«Die reale Welt ist eben grau in grau und nicht schwarz-weiss (d. h. West-Ost).»
(R. B.)
zf. Ralph Bosshard kennt die Region aus eigener Anschauung und in Zusammenhang mit seinem Aufgabenbereich bei der OSZE, bei der er unter anderem als Sonderberater für den ständigen Vertreter der Schweiz bei dieser Organisation tätig war. Auch im Rahmen seiner aktuellen Tätigkeit erstellt er Expertisen über die militärische Lage im Konflikt in der Ukraine sowie im postsowjetischen Raum (vgl. dazu seine Artikel in Zeit-Fragen zu Kasachstan und Armenien). Auf Grund der in all den Jahren entstandenen persönlichen Beziehungen erhält er aber auch direkte Schilderungen aus Brennpunkten des Ukraine-Konfliktes, die er hier zur Verfügung stellt und die dem geneigten Leser einen sehr unmittelbaren Eindruck des realen Geschehens vermitteln.
Das ist ein Bild des Hauses an der Ulitsa Georgievskaya 42 im alten Stadtzentrum von Mariupol, dem Tsentralnyj Rayon. Es war das Elternhaus meiner Gattin und gehört jetzt unserem Freund Ivan L. Ivan wusste, dass im Gebäude daneben [hell umrahmt] Angehörige des «Regiments Asow» einquartiert waren. Es gehört zur Priazovskyj Staatlichen Technischen Universität, die von Slava B., einem Bekannten von mir, geführt wurde. Ivan beschloss deshalb, auf einer Datscha ausserhalb Mariupols zu wohnen, kam aber regelmässig zurück, um sicherzustellen, dass sich «Asow» nicht auch in seinem Haus einquartiert.
So sieht das massiv gebaute Haus aus der Zarenzeit aus, nachdem eine Granate oder Bombe im Garten dahinter explodiert war. Wie durch ein Wunder blieben unsere Freunde unverletzt.
Andernorts befindet sich aber das Grab der Schwiegermutter Ivans, die im Zug der Kämpfe von Granatsplittern getroffen worden und verblutet war, weil keine Ambulanzen mehr fuhren. Sie zu beerdigen war im Kampfgeschehen nicht möglich, deshalb wickelten Ivan und ein Verwandter die Leiche in Leintücher ein und liessen sie auf dem Küchentisch zurück. Inzwischen hat ein Nachbar sie gefunden und bestattet.
Ein anderer Freund Ivans kam ums Leben, als er versuchte, sein Mobiltelefon im Auto aufzuladen. Ivan fand ihn tot im Auto. Wir vermuten, dass er von Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte erschossen wurde, die ihn in Verdacht hatten, via einen humanitären Korridor aus der Stadt fliehen zu wollen. Mit diesem Auto fuhren Ivan und sein Freund später via die Krim nach Georgien, wo sie ein Flugzeug nach Norwegen bestiegen, denn dort hat Ivan Verwandte. Als Mann im wehrfähigen Alter hätten die Ukrainer Ivan nicht ausreisen lassen und die 3000 bis 5000 Euro Bestechungsgeld, welches ukrainische Grenzbeamte in solchen Fällen forderten, sind für einen Ukrainer mit 100 Euro Monatsgehalt unerschwinglich.
Ivans Sohn Vjaceslav konnte hingegen in Begleitung seiner Patin normal via Warschau nach Norwegen reisen.
Ivans Ehefrau Oxana befindet sich mit ihrem Vater noch in Berdyansk am Asowschen Meer, denn dieser verlor beim Beschuss seines Hauses alle seine Dokumente. Die russischen Behörden wollen ihm einen russischen Pass ausstellen, aber das kann dauern, denn die Suche nach Geburtsurkunden geniesst derzeit wenig Priorität.
Ein weiteres Gebäude, welches als Unterkunft für die ukrainische Armee genutzt wurde, war das Hotel Spartak, 220 m Luftlinie von Ivans Haus entfernt. Es war eines der besten in Mariupol gewesen. Ivan ist der Auffassung, auch es sei vom «Regiment Asow» bewohnt gewesen. Ich frage mich aber, wer hier so nahe an der Giesserei «Asowstal» so komfortabel untergebracht wurde. Vielleicht tatsächlich jene Nato-Offiziere, über welche Gerüchte herumgingen? Sie sollen in den Stollen unter der Fabrik eine geheime militärische Einrichtung betrieben haben, möglicherweise eine Einrichtung für Funkaufklärung. An ein Bio-Waffen-Labor glaube ich vorerst noch nicht.
An den Anblick ausgebrannter Gebäude konnte ich mich schon im Jahr 2014 gewöhnen, denn im Mai 2014 hatte das «Regiment Asow» diejenigen Polizeibeamten, die es für «unpatriotisch» hielt, im Polizeigebäude eingeschlossen und dieses in Brand gesetzt. Flüchtende Polizisten wurden erschossen.
Das Bild zeigt unsere ehemalige Wohnung am Prospekt Lenina (heute Mira) 112 in Mariupol. Als die Russen entlang des Prospekt Mira angriffen, bezogen die ukrainischen Regierungstruppen in den oberen Stockwerken der Mehrfamilienhäuser Stellung, weil diese soliden Plattenbauten guten Schutz und ein gutes Schussfeld boten. Und genau dorthin erwiderten die Russen das Feuer. Unsere Nachbarin Tamara S. musste vor Ausbruch der Kampfhandlungen zu ihrer Tochter nach Manhush, westlich von Mariupol, ziehen, welches von den Kämpfen weniger in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die niedrig gebauten, alten Holzhäuser am Stadtrand von Mariupol und in den kleineren Ortschaften rund um die Stadt bieten kaum Schutz vor Waffenwirkung und ein schlechtes Schussfeld. Deshalb blieben viele von ihnen von Kampfhandlungen verschont.
Der Prospekt Mira führt weiter zum Flughafen von Mariupol. Im Herbst 2014 äusserte ein Mitarbeiter der OSZE in Mariupol die Vermutung, dass der ukrainische Inlandsnachrichtendienst SBU auf dem Flughafen ein geheimes Gefängnis betrieb. Ein westlicher Journalist wurde damals irrtümlich festgenommen, verprügelt und eine Nacht lang festgehalten, bevor der Irrtum bemerkt wurde und er freikam. Er rannte stracks zur Special Monitoring Mission der OSZE, die damals im Hotel Reikartz am Prospekt Metalurgiv untergebracht war, gleich neben dem Gebäude des SBU, um sich zu beschweren. Ein Bekannter von uns wurde vom SBU ein Jahr lang festgehalten, weil er sich «unpatriotisch» geäussert hatte. Danach kam er unter der Auflage frei, über seine Haft nichts zu erzählen. Das Massengrab in Mariupol, von dem vor Tagen die Rede war, dürfte sich neben dem Flughafen befinden und vom SBU angelegt worden sein. Ich wunderte mich in der Vergangenheit zuweilen, dass westliche Spitzenpolitiker die Geschmacklosigkeit besassen, via den Flughafen nach Mariupol zu reisen. Wir führten dienstliche Besprechungen genau aus diesem Grund nicht am Flughafen durch.
Von einer Schulfreundin meiner Gattin, Larisa M., weiss ich, dass Mitarbeiter des Krankenhauses zwischen dem 16. und dem 17. Mikrorayon tatsächlich als Geiseln und lebende Schutzschilde gehalten wurden, als die russischen Truppen am Stadtrand von Mariupol auftauchten. Ihr gelang die Flucht, als nach dem Einschlag der ersten Geschosse das Chaos ausbrach. Ein Arzt, der ukrainische Soldaten daran zu hindern suchte, flüchtende Geiseln zu erschiessen, wurde selbst erschossen.
Das Schulhaus, wo meine Gattin zur Schule ging, war ganz in der Nähe des Dramteatr, wo das «Regiment Asow» eine Befehlsstelle eingerichtet haben soll und in dessen Keller Bewohner der Stadt Schutz gesucht hatten, als das massive Gebäude getroffen wurde. Im hellen Rechteck: Wohnhaus ihrer Schulfreundin Masha B. Mit ihr haben wir bislang keine Verbindung.
Im Trudovskyj Rayon der Stadt Donesk lebte ein Onkel von meiner Gattin, Nikolai V. In acht Jahren des Beschusses blieb seine Wohnung unbeschädigt. Vor wenigen Tagen ging auch seine Wohnung in Flammen auf, denn die ukrainischen Regierungstruppen schiessen nach wie vor täglich in die Stadt Donesk hinein.
Für den Beschuss von Schulen und Kindergärten waren in den vergangenen Jahren grossmehrheitlich die ukrainischen Regierungstruppen verantwortlich, wie ein Auszug aus den Tagesberichten der Special Monitoring Mission der OSZE aus den Jahren 2020 und 2021 zeigt.
Und die Statistik der zivilen Opfer, welche das Büro des UN-Menschenrechtsbeauftragten führt, zeigt, dass seit 2018 die Mehrzahl der zivilen Opfer zu über 80 % auf der Seite der LNR (Republik Lugansk) und DNR (Republik Donesk) anfiel. Konfrontiert mit Vorwürfen betreffend Beschuss von Wohngebieten pflegte die ukrainische Delegation bei der OSZE in Wien zu erklären, die Soldateska der Rebellen sei es sich eben schon seit Tschetschenien gewohnt, auf die eigene Bevölkerung zu schiessen, oder es sei eine «dritte Seite» am Werk gewesen.
Fazit
Ich würde die viel zu zahlreichen Opfer, die der aktuelle Konflikt schon forderte, noch viel mehr bedauern, wenn ich im Westen je einen Moment des Bedauerns gespürt hätte für die 14 000 Menschen, die in den Jahren 2014–2022 ihr Leben lassen mussten, weil die Regierungen in Washington und Kiew glaubten, die Minsker Abkommen seien ein schlechter Deal.
Ich würde die Flüchtlinge aus Winnitsa, Ivano-Frankivsk, Lwow, Zhitomir und anderen Städten, die bislang kaum Schaden erlitten, noch viel mehr bedauern, wenn ich Bedauern dafür spürte, was in ihrem Namen acht Jahre lang in Donesk, Lugansk, Pervomaisk, Gorlovka/Horlivka und Stakhanov/Kadiivka angerichtet wurde.
Die Schadenfreude mancher Bewohner von Donesk über die Zerstörungen in Kiew, Chernigov und andernorts teile ich hingegen nicht.
Wurde Mariupol von den Russen «zerbombt»? Nein, viele Gebäude wurden im Zug von Kampfhandlungen zerstört, das Verhalten beider Seiten entspricht einer militärischen Logik.
Nutzten die ukrainischen Kämpfer Zivilpersonen als menschliche Schutzschilde? Ja, zumindest in Einzelfällen.
Versteckten sich die ukrainischen Kämpfer in der Zivilbevölkerung? Ja, und die Nato machte offenbar dabei mit.
Verletzten die ukrainischen Behörden Menschenrechte? Ja, massiv und wiederholt.
Sind die verbündeten Truppen von LNR, DNR und der Russischen Föderation frei von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen? Sicherlich nicht, aber wenn ich sie solcher beschuldige, muss ich in den westlichen Medien keine Beweise anführen: Das glaubt man mir auch ohne Beweise.
Wer baut Mariupol wieder auf? Die DNR will angeblich 3000 ukrainische Kämpfer in Gewahrsam haben und erklärte bereits einmal, man werde die Angehörigen der ukrainischen Freiwilligenformationen nicht als Kriegsgefangene behandeln. Einen Prozess und eine Verurteilung zu 20 bis 25 Jahren Arbeitslager halte ich für durchaus möglich.
Wie geht es wirtschaftlich weiter? Nach 2014 nahm die Anzahl der russischen Kunden im Hafen von Mariupol ab. Zuvor waren viele russische Schiffe in Mariupol repariert oder gewartet worden. Das kann nun wieder beginnen. Die Metall-Kombinate sind hingegen wohl so zerstört, dass sie von Grund auf neu aufgebaut werden müssen. Ihre Besitzer, allen voran Rinat Akhmetov, sind wohl aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage. •
* Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee. Im Anschluss daran folgte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er unter anderem als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz tätig war.
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