«Europa kann nur verlieren»

Existentielle politische, wirtschaftliche und kulturelle Dimensionen des Ukraine-Krieges

von Guy Mettan

Ich freue mich über dieses Treffen und danke Ihnen, dass Sie es organisiert haben. In meiner Einführung möchte ich zwei Probleme ansprechen, die mir für das Verständnis der aktuellen Ereignisse in der Ukraine wesentlich erscheinen. Der erste Aspekt betrifft das Wesen dieses Krieges. Im zweiten Teil meiner Überlegungen werde ich versuchen zu erklären, warum meiner Meinung nach ein Frieden in Europa derzeit unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich ist und in ziemlich weiter Ferne liegt.

Das Wesen dieses Krieges

Zunächst zum Wesen dieses Krieges. Meiner Meinung nach handelt es sich nicht nur um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, wie es tendenziell angenommen wird. Gewiss ist es ein Krieg zwischen diesen beiden Nachbarländern, und er hat daher unbestreitbar eine lokale und regionale Dimension. Es wäre jedoch falsch, ihn darauf zu reduzieren. Es ist auch ein Krieg der Zivilisationen, ein globaler Krieg, in dem sich Russland mit Unterstützung Chinas auf der einen Seite und die Vereinigten Staaten, die Nato und die gesamte westliche Welt auf der anderen Seite gegenüberstehen. Aus diesem Grund kann man diesen Krieg als einen unbegrenzten, grenzenlosen Krieg bezeichnen, auch wenn es sich nicht um kompakte Blöcke handelt, wie man sie während des Kalten Krieges verstanden hat. Gabriel Galice, Vorsitzender des Geneva International Peace Research Institute GIPRI, hat ihn in einem Video des Blogs Antithèse sehr gut beschrieben.1
  Die regionale Dimension ist bekannt. Es ist der Donbass-Konflikt, eine Folge des Staatsstreichs vom 22. Februar 2014, der auf die Maidan-Proteste folgte und den Aufstand der Bevölkerung des Donbass gegen Kiew auslöste, nachdem das neue nationalistische Regime den offiziellen Gebrauch der russischen Sprache verboten hatte. So viel zur regionalen Dimension.
  Es ist jedoch seine globale, existentielle Dimension, die immer mehr in den Vordergrund rückt, sowohl auf der Ebene der militärischen Operationen (die alle militärischen Kräfte der Nato gegen Russland mobilisieren, unter Ausschluss eines Truppeneinsatzes auf ukrainischem Boden) als auch auf der strategischen Ebene. Aus diesem Grund kann man von einem Krieg der Zivilisationen und einem unbegrenzten Krieg sprechen. Warum ist er unbegrenzt? Weil er die Gesamtheit der menschlichen Aktivitäten betrifft. Es ist ein Konflikt, der weit über den rein militärischen Aspekt hinausgeht.
  Es ist in erster Linie ein Wirtschaftskrieg zwischen zwei Welten, Russland, einschliesslich China und zahlreicher anderer Länder wie Indien, im Kampf gegen die Hegemonie des Westens und seiner Verbündeten. Die gegen Russland verhängten Sanktionen sind eine Form des Krieges, der mit Embargos und Blockaden geführt wird. Dieser Wirtschaftskrieg ist noch unbegrenzter und grenzenloser als der Militärkrieg, weil der Militärkrieg zumindest im Moment auf das Territorium der Ukraine und auf konventionelle Mittel beschränkt bleibt. Er bleibt glücklicherweise unterhalb der nuklearen Schwelle, der Atombomben. Auf wirtschaftlicher Ebene hingegen kann man von einem fast totalen Krieg sprechen.

Ein Krieg um das Recht auf eigene Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenleben

Es ist auch ein kultureller, ein ideologischer Krieg, ein Informationskrieg, der alle Aspekte unseres täglichen Lebens betrifft. Es ist klar, dass es hier um zwei unterschiedliche Weltanschauungen geht. Die liberale oder vielmehr neoliberale Ideologie versucht, die Herrschaft des wirtschaftlichen Laissez-faire und der sogenannten progressiven Moral gegen Menschen durchzusetzen, die ihr Recht auf eine eigene Vorstellung vom Leben in der Gesellschaft verteidigen.
  Es ist auch ein Krieg des Individualismus und der abstrakten Werte gegen eine traditionellere und humanistischere Vision der menschlichen Gesellschaft. Ich verstehe unter progressiv das, was der LGBT-, Woke-, Diversity-, Multi-Kulti-Ideologie zuzuordnen ist, im Vergleich zu einer eher konservativen Vision oder einer, die mehr darauf bedacht ist, das Erbe des alten griechischen, lateinischen und christlichen Humanismus zu respektieren.
  Dieser Krieg ist auch räumlich unbegrenzt, weil er den gesamten Planeten betrifft und nicht nur zwei Länder. Es sind alle Länder der Welt betroffen, nicht nur Europa, sondern auch die Nato, China, Indien und die Länder des globalen Südens. Für den Westen ist es eine Frage des Überlebens. Es geht um die Aufrechterhaltung seiner Hegemonie über die Welt, die er seit fünf Jahrhunderten ausübt. Deshalb will der Westen unter Führung der USA den Krieg bis zum bitteren Ende führen und Russland so weit wie möglich «schwächen», wie der US-Verteidigungsminister anlässlich seines Besuches in Kiew Ende April sagte.

Erwachen der nicht-westlichen Länder

Diese weltweite Dimension lässt sich auch am Erwachen der nicht-westlichen Länder beobachten. China unterstützt Russland, obwohl es immer versucht hatte, sich aus der Sache herauszuhalten und eine gewisse Neutralität zu bewahren. Nun hat es festgestellt, dass es gezwungen ist, für Russland Partei zu ergreifen, da es Gefahr läuft, zum nächsten Ziel zu werden.
  Die gleiche Beobachtung gilt für Indien. Indien hat immer den Grundsatz der Blockfreiheit verteidigt und war bedacht, sich bedeckt zu halten. Doch Delhi unterstützt Russland de facto, indem es auf Sanktionen verzichtet. Die Inder haben erkannt, dass dies eine Gelegenheit für sie ist, sich auf der internationalen Bühne zu behaupten und den alten angelsächsischen Kolonialismus zu beseitigen, dessen Opfer sie zwei Jahrhunderte lang waren.
  Schliesslich ist auch in Afrika ein Erwachen zu beobachten. Viele afrikanische Länder neigen der russischen Seite zu, so auch Saudi-Arabien, obwohl es ein alter Verbündeter der USA ist. Nach dem Debakel in Afghanistan beginnt das Land nachzudenken und sich von den USA zu distanzieren. So ist es bereit, sein Öl in Yuan an die Chinesen zu verkaufen und nicht mehr in Dollar. Was Lateinamerika betrifft, so sieht man, dass Brasilien, Argentinien, Bolivien, Kuba, Venezuela, Nicaragua, aber auch Mexiko ziemlich positiv gegenüber Russland eingestellt sind.
  Europa, Japan und die USA beglückwünschten sich selbst und sagten, sie hätten eine Heilige Allianz gegen Russland erreicht. Bei einem genauen Blick auf die Weltkarte stellt sich die Situation jedoch ganz anders dar. Nur 37 Länder haben Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt, während 150 Länder sich davor gehütet haben.
  Fazit: Dieser Krieg ist in seinem Spektrum und seiner Ausdehnung unbegrenzt, aber auch zeitlich. Ich denke, er wird andauern. Er wird nicht morgen enden. Die militärischen Operationen werden wahrscheinlich abnehmen und vielleicht in ein paar Wochen oder Monaten aufhören. Aber in den anderen Bereichen des Krieges – den wirtschaftlichen, kulturellen und ideologischen – wird er weitergehen. Der Konflikt markiert einen Wendepunkt, der das Ende der mit den Seemächten verbundenen neoliberalen Globalisierung und den Beginn einer neuen Form der Globalisierung ankündigt, die sich stärker auf die Kontinente konzentriert. Es ist der Anfang vom Ende der Dominanz des angelsächsischen Seeimperiums, von Grossbritannien und den USA, die Inseln sind, gegenüber den kontinentalen Mächten, die von Russland, China, Indien, Pakistan und dem Iran verkörpert werden und Landmächte sind. Wir erleben die Revanche der Kontinentalmächte gegenüber den Seemächten.

Neue Phase von Militäroperationen

Nun einige Worte zu den militärischen Operationen. Aus militärischer Sicht sind die Kämpfe in eine neue Phase eingetreten. Die Operationen konzentrieren sich auf den Osten der Ukraine und entfalten sich langsam, knabbernd, Schritt für Schritt. Nachdem die grosse militärische Infrastruktur der Ukraine – Flughäfen, Kommandozentralen, Depots und Waffenfabriken – in der ersten Phase zerstört worden war, besteht das Ziel der Russen nun darin, den Grossteil der ukrainischen Armee zu zerstören, die sich im Donbass konzentriert, wo sie acht Jahre lang verstärkt werden konnte. Der Vormarsch ist langsam, weil die Russen die russischsprachige und slawische Bevölkerung, die in diesen Gebieten lebt, nicht massakrieren wollen. Im Gegensatz zu dem, was in unserer Presse zu lesen ist – in einem Krieg gibt es immer viele Opfer, und ich versuche nicht, den Krieg zu rechtfertigen – wollen die Russen nicht ihre eigenen Freunde töten, Bevölkerungen, die ihnen nahestehen. Das würde keinen Sinn ergeben, weshalb sie vorsichtig vorgehen. Sie wollen nicht die amerikanische Strategie anwenden, die darin besteht, massiv zu bombardieren und alles zu zerstören, bevor sie vorrücken. Wenn sie das täten, würden sie ihre eigenen Freunde massakrieren. Und die Schwierigkeit für die Russen besteht darin, dass die ukrainische Armee seit acht Jahren mit Hilfe amerikanischer, kanadischer und englischer Ausbilder reformiert und trainiert wird und dass die Truppe der Wehrpflichtigen sorgfältig von Asow-Vergeltungsbataillonen überwacht wird. Die ukrainischen extremistischen Nationalisten kontrollieren also die reguläre Wehrpflichtigenarmee und sind dafür verantwortlich, Soldaten auszuschalten, die sich ergeben wollen oder den Kampf meiden. Ihre Aufgabe ist um so leichter, als die Asowschen Kämpfer Westukrainer sind, die die russischsprachigen und orthodoxen Slawen im Osten verachten. Sie sprechen Ukrainisch und nicht Russisch. Für sie ist es nicht schlimm, wenn Menschen aus dem Osten sterben.
  Gleichzeitig wird der Ukraine nahezu unbegrenzte militärische Unterstützung in Form von Waffenlieferungen, Nachrichten-, Führungs- und Beratungsleistungen, Ausbildung von Soldaten auf ausländischem Hoheitsgebiet, von Cyberkrieg, Desinformation und psychologischen Operationen gewährt. Diese militärische und finanzielle Unterstützung aus den dreissig Nato-Ländern kann die Kämpfe nur verlängern und die Zahl der Opfer erhöhen.
  Deshalb werden die Operationen vor Ort aus militärischer Sicht einige Zeit in Anspruch nehmen.

Warum Frieden kurzfristig kaum möglich ist

Ich komme nun zum zweiten Teil meines Beitrages: Wie wird das alles enden? Gibt es Hoffnung auf Frieden? Ich denke, dass Frieden kurzfristig äusserst schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein wird. Zunächst einmal, weil die Ukraine bzw. die Regierung von Selenski nicht Frieden schliessen will und auch nicht schliessen kann. Warum ist das so? Es gibt ein Video aus dem Jahr 2019, das Selenski nach seiner Wahl bei einem Besuch im Donbass zeigt, wo er versucht, das Minsker Abkommen, das sein Land unterzeichnet hatte, durchzusetzen. Man sieht, wie er sich an das Asow-Bataillon wendet und die Offiziere auffordert, sich zurückzuziehen und die schwere Artillerie gemäss dem Minsker Abkommen 18 Kilometer hinter die Frontlinie zurückzuziehen. Auf dem Video ist dann zu sehen, wie die Anführer des Asow-Bataillons Selenski drohen und sich weigern, ihm zu gehorchen. Schlussfolgerungen: 1. nicht Selenski, sondern Asow regiert das Land und 2. Friedensverhandlungen bedeuten Lebensgefahr, wie sich im März zeigte, als ukrainische Todesschwadronen zwei der Kiewer Verhandlungsführer töteten, weil sie als zu friedensfreundlich eingestuft und der Kollusion mit dem russischen Feind verdächtigt wurden.
  Der zweite Grund ist, dass die Amerikaner, die die ukrainische Regierung beraten und lenken, ebenfalls keinen Frieden wollen. Ihre letzten Erklärungen waren diesbezüglich sehr deutlich. Und wie der ehemalige brasilianische Präsident Lula da Silva kürzlich sagte [vgl. Artikel «Lula da Silva: EU und USA hätten Krieg verhindern können» in dieser Ausgabe], wäre das dennoch von ihnen zu erwarten gewesen. Die USA werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um Russland zu ruinieren und ins 19. Jahrhundert zurückzuschicken (was die Russen zum Schmunzeln brachte, da Russland nie so gross war wie im 19. Jahrhundert!). Joe Biden hat noch ein weiteres Ziel vor Augen, nämlich die im November stattfindenden Zwischenwahlen zu gewinnen. Da er von den Republikanern als zu weich kritisiert wird, wird er auch zur Eskalation gedrängt und hat alles Interesse daran, den Krieg zu verschärfen, um in den Umfragen zu steigen und von seinem mehr als umstrittenen Management der nationalen Angelegenheiten und der Wirtschaft abzulenken.
  Auch die Russen wollen jetzt keinen Frieden, insofern ihre militärischen und politischen Ziele noch nicht erreicht sind. Die Russen haben drei Bedingungen gestellt: Entnazifizierung, Neutralisierung und Anerkennung der Unabhängigkeit der Krim und des Donbass. Bisher wurden diese Ziele nur zu 50 % erreicht. Das ist nicht ausreichend. Die Entmilitarisierung hat teilweise stattgefunden, aber die Donbass-Armee muss noch besiegt und vor allem die Neutralität der künftigen Ukraine erreicht werden. Auch das, was die Russen als Entnazifizierung bezeichnen, also die Beendigung der Kontrolle der nationalistischen extremen Rechten und der Asow über das politische und militärische Leben der Ukraine, ist auf halbem Wege. Der Sieg in Mariupol, der Hauptstadt der Asow, und die «Befreiung» der Küstenprovinzen waren wichtige Schritte, aber die Region Charkiw und der Rest des Donbass müssen noch «entnazifiziert» werden.

Butscha Brandbeschleuniger der Anti-Russland-Hysterie

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ein Frieden unmöglich ist: Butscha und sein medienwirksames «Massaker». Als sich die Russen Ende März nach den Verhandlungen in der Türkei aus der Region Kiew zurückzogen, sahen sich die Russen mit dem Fall Butscha konfrontiert, der offensichtlich grösstenteils eine gekonnte Inszenierung ist. Es ist offensichtlich, dass die Opfer von Butscha an den Folgen des Krieges gestorben sind. Sie sind Kriegsopfer, und das ist eine Tragödie, die wir alle anerkennen müssen, vor allem, wenn es sich um Zivilisten handelt. Aber diese zivilen Opfer waren nicht notwendigerweise Ziel eines russischen Massakers. Diese Menschen wurden auch durch Bombardements getötet, insbesondere durch ukrainische Bombardements, da die Stadt von den Russen besetzt war und daher von der ukrainischen Armee bombardiert wurde und vier Wochen lang heftig umkämpft war.
  Es ist möglich, dass es zu Übergriffen durch russische Soldaten gekommen ist. Solche gibt es in allen Kriegen, und es wäre erstaunlich, wenn es in Butscha während der wochenlangen Besetzung keine gegeben hätte. Daher sollte man diese Hypothese nicht ausschliessen. Es ist aber auch nicht auszuschliessen, dass es Zivilisten gab, die von den Todesschwadronen der Asow und der Safari-Gruppe massakriert wurden, die die Stadt in den zwei Tagen zwischen dem Abzug der russischen Truppen und dem Bekanntwerden des «Massakers» in Butscha durchkämmten. Es sei daran erinnert, dass diese ukrainischen Soldaten auf ihren Webseiten offiziell angekündigt hatten, dass sie «die Saboteure und Komplizen der Russen» eliminieren würden, die verdächtigt wurden, mit dem Feind paktiert zu haben, indem sie Kekse, Wasser oder Essen von den Russen annahmen.
  All das bedeutet, dass es in Butscha mehrere Arten von Opfern gibt, die aus unterschiedlichen Gründen gestorben sind, die man aber ausschliesslich als durch die Russen begangene Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder sogar «Völkermord» einordnet. Selbst die Satellitenfotos, die entgegenkommenderweise von einer amerikanischen Firma im Auftrag des Pentagons zur Verfügung gestellt wurden, sind höchst verdächtig. Sicher ist hingegen, dass das Verbrechen, wenn es denn ein Verbrechen ist, ausschliesslich den Ukrainern und dem Westen zugute kommt. Dies verstärkt die Vermutung, dass es sich um eine Inszenierung oder zumindest um ein grobes Arrangement mit der Wahrheit handelt.
  Denn der Fall und die anschliessende Mediatisierung mit ihrem Tross von Journalisten, die in Bussen herangefahren und von ukrainischen Offizieren betreut wurden, und ihren Prozessionen westlicher Politiker, die sich in einer Art makabrem Tourismus an den Ort des Geschehens begaben, werden dazu gedient haben, die europäische und ukrainische Öffentlichkeit gegen Russland zu hysterisieren. Die Warnung ist nun für jedermann klar: Die Ukrainer wissen, dass sie gnadenlos liquidiert werden, wenn sie mit den Russen zusammenarbeiten. Genauso wissen diejenigen, die sich im Osten und Süden auf die Seite der Russen gestellt haben, dass sie keine andere Wahl mehr haben: Jede Rückkehr zu einem von Nationalisten dominierten ukrainischen Regime ist ihnen bei Todesstrafe verboten.
  Ich habe die gleiche Szene in Sarajewo während des Krieges 1993 erlebt, mit der gleichen Art von Drehbuchgestaltung, die für die westlichen Medien bestimmt war, und den gleichen Auswirkungen auf die Kämpfer. Derartige Montagen dienen nur dazu, die Extremisten auf beiden Seiten zu stärken und zu Pogromen und Massakern zu führen. Sie wirken wie selbsterfüllende Prophezeiungen. Das Ziel ist es, beide Seiten unversöhnlich zu machen. Ich schenke auch individuellen Zeugenaussagen, die im Fernsehen oder Radio ausgestrahlt werden, keinen grossen Glauben. Und wenn man im Fernsehen alte Damen sieht, die verkünden: «Ja, die Russen haben massakriert, haben dies und jenes getan», dann nehmen die europäischen Journalisten das für bare Münze: «Das sind Zeugenaussagen über russische Kriegsverbrechen.» Aber wie soll man sie ernstnehmen, wenn man weiss, dass diese Überlebenden wahrscheinlich um ihr Leben fürchten, weil sie die Asow-Bataillone bei der Arbeit gesehen haben und wissen, dass diese kommen werden, um sie zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie nicht in der gewünschten Weise aussagen. Sie werden nicht das Risiko eingehen, in einem solchen Kontext die Wahrheit zu sagen.

Europa ohne Vernunft

Noch ein Wort zu Europa. Wir haben gesehen, dass die USA keinen Frieden wollen, denn solange der Krieg andauert, können sie ihr Gas, ihr Öl und ihre Waffen verkaufen und ihre Herrschaft über Europa festigen. Die Haltung der Europäer ist mir jedoch ein Rätsel. Ich verstehe das Interesse der Europäer nicht, hysterisch antirussisch zu werden, da sie objektiv gesehen einen Weg finden müssten, mit Russland zusammenzuarbeiten. Die deutsche Industrie und die französische Landwirtschaft werden ihr Öl, Gas und ihre Düngemittel viel teurer kaufen müssen und laufen Gefahr, nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein. Europa wird noch mehr Geld ausgeben und sich noch mehr verschulden. Deutschland hat 100 Milliarden Euro für militärische Kredite angekündigt. Das ist ein ebenso grosser Verlust für die Bevölkerung. Ausserdem wird es fünf Millionen ukrainische Flüchtlinge in Europa finanzieren und versorgen müssen. Im Moment ist die Situation noch überschaubar, aber wie wird es in zwei Jahren aussehen? Ebenso wenig kann man Russland isolieren, da es in bezug auf Energie und Nahrungsmittelressourcen nahezu autonom ist und zudem weiterhin mit Ländern Handel treiben kann, die fast zwei Drittel der Menschheit repräsentieren.
  Europa kann also nur verlieren. Die Art und Weise, wie es mit diesem Konflikt umgeht, zeigt die Schwäche und Inkompetenz seiner führenden Politiker, die keine strategische und langfristige Vision haben und nur unter dem Einfluss unmittelbarer Emotionen reagieren.

Schaden für Demokratie und Rechtsstaat

Abschliessend möchte ich sagen, dass ich glaube, dass dieser Krieg andauern wird. Er wird nicht morgen enden. Da sich beide Seiten der Gefahr einer nuklearen Eskalation bewusst sind, werden wir es eher mit einem Krieg mittlerer Intensität zu tun haben, wie in Afghanistan und im Irak, der wahrscheinlich Jahre dauern wird.
  Infolgedessen werden wir wieder ein zweigeteiltes Europa haben. Ein neuer Eiserner Vorhang wird errichtet werden, 1000 km weiter östlich als der vorherige. Das bedeutet, dass die langfristigen Spannungen nicht abnehmen werden. Eine weitere Folge ist das, was ich die Sowjetisierung unserer Staaten nenne. Der Westen sagt immer wieder, dass er den Krieg der Demokratie und der Menschenrechte gegen die russische Diktatur und den Faschismus führt. Das ist falsch, denn in Wirklichkeit ist mit einer Verhärtung auf beiden Seiten zu rechnen. Es wird eine Verhärtung des russischen Regimes geben, aber auch bei uns. Wenn man sich die Dinge genau ansieht, stellt man fest, dass man auch bei uns die Pressefreiheit abgeschafft hat, indem man russische Medien verbannt hat. Dabei handelt es sich aber um einen tiefen Eingriff in die Meinungs- und Pressefreiheit. Wenn ich ins Fernsehen gehe, um einen kritischen Standpunkt darzulegen, lässt man mich nicht zu Wort kommen. Auch das Recht auf Eigentum, das doch durch die Rechtsstaatlichkeit und die nationalen Verfassungen garantiert ist, wird schwer verletzt. Wenn 300 Milliarden Dollar, die dem russischen Volk gehören, konfisziert werden, und Milliarden von den Oligarchen, dann ist das eine Verletzung des Privateigentums, das als unantastbar gilt. Und ich spreche hier von unserem Haus, unseren Banken, der Schweiz und nicht von Moskau. All dies schadet den Menschen sehr, deren Rechte doch durch die Aufklärung und das Recht garantiert wurden. Es ist verständlich, dass man Sanktionen gegen Staaten verhängt, sofern dies im Einklang mit dem Völkerrecht steht, was hier nicht der Fall ist. Aber dass westliche Staaten, die als Vorbilder für die Einhaltung der Persönlichkeitsrechte gelten, sich so verhalten, das hat es in der demokratischen Geschichte der letzten Jahrhunderte noch nie gegeben. Die Länder, die solche Schandtaten begangen haben, waren Diktaturen. Das tat zum Beispiel Nazi-Deutschland, als es in den 1930er Jahren Juden ihres Vermögens beraubte, einzig unter dem Vorwand, dass sie Juden waren. Und doch ist es das, was Europa, unser Europa, heute gegenüber den Russen tut, nur unter dem Vorwand, dass sie Russen sind. Man kann nur hoffen, dass diese Handlungen nicht zu den tragischen Folgen führen, die wir in der Vergangenheit erlebt haben.
  Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.  •



1 https://www.antithese.info/videos-antithese/gabriel-galice

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Guy Mettan ist Journalist und Abgeordneter im Grossen Rat des Kantons Genf, den er 2010 präsidierte. Er begann seine journalistische Laufbahn während seines Studiums der -Politikwissenschaften; danach arbeitete er für das «Journal de Genève», Le Temps stratégique, Bilan, «Le Nouveau Quotidien» und später als Direktor und Chefredaktor der «Tribune de Genève».
  Seit 2005 ist er Präsident der Union der Handelskammern Schweiz-Russland & GUS. Von 2006 bis 2014 war er Präsident des Genfer Roten Kreuzes und bis 2019 Mitglied des Rates des Schweizerischen Roten Kreuzes. 1996 gründete er den Swiss Presseclub, dessen Präsident und späterer Direktor er von 1998 bis 2019 war.
  Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter «Russland-Westen. Ein tausendjähriger Krieg», das in sieben Ländern, darunter China und die USA, veröffentlicht wurde.
  Der Text gibt einen Vortrag wieder, den Guy Mettan am 30. April 2022 vor Lesern von Zeit-Fragen gehalten hat.

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