Besinnen wir uns zurück auf die Bedeutung der Neutralität

Gespräch mit Nationalrat Franz Grüter, Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates

mw. Schweizer Sanktionen gegen russische Vermögen haben Hochkonjunktur. Am 3. Mai 2022 hat die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates (APK-N) mehreren Gesetzesänderungen zugestimmt, die unter anderem den Bundesrat, also die Exekutive, dazu ermächtigen würden, «eigenständig» weitgehende Sanktionen und Zwangsmassnahmen gegen Einzelpersonen und Unternehmen zu erlassen. Am 8. Mai überrundete die Sozialdemokratische Partei der Schweiz diese rechtsstaatlich fragwürdigen Forderungen noch und kündigte eine Motion im Nationalrat an: Laut Co-Präsidentin Mattea Meyer soll die Schweiz gemäss der Tagespresse Vermögen von sanktionierten russischen Personen und Unternehmen nicht nur einfrieren, sondern enteignen und der Ukraine für den Wiederaufbau des Landes übergeben!
  Heute, wo leider auch in der Schweiz manche Politiker und die meisten Medienredaktionen ihren Kompass nicht mehr auf das Neutralitätsprinzip ausrichten und bereit sind, rechtsstaatliche Grundsätze in den Wind zu schlagen, ist es eine Wohltat, mit einem Parlamentarier wie Franz Grüter sprechen zu können, der auch in der heutigen Zeit seine Erdung im Schweizer Staatsmodell nicht verliert. Franz Grüter ist seit 2015 Nationalrat (SVP Luzern) und Unternehmer im IT-Bereich.

Zeit-Fragen: Herr Nationalrat Grüter, Sie sind seit kurzem Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK-N). Was ist Ihre Aufgabe als Kommissionspräsident? Ist es in der heutigen Stimmung nicht eher schwierig, dieses Amt auszuüben?
Franz Grüter: Ja, als ich diese Funktion anfangs Januar übernommen habe, bin ich davon ausgegangen, dass das Europa-Dossier weiter im Zentrum der Schweizer Aussenpolitik stehen wird. Sechs Wochen später geschah etwas, was niemand erwartet hat: Die Ukraine-Krise eskalierte zu einem Krieg. Wir haben eine völlig neue Situation, und ich geriet in meiner Funktion als Präsident der Aussenpolitischen Kommission quasi in das Auge des Hurricans. Bis heute spüre ich, wie sehr die Stimmung aufgewühlt ist, wie Grundsatzfragen über Nacht andere Prioritäten erhalten, wie die Neutralitätsfrage plötzlich ins Zentrum einer neuen Grundsatzdiskussion gestossen wurde. Für mich ist es eine sehr intensive Zeit, wahrscheinlich auch weiterhin. Jetzt werden wir dann noch Mitglied des Uno-Sicherheitsrates, auch dies eine umstrittene Frage. Ich übe die Funktion als APK-Präsident für zwei Jahre aus, also bis Ende 2023, und all dies geschieht während meiner Amtszeit.

In der Kommissionssitzung vom 3. Mai 2022 ging es unter anderem um die Ermächtigung des Bundesrates, «eigenständig Sanktionen zu ergreifen». In der Medienmitteilung war von einem «Paradigmenwechsel» die Rede. Können Sie die Vorstösse, die die APK-N beschlossen hat, kurz umreissen?
Wir haben das Embargogesetz beraten, es regelt unter anderem die Kompetenzen des Bundesrates, wenn es um Sanktionen geht. Bis anhin konnte der Bundesrat nicht eigenständig Sanktionen anordnen, ausser wenn die Schweiz in einer derart aussergewöhnlichen Situation gewesen wäre, dass er unter Notrecht hätte Sanktionen anordnen können. Aber am 3. Mai hat die Kommissionsmehrheit einen Paradigmenwechsel beschlossen – Paradigmenwechsel ist tatsächlich das richtige Wort. Darüber wird natürlich das Parlament entscheiden, im Juni wird sich zuerst der Nationalrat damit befassen. Die APK will, dass der Bundesrat neu in eigener Kompetenz Sanktionen anordnen kann, und zwar nicht nur gegen Staaten, sondern auch gegenüber Personen und «Entitäten», also Unternehmen. Das wirft viele Fragen auf, wie sich das mit dem Neutralitätsrecht verträgt, wie weit dieses tangiert wird. Weil viele sich dessen bewusst sind, hat die Kommission auch beschlossen, dass wir das Thema Neutralität als Schwerpunkt auf die Agenda nehmen müssen. Nach der Sommerpause werden dazu Anhörungen stattfinden.

Neben der Neutralität werden doch auch Grundrechte tangiert, wenn man das Eigentum der Leute beschlagnahmt.
Ja, das sind auch rechtsstaatliche Fragen, wenn man quasi ohne Gerichtsurteile Enteignungen vornimmt. Da müssen wir aufpassen, dass wir unsere rechtsstaatlichen Grundsätze, die Rechtssicherheit, die Eigentumsgarantie, nicht einfach über den Haufen werfen.

Die Kommissionsminderheit – ich nehme an, dass Sie dazu gehören – hat versucht, gegen die Missachtung des Neutralitätsgebots dagegenzuhalten. Gibt es auch Parlamentarier anderer Fraktionen neben der SVP, die Gegensteuer geben wollen?
Hier bin ich leider als Kommissionspräsident ans Kommissionsgeheimnis gebunden. Wir sagen nicht, wer sich wie dazu geäussert und wer wie abgestimmt hat.

Nato: «Die Schweiz darf da nicht mitmachen, sonst ist sie schlicht und einfach nicht mehr neutral»

Einige Schweizer Politiker und Medien nutzen die aktuelle Situation, um sich der Nato weiter anzunähern, über die «Partnership for Peace» hinaus. Wie sehen Sie das als Schweizer Offizier?
Diese Frage hängt ja auch mit der Neutralität zusammen. Die Schweiz wurde in den letzten 200 Jahren auch dank der Neutralität vor blutigen Konflikten bewahrt. Aus meiner Sicht ist die Neutralität ein wichtiger Stützpfeiler der Schweizer Aussenpolitik. Sie hat uns als Kleinstaat immer wieder ermöglicht, nicht nur sicher zu bleiben, sondern auch ein Ort zu sein, wo Streitparteien sich hinwenden konnten, wo man vermittelt, auf neutralem Grund. Das ist natürlich nur möglich, wenn wir nicht Partei ergreifen, wenn wir nicht selbst in einen Konflikt hineingehen. Die Nato war ein Verteidigungsbündnis, hat aber in der Vergangenheit auch offensiv Krieg geführt, so in Serbien. Die Schweiz darf da nicht mitmachen, sonst ist sie schlicht und einfach nicht mehr neutral. Das Programm PfP ist wahrscheinlich noch akzeptabel, dort sind wir ja schon länger dabei, aber alles, was darüber hinausgeht, ist sehr, sehr heikel. Stand heute würde ein näherer Anschluss an die Nato sicher die Neutralität massiv gefährden.

Alt Botschafter Paul Widmer sagt, schon der Beitritt der Schweiz zur PfP sei aus neutralitätsrechtlicher Sicht fragwürdig gewesen.
In gewissen Bereichen – wenn ich an die Cyber-Sicherheit oder den Nachrichtendienst denke – gibt es heute Austausch, der möglicherweise Sinn macht. Auch haben wir Rüstungsgüter von westlichen Staaten eingekauft, auch jetzt den F-35. Rein technologisch könnten wir uns in diese Systeme einbinden lassen, aber dort müssen wir ganz klare Grenzen ziehen. In dieses Bündnis hineingehen oder uns so stark annähern, dass wir sogar Truppen ins Ausland schicken, dass wir an militärischen Übungen teilnehmen, das geht viel, viel zu weit. Das wäre ein Sargnagel für die Neutralität, deshalb dürfen wir das aus meiner Sicht unter keinen Umständen machen.

«Die Neutralitätsfrage geht so tief in die DNA unseres Landes, dass wir die Diskussion führen müssen»

Jetzt ist die Frage: Was tun? Kürzlich haben Sie gesagt, man sollte während einer Krise keine kurzfristigen Entscheide treffen. Sie haben als APK-Präsident die Neutralität als Schwerpunktthema auf die Agenda der Kommission gesetzt. Im September steht eine Neutralitätsdiskussion in den beiden Aussenpolitischen Kommissionen des National- und des Ständerates an. Was erhoffen Sie sich davon?
Das ist eigentlich ein alter Führungsgrundsatz: Man sollte nie, wenn man in einer emotional extrem aufgeladenen Stimmung ist, kurzfristig Entscheidungen fällen, die eine Langzeitwirkung haben, denn das sind in der Regel keine guten Entscheidungen.
  Die Neutralitätsfrage geht so tief in die DNA unseres Landes, dass wir die Diskussion führen müssen – wir müssen sie führen! Es ist so viel geschehen, mit den Sanktionen, die ergriffen wurden, mit den Bestrebungen, uns in die Nato zu begeben oder uns ihr anzunähern, mit der Mitgliedschaft im Uno-Sicherheitsrat. Ich glaube aber, diese Diskussion müssen wir dann führen, wenn der Staub sich ein wenig gelegt hat, wenn wir ein klein wenig aus einer gewissen Distanz über diese Themen sprechen können.
  In der Vergangenheit hat man immer wieder gesehen, dass Entscheidungen, die in der Hitze des Gefechts getroffen wurden, mittel- und langfristig Fehlentscheidungen waren. Nach der Fukushima-Katastrophe, zwei, drei Tage später, hat der Bundesrat den Ausstieg aus der Kernkraft angekündigt, heute, zehn, zwölf Jahre später, merken wir, es gibt neue Technologien. Wir laufen in einen Engpass hinein in der Energieversorgungssicherheit. Vielleicht hätte man auch damals gut daran getan, die Frage zwar schon zu stellen, aber ein wenig zu warten, bis die Emotionen sich gelegt haben.
  Die Neutralität ist sehr wichtig für unser Land, deshalb werden wir im Herbst Anhörungen durchführen. Man kann diese Frage rein juristisch anschauen, wir werden auch Juristen anhören, aber man kann die Frage auch politisch anschauen. Ein Beispiel: Das IKRK, das immer den Menschen geholfen hat in dieser Welt, und zwar auf beiden Seiten, sie haben immer mit beiden Kriegsparteien gesprochen und verhandelt, deshalb war auch IKRK-Chef Peter Maurer nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Moskau. Ich möchte zum Beispiel jemanden vom IKRK hören: Wie wichtig ist die Neutralität für das Rote Kreuz, das ja auch eine Tradition der Schweiz ist, im Bereich der humanitären Hilfe?
  Das wird eine breite Anhörung geben. Es muss möglich sein, die Frage der Neutralität kontrovers zu diskutieren. Aber ich erhoffe mir natürlich, dass am Schluss das Resultat sein wird, dass wir uns zurückbesinnen auf die Bedeutung der Neutralität und dass wir bereit sein müssen, auch Nachteile in Kauf zu nehmen. Neutral zu sein ist natürlich etwas Unangenehmes. Es ist viel einfacher und viel bequemer, nicht neutral zu sein: Dann bekennt man sich einfach zu einer Seite. Wenn man sagt: Wir sind neutral, dann wird man natürlich von beiden Seiten unter Druck gesetzt, und das war im aktuellen Krieg nicht anders. Beide Aussenminister haben sich an die Schweiz gewendet und gefragt, auf welcher Seite wir stehen. Da wäre es am Bundesrat gewesen zu sagen: Wir sind neutral und bleiben neutral. Das hat er nicht getan, und das ist sehr bedauerlich. Die Schweiz hat ihre traditionelle Rolle der Guten Dienste mit Sicherheit geschwächt.

«Es braucht am Schluss das Schweizervolk»

Wahrscheinlich wird es auch eine Volksinitiative geben, die in die Bundesverfassung nicht nur schreiben will, dass die Schweizer Neutralität bewaffnet und immerwährend ist. Sondern wir müssen in Zukunft von einer integralen [also alles umfassenden] Neutralität sprechen und den Begriff breiter und tiefer definieren.

Alt Bundesrat Christoph Blocher plant ja eine solche Volksinitiative. Wie ist hier der Stand? Und wie können wir eine breite Diskussion in die Wege leiten?
Es gibt eine Arbeitsgruppe, die an verschiedenen Varianten arbeitet. Die Initiative wird kommen, und ich finde es gut, dass die Schweizer Bevölkerung ganz am Schluss darüber entscheiden kann.
  Ich bin überzeugt, dass die Bedeutung der Neutralität in der Bevölkerung viel breiter abgestützt ist, als man das hier in Bern und vor allem auch in den Medien wahrnimmt. Es hat Umfragen gegeben, ob die Schweiz Waffen in die Ukraine liefern solle – das wird übrigens von Politikern und Medien auch gefordert. Von x-tausend Leuten, die bei Online-Umfragen mitgemacht haben – nun kann man sagen, das sei nicht repräsentativ, aber es sind x-tausend Leute – haben zwei Drittel gesagt: Nein, das geht nicht, das verstösst gegen unsere Neutralität.
  Deshalb glaube ich, es braucht am Schluss das Schweizervolk, das an der Urne sagen können muss: Wollen wir die Neutralität weiter hochhalten? Wollen wir sogar von einer «integralen Neutralität» sprechen? Das werden wir wahrscheinlich nur über die Bevölkerung und nicht über das Parlament und den Bundesrat lösen können.

Selbstversorgung: Sanktionen wirken vor allem auf die eigene Bevölkerung

Eine Motion der APK-N vom 3. Mai verlangte den Verzicht auf den Handel mit russischem Öl und Gas. Wie wird es in der Schweiz laufen mit der Energie aus Russland?
Solche Forderungen tönen vielleicht populär bei gewissen Leuten, aber man muss die Kraft haben zu sehen, dass die Konsequenzen so extrem sind, dass man so etwas nicht aus der Hüfte heraus entscheiden sollte. Diese Motion wurde am 3. Mai von der Aussen-politischen Kommission des Nationalrates zum Glück abgewiesen, mit 13 zu 12 Stimmen und der Hauptbegründung, dass der Handel praktisch über Nacht in andere Länder verlegt werden könnte.
  Dazu etwas Allgemeines: Die Krise zeigt wieder einmal auf, wie abhängig wir zum Teil geworden sind, nicht nur in bezug auf die Energie: Auch die Lebensmittelsicherheit ist in gewissen Ländern mindestens gefährdet. Die Sanktionen gegen Russland zeigen ja im Moment dort keine grosse Wirkung. Diese Woche wurde bekannt, dass die gleichen Volumen der Öl-Importe, welche die EU unterbindet, bereits von Indien eingekauft werden. Die Sanktionen haben mehr oder weniger alle westlichen Staaten ergriffen – aber der Rest der Welt, Indien, China, viele arabische Länder, Afrika, der Grossteil der Länder, haben keine Sanktionen ergriffen. Russland verkauft deshalb nicht weniger Öl, sie verkaufen es einfach an andere Länder.
  Wo die Sanktionen hingegen eine Wirkung haben, ist bei der eigenen Bevölkerung. Wir haben eine massive Verteuerung der Energie, die Treibstoffpreise sind für viele Kleinverdiener kaum mehr bezahlbar, Dieselpreis 2.20, 2.30 Franken. Die Leute, die auf das Auto angewiesen sind, leiden wirklich darunter. Wir müssen schauen, dass die Sanktionen nicht zu einer Retourkutsche werden für die eigene Bevölkerung. In der Schweiz ist die Abhängigkeit vielleicht nicht so schlimm, aber in Deutschland ist wirklich die Energieversorgungssicherheit nicht mehr gewährleistet. Sie sind viel abhängiger vom russischen Gas, da stehen Tausende von Arbeitsplätzen auf dem Spiel.

Herr Nationalrat Grüter, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

«Ein Krieg kennt immer nur Verlierer» (Franz Grüter)

In seinem «Tagebuch» beschreibt Franz Grüter seinen zweitägigen Besuch mit Bundespräsident Ignazio Cassis an der ukrainischen Grenze, wo sie mit verschiedenen Menschen sprachen und humanitäre Hilfe anboten.
  «Wie lautet in aller Kürze das Fazit nach diesen zwei Tagen? Ein Krieg kennt immer nur Verlierer. Das Leiden der Menschen ist gross. Die humanitäre Hilfe der Schweiz funktioniert gut, effizient und verdient Unterstützung. Damit wird den Menschen vor Ort geholfen. Es bleibt zu hoffen, dass es den Streitparteien gelingen wird, sich in Friedensverhandlungen zu einigen, auch wenn dies zurzeit eher ein frommer Wunsch ist. Leider wird die Schweiz vermutlich nicht mehr das Land sein, das von beiden Streitparteien als unabhängiger und neutraler Ort der Vermittlung angesehen wird.
  Die Besuche haben mir deutlich gezeigt, wie schlimm allzu grosse Abhängigkeiten bei der Energieversorgung und der Nahrung sein können. Ich bin deshalb überzeugt, dass wir auch in der Schweiz dafür sorgen müssen, in der Energie- und Nahrungsmittelversorgung möglichst unabhängig zu bleiben.»

Quelle: Grüter, Franz. «Tagebuch» (Auszug). Weltwoche vom 24.3.2022

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