die wichtigste Lektion, die die Welt aus dem Ukraine-Konflikt lernen sollte. Kriege sind tragisch, wie sie es schon immer waren. Der Frieden muss bewahrt werden. Und die Welt muss eine Klasse von weltweit respektierten Staatsmännern aufbauen, die als weltweite Friedensstifter in Erscheinung treten könnten.
  Seltsamerweise hatten wir früher solche weltweit geachteten Staatsmänner, darunter Leute wie Nelson Mandela, Kofi Annan und Desmond Tutu. Viele von ihnen waren Mitglieder eines Rates der «Ältesten», der von Zeit zu Zeit versucht hat, ruhige und vernünftige Ratschläge zu erteilen. An solchen angesehenen Staatsmännern scheint es uns heute eindeutig zu fehlen.

Provokative Vorschläge aus den USA, die zu einem weiteren Krieg führen können

Und die Risiken nehmen weiter zu. Kürzlich sagte der ehemalige US-amerikanische Aussenminister Mike Pompeo in Taiwan, die USA sollten «sofort die notwendigen und längst überfälligen Schritte unternehmen, um das Richtige und Offensichtliche zu tun, nämlich der Republik China (Taiwan) die diplomatische Anerkennung Amerikas als freies und souveränes Land anzubieten». Man muss kein geopolitisches Genie sein, um herauszufinden, dass sein Rezept zu einem Krieg um Taiwan führen würde.
  Da sein provokativer Vorschlag zu einem Krieg führen könnte, einem Krieg, der noch zerstörerischer sein könnte als der Krieg in der Ukraine, würde man erwarten, dass sich weltweit ein Chor von Stimmen erhebt und die rücksichtslose Erklärung von Mike Pompeo verurteilt, die zu einem Krieg führen könnte.
  Bislang habe ich noch keine führende Stimme auf unserem Planeten gehört, die seine Erklärung verurteilt hätte. Und genau das ist der Kern unseres globalen Problems. Wo sind die globalen Friedensstifter, wenn wir sie mehr denn je brauchen?  •

Quelle: https://ari.nus.edu.sg/app-essay-kishore-mahbubani-4/.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

(Übersetzung Zeit-Fragen)



Kishore Mahbubani, Distinguished Fellow am Asia Research Institute, National University of Singapore (NUS) ist Autor des Buches "Has China Won?"


George F. Kennan* zur Nato-Ost-Erweiterung

«Der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Nachkriegszeit»

«Ende 1996 wurde der Eindruck zugelassen oder erweckt, es sei irgendwie und irgendwo beschlossen worden, die Nato bis an die Grenzen Russlands zu erweitern.
  [Aber] hier geht es um etwas von höchster Bedeutung. Und vielleicht ist es noch nicht zu spät, um eine Ansicht zu vertreten, die, wie ich glaube, nicht nur die meine ist, sondern von einer Reihe anderer mit umfangreichen und in den meisten Fällen neueren Erfahrungen in russischen Angelegenheiten geteilt wird. Die Ansicht ist, unverblümt gesagt, dass die Erweiterung der Nato der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Nachkriegszeit wäre.»

George F. Kennan. «A fateful Error».
In: «New York Times» vom 5. Februar 1997



George Frost Kennan (* 16. Februar 1904 in Milwaukee, Wisconsin; † 17. März 2005 in Princeton, New Jersey) war ein US-amerikanischer Historiker und Diplomat. Er war der geistige Vater der Eindämmungspolitik der USA gegen die Sowjetunion (Containmet) in der Zeit des Kalten Krieges. Zwischen 1926 und 1961 arbeitete er für das Aussenministerium der Vereinigten Staaten, unter anderem in Moskau, Berlin, Prag, Lissabon und London.

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