Der Platz der Schweiz in Europa

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Die Schweiz liegt inmitten Europas. Sie ist mit ihren Nachbarstaaten, den übrigen europäischen Staaten und den europäischen Organisationen eng verbunden – seit jeher und aus eigenem Antrieb, nicht weil ein Büro in Brüssel es einfordert.
  Das zeigen die Programme des National- und des Ständerates für die kommende Sommersession. Im Ständerat sind am 1. Juni, im Nationalrat am 7. Juni eine eindrückliche Reihe von Berichten traktandiert, nämlich die Berichte der «Delegationen für die Beziehungen zu den Nachbarstaaten»; der «Delegation EFTA/Europäisches Parlament»; der «Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung der OSZE»; der «Parlamentarierdelegation beim Europarat»; der «Delegation bei der Interparlamentarischen Union»; der «Delegation bei der parlamentarischen Versammlung der Frankophonie»; der «Schweizer Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung der Nato». Überall sind wir dabei, ob als Mitglied oder als Beobachterdelegation, und das ist auch gut so.
  Zu empfehlen wäre den Parlamentsmitgliedern, dass sie die Treffen mit EU- und Nato-Abgeordneten nutzen, um diesen das Schweizer Modell näherzubringen. Denn es fällt auf, wie wenig manche Entscheidungsträger der westlichen Staaten – sogar einzelne Botschafter in Bern! – die Schweiz kennen und ihren Standpunkt verstehen. Es ist an unseren Parlamentariern und Diplomaten, den notwendigen Boden zu legen.

Es folgen ein kurzer kritischer Überblick zu einigen der Berichte und die Würdigung des Berichts über die Beziehungen zu den Nachbarländern, deren Pflege für jedes Land besonders wichtig ist.

Schweizer Delegation bei der EFTA und beim Europäischen Parlament
(Bericht 22.010 vom 31. Dezember 2021)

In bezug auf die EFTA befassten sich die Delegierten vor allem mit neuen und geplanten Freihandelsabkommen und überprüften die Einhaltung von Arbeits- und Umweltbestimmungen durch die Vertragsstaaten. Die Beziehungen zur EU sind bekannt: Brüssel beharrt auf der «Klärung der institutionellen Fragen» als Bedingung für die Aktualisierung der bestehenden und den Abschluss neuer «Marktzugangsabkommen». (Klammerbemerkung: Einige davon öffnen zwar eher der EU den Marktzugang zur Schweiz als umgekehrt, zum Beispiel das Landverkehrsabkommen, denn der Nord-Süd-Lastwagen-Transit nützt fast ausschliesslich den EU-Staaten.)
  Den Hinauswurf aus den Bildungs- und Forschungsprogrammen der EU wegen der fehlenden Bereitschaft der Schweiz, ein von Brüssel diktiertes Rahmenabkommen zu unterzeichnen, weist die Schweizer Delegation richtigerweise zurück: «Diese politische Verknüpfung zwischen Marktzugangs- und Kooperationsabkommen bleibt aus Sicht der Delegation sachfremd und unverständlich.» (4 Schlussfolgerungen, Bericht, S. 10) Deshalb bestand offenbar die Haupttätigkeit der Delegierten 2021 darin – und wird auch 2022 darin bestehen –, von einem EU-Gremium zum nächsten und von einem Mitgliedsstaat zum anderen zu weibeln, um den Zugang zu Horizon Europe, Erasmus+ und wie sie alle heissen, zu erbitten. Es gäbe in den gegenseitigen Beziehungen der europäischen Völker wahrhaftig Sinnvolleres zu tun! Zumal die Schweiz bekanntlich den Schikanen aus Brüssel mit kreativen und kostengünstigen Lösungen zu begegnen weiss.

Schweizer Delegation bei der parlamentarischen Versammlung der OSZE
(Bericht 22.011 vom 31. Dezember 2021)

Der Tätigkeitsbereich der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Bedeutung, die sie auch heute für Recht und Frieden haben könnte, wurden in Zeit-Fragen schon mehrmals dargelegt. Die Schweiz hat in der OSZE seit jeher eine aktive Rolle eingenommen. In der Einleitung zum ausführlichen Bericht wird das Engagement der Schweizer Diplomatie seit 2014 im Bemühen um eine Lösung der Ukraine-Krise genannt, mit besonderer Erwähnung des Mandats von Botschafterin Heidi Grau als OSZE-Sondergesandte für die Ukraine 2019, 2020 und 2021.
  Wie viel die Schweizer Diplomaten auf dem Boden der Unparteilichkeit in diesem unglücklichen Land bewirken könnten, dessen Bevölkerung und deren Hab und Gut dem Machtwahn der einstmals einzigen Supermacht geopfert werden, wissen wir nicht. Was wir wissen: Ohne strikte Einhaltung der Neutralität gegenüber beiden Kriegsparteien wird die Schweiz weder in der Ukraine noch anderswo als vertrauenswürdiger Gesprächspartner wahrgenommen. Aber noch ist nicht aller Tage Abend – man soll nie die Hoffnung auf das Durchdringen der menschlichen Vernunft aufgeben. Mit dem Angebot Guter Dienste könnte die Schweiz in der heutigen wie in jeder Kriegssituation weit mehr beitragen als mit der Jagd nach russischen Vermögen (ohne irgendeinen Beweis für deren unrechtmässigen Erwerb!).

Schweizer Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung der Nato1 

Was haben die Schweizer Parlamentarier bei der Nato zu suchen? Nun, sie nehmen an den Tagungen der parlamentarischen Versammlung der Nato (Nato-PV)2 sowie an deren Seminaren und Arbeitstreffen teil und werden dort über die Sichtweise und die Ziele der Nato «informiert». Präsident der Nato-PV ist – wie nicht anders zu erwarten – ein US-Amerikaner, Gerald E. Connolly, und der gab an der Frühjahrssession 2021 (also ein Jahr vor der russischen Militäroperation in der Ukraine) den Tarif durch. Da war zum Beispiel die Rede von der «Wiederbelebung der transatlantischen Beziehungen durch ein erneuertes Engagement der USA» oder von der anstehenden «Überarbeitung des [veralteten] strategischen Konzepts» der Nato, denn darin sei «noch von Russland als Partner die Rede, und China werde nicht und der Klimawandel kaum erwähnt» (Bericht, S. 3). Auf insgesamt 14 Seiten ist das gesamte Programm der Kriegsmacht USA/Nato zu lesen, das den Schweizer Delegierten bei verschiedensten Anlässen kundgetan wurde.
  Schlussfolgerungen der Schweizer Delegation: «Viele der von der Nato-PV behandelten Themen sind auch für die Sicherheitspolitik der Schweiz von Bedeutung», so zum Beispiel das neue Strategische Konzept der Nato, die Spannungen zwischen der Nato und Russland, der Aufstieg Chinas oder die Bekämpfung des Terrorismus und von Cyber-Bedrohungen (Bericht, S. 14).
  Was den National- und Ständeräten der neutralen Schweiz dringend zu empfehlen ist: sich auch sicherheits- und geopolitische Informationen von Staaten und Staatenbündnissen ausserhalb der Nato sowie von unabhängigen Fachleuten zu verschaffen. Nötig wäre es! (Siehe Kasten «Wer drängt die Schweiz in die Nato»?)

Delegationen für die Beziehungen zu den Nachbarstaaten: eine gefreute Sache

Seit 2003 pflegen Schweizer Parlamentarier-Delegationen regelmässige Beziehungen zu den Parlamenten der fünf Nachbarstaaten (Delegation für die Beziehungen zum Deutschen Bundestag (Del-D), zum österreichischen Parlament (Del-A), zum französischen Parlament (Del-F), zum italienischen Parlament (Del-I) und zum Landtag des Fürstentums Liechtenstein (Del-FL).)3 Die Aktivitäten der einzelnen Delegationen variieren je nach der aktuellen Situation, im Berichtsjahr 2021 mussten sie nach der Pause infolge der Covid-19-Pandemie wieder neu aufgenommen werden.
  Als Beispiel wird hier die Del-A herausgegriffen, sie besteht aus sechs Mitgliedern des Nationalrates und vier Mitgliedern des Ständerates, ihr Pendant umfasst zwölf Mitglieder des österreichischen Nationalrates und ein Mitglied des Bundesrates. Ihr letztjähriges Treffen fand am 1./2. Juli in Brunnen am Vierwaldstättersee statt. Es diente der Beziehungspflege und gab den Besuchern einen Einblick in den wirtschaftlichen und kulturellen Hintergrund der Region. Auf dem Programm standen ein Besuch bei der Produktionsstätte der weltberühmten Schweizer Taschenmesser, der Firma Victorinox, sowie im Bundesbriefmuseum und der Gedenkstätte am Morgarten. (Bericht der Del-A vom 19.7.2021).
  Ein zentrales Diskussionsthema war 2021 verständlicherweise die Beendigung der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Der Austausch mit den österreichischen Parlamentariern verlief erfreulich und zukunftsgerichtet. Die Schweizer Teilnehmer erläuterten die Gründe, die aus ihrer Sicht zum Verhandlungsabbruch geführt haben. «Sie betonten, dass die Schweiz auch nach diesem Entscheid eine enge und verlässliche Partnerin der EU bleibt und es im Interesse aller Beteiligten ist, die bewährte Zusammenarbeit in vielen Bereichen fortzuführen.» Österreicher und Schweizer waren sich einig, dass die Beteiligung der Schweiz an den EU-Rahmenprogrammen, insbesondere am Forschungsprogramm Horizon, losgelöst von der Frage eines institutionellen Abkommens betrachtet werden sollte und […] dem Interesse der gesamten europäischen Forschungslandschaft entspricht.» Die Österreicher zeigten Verständnis für die Situation der Schweiz und versicherten, dass sich Österreich «auf EU-Ebene für ein möglichst enges Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU einsetzen» werde (Jahresbericht 22.017, S. 6).
  Der Gegenbesuch der Schweizer in Wien hat nun am 4./5. April 2022 stattgefunden. Hier stand die Umsetzung der strategischen Partnerschaft im Zentrum, welche die beiden Aussenminister im Sommer 2021 beschlossen hatten.4 Die beiden Parlamente sehen sich dabei als «Impulsgeber für konkrete Projekte, beispielsweise für einen grenzüberschreitenden Austausch im Bereich der Lehrlingsbildung». Eine gefreute Sache.  •



1 Bericht 22.015 der Schweizer Delegation bei der parlamentarischen Versammlung der Nato vom 31.12.2021 https://www.parlament.ch/centers/kb/Documents/2022/Kommissionsbericht_NATO-V_22.015_2021-12-31.pdf
2 Die Nato-PV ist ein Diskussionsforum, in dem insgesamt 269 Parlamentarier aus den 30 Nato-Mitgliedsländern über sicherheits- und verteidigungspolitische Themen beraten. Ausserdem können Delegierte aus elf assoziierten Staaten (Armenien, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, Finnland, Georgien, Österreich, Republik Moldau, Schweden, Schweiz, Serbien, Ukraine) an den Beratungen teilnehmen. Russlands Teilnahme ist seit 2014 suspendiert. (Quelle: Deutscher Bundestag, Parlamentarische Versammlung der Nato)
3 Jahresbericht 22.017 Bericht der Delegationen zur Pflege der Beziehungen mit Parlamenten anderer Staaten vom 31.12.2021
4 «Bundesrat Cassis zu Besuch in Wien: Unterzeichnung einer Absichtserklärung zur neuen strategischen Partnerschaft Schweiz-Österreich». Medienmitteilung des Bundesrates vom 10.6.2021

Zur Schweizer Neutralität im Ukraine-Krieg

Aus dem Pflichtenheft des Schweizer Bundesrates

«Das Schweizer Engagement im Rahmen der OSZE basiert auf den Grundsätzen der Aussenpolitischen Strategie 2020–2023: Die Schweiz setzt sich angesichts des volatilen internationalen Umfelds als Brückenbauerin für eine friedliche und sichere Welt ein.»

Quelle: Botschafterin Heidi Grau als Sondergesandte des OSZE-Vorsitzenden in der Ukraine und der Trilateralen Kontaktgruppe.
Medienmitteilung des Bundesrates vom 15.1.2021

Bundesrat Ueli Maurer redet Klartext

Tages-Anzeiger: Hat sich die Schweiz in diesem Krieg richtig positioniert?
Bundesrat Maurer: Wir setzen das um, was der Bundesrat in seiner unendlichen Weisheit beschlossen hat.

Wie beurteilen Sie diese «unendlich weisen» Beschlüsse im Hinblick auf die Neutralitätsfrage?
Wenn man sich hier am WEF umhört, muss man sagen: Wir haben einen Flurschaden angerichtet. Es wird vielerorts die Vertrauensfrage gestellt zur Handhabung der Neutralität.

Quelle: Rutishauser, Arthur; Walser, Charlotte. «Der Benzinpreis ist in der reichen Schweiz bezahlbar».
Interview mit Bundesrat Ueli Maurer. In: Tages-Anzeiger vom 25.5.2022

Wer drängt die Schweiz in die Nato?

mw. Im Gleichklang mit einigen Parlamentariern und Journalisten demonstrierte VBS-Chefin Viola Amherd am WEF in Davos, dass sie für die Schweiz mehr Nähe zur Nato anstrebt. Nach ihrem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kamen beide in der SRF-Tagesschau zu Wort.
  Bundesrätin Viola Amherd, Chefin des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS): «Herr Generalsekretär Stoltenberg hat mir klar mitgeteilt, (dass) wenn die Schweiz eine engere Zusammenarbeit mit der Nato will, in welchem Grad auch immer, dass die Nato offen ist und dass die Beiträge der Schweiz heute schon geschätzt sind.» Wie die «engere Zusammenarbeit» aussehen soll, darauf ging Viola Amherd nicht ein. Dafür bediente sie fragwürdige Klischees: «Für mich ist klar, wir wollen keine Trittbrettfahrer sein.» SRF: «Schweden und Finnland wollten auch zuerst mehr Zusammenarbeit, und jetzt wollen sie in die Nato. Führen Sie uns auch in die Nato, Frau Bundesrätin?» Viola Amherd: «Das ist im Moment kein Thema». (Hervorhebung mw). Ob diese Töne wohl das Resultat von VBS-Chefin Amherds kürzlichem Besuch in den USA sind? Laut der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 14. Mai 2022 diskutierte sie dort allfällige «Möglichkeiten einer noch engeren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit» (Weisflog, Christian. «Die Schweiz gewinnt die USA für viele Jahre als zuverlässige Partnerin»).
  Im anschliessenden Interview mit Jens Stoltenberg erhielt der Zuhörer nicht den Eindruck, dass die Nato die Schweiz zum verstärkten Anschluss an das Kriegsbündnis drängt, obwohl SRF-Interviewer Sebastian Ramspeck sich alle Mühe gab, die neutrale Schweiz in ein schiefes Licht zu rücken: «Manche sagen, die Schweiz sei eine Trittbrettfahrerin der Nato. Ist die Schweiz eine Trittbrettfahrerin?» Jens Stoltenberg: «Die Schweiz ist eine sehr geschätzte Partnerin. Wir respektieren ihre Neutralität. Es ist an der Schweiz zu entscheiden, ob sie weiter ein neutraler Staat sein will oder ob sie zur Nato kommen will.» SRF: «Der deutsche Vizekanzler Robert Habeck sagt, er würde sich wünschen, dass auch die Schweiz Militärgüter an die Ukraine liefert. Sehen Sie das auch so?» Stoltenberg liess sich jedoch nicht zu Kritik an der Schweiz bewegen, sondern lobte den Schweizer Kfor-Einsatz im Kosovo, zählte einige bekannte Beispiele einer engeren Zusammenarbeit auf (technologische Zusammenarbeit, Cyber-Sicherheit) und fügte hinzu: «Immer mit Respekt für die Neutralität und für die Entscheide der Schweiz». Dies hielt den Interviewer nicht von der provokativen Frage ab: «Hätten Sie die Schweiz gerne in der Nato?» Stoltenberg (energisch): «Nein! Ich habe dazu keine Meinung. Es ist mir extrem wichtig, mich nicht in innenpolitische Debatten einzumischen.»
  Es sei dahingestellt, ob der US-Nato-Block tatsächlich zufrieden ist mit der bereits seit langem sehr engen (neutralitätswidrigen!) Kooperation oder ob er die Schweiz lieber ganz vereinnahmen würde. Aber wie die durch ihren USA-Besuch auf Kurs gebrachte Bundesrätin Viola Amherd und das Schweizer Fernsehen SRF die bereits angeschlagene Schweizer Neutralität noch ganz zu bodigen versuchen, ist «gschämig».

Quelle: Ramspeck, Sebastian und Kohli, Andreas. «WEF 2022: Amherd und Stoltenberg wollen enger zusammenarbeiten».
Interview in: SRF-News vom 24.5.2022

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