Die Not der Syrer ist das Ergebnis falscher Politik

von Karin Leukefeld

Wenn natürliche Ressourcen zur Waffe werden, wird das Leben eine humanitäre Krise. Und wenn dann die EU den Geber gibt, ist jede Hilfe mit Sicherheit mit einem Pferdefuss versehen. Das bestätigte sich auch bei den jüngsten Erklärungen zu Syrien wieder.

Zum diesjährigen Muttertag am 8. Mai veröffentlichte das UN-Hilfswerk für Kinder (Unicef) einen Appell, um auf die Lage der «Kinder in Syrien und in den Nachbarländern» aufmerksam zu machen. Dabei ging es nicht darum, die Mütter dieser Kinder ins Rampenlicht zu rücken, sondern darum, dass Unicef für die Versorgung dieser Kinder mehr Geld fordert.
  Anlass und Adressat der Erklärung war die 6. Brüsseler Konferenz für die Unterstützung von Syrien und der Region, die am 9./10. Mai in Brüssel veranstaltet wurde. Unicef wies darauf hin, dass es bisher weniger als die Hälfte der für 2022 benötigten Gelder für die Kinder in Syrien und in den Nachbarländern erhalten habe.
  «Millionen von Kindern» lebten in «Angst, Not und Ungewissheit in Syrien und in den Nachbarländern», hiess es in der Erklärung der Unicef-Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika, Adele Khodr. Allein in Syrien seien 6,5 Millionen Kinder auf Hilfe angewiesen. Weitere 5,8 Millionen Kinder «in den Nachbarländern Syriens, die durch politische Instabilität und Fragilität belastet» seien, bräuchten ebenfalls Hilfe, weil «deren Leben von Armut und Not geprägt» sei. Viele Familien hätten Mühe, die steigenden Preise für Grundversorgungsgüter und Lebensmittel zu bewältigen. «Damit kein syrisches Kind zurückbleibt», seien Investitionen zum Erhalt der Systeme von «Bildung, Wasser- und Sanitärversorgung, Gesundheit, Ernährung und Sozialschutz» erforderlich.
  Auch das Welternährungsprogramm (WFP) wandte sich zwei Tage vor Beginn der EU-Syrien-Konferenz mit einem Appell an potentielle Geberländer und nannte den Krieg in der Ukraine einen «frischen Hammerschlag gegen die Fähigkeit Syriens, sich selbst zu ernähren». Der Preis für Nahrungsmittel sei innerhalb eines Monats um 24 Prozent gestiegen, die (finanziellen) Ressourcen des WFP stünden unter Druck, die Bedürfnisse der Bevölkerung seien grösser als das, was an Finanzierung vorhanden sei. Man habe die Essensrationen verkleinern müssen, eine Verkleinerung der Nahrungsmittelhilfe für den Nordwesten Syriens (Idlib) um 13 Prozent stehe bevor.
  Ende 2021 hatten nach Angaben des WFP rund zwölf Millionen Menschen in Syrien – 55 Prozent der syrischen Vorkriegsgesellschaft – als arm gegolten und waren auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Doch wie Unicef klagt auch das WFP über unzureichende Hilfsgelder, um seine Operationen in und um Syrien fortsetzen zu können. Bis Oktober 2022 verfügt die Organisation eigenen Angaben zufolge lediglich über 27 Prozent des Geldes, das sie für die Arbeit benötige. Konkret fehlen demnach 595 Millionen US-Dollar. Sollte es nicht mehr Geld geben, müsse man die Hilfsprogramme weiter reduzieren, warnte das WFP.
  Wie Unicef und das WFP meldeten zu Beginn der Brüsseler Syrien-Konferenz zahlreiche private, kirchliche, staatliche und UN-Organisationen ihre Ansprüche an. Landes- und Projektberichte wurden auf den neuesten Stand gebracht, um deutlich zu machen, dass man aus dem Topf der EU und den Kassen der EU-Mitgliedsstaaten dringend Geld brauche, um die humanitäre Hilfe für die Syrer auf dem bisherigen Niveau fortsetzen zu können.
  Alle beklagten, dass die Lage sich «infolge des Krieges in der Ukraine» verschlimmert habe. Die meisten betonten auch die Bedeutung ihrer Projekte im Nordwesten Syriens – gemeint ist Idlib – und dass die grenzüberschreitenden Hilfslieferungen aus der Türkei in dieses Gebiet erhalten bleiben müssten.
  Am Dienstag – dem zweiten Tag der EU-Syrien-Konferenz – legten die teilnehmenden Staaten ihre Geldversprechungen auf den Tisch. Deutschland bot grosszügig die Zahlung von 1,05 Milliarden Euro an. Mit dem Geld solle über mehrere Jahre «die Lebensperspektiven der Menschen in Syrien und den vom Syrien-Krieg stark betroffenen Nachbarländern, die Millionen Geflüchtete aufgenommen haben, verbessert werden», hiess es aus Berlin. 623 Millionen Euro der Summe werden aus dem Etat des Ministeriums für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) aufgebracht. Die «ohnehin grosse Not» der Syrer werde «weiter verschärft durch die steigenden Weizenpreise infolge des Krieges in der Kornkammer Ukraine», teilte die zuständige Ministerin Svenja Schulze mit.
  Josep Borrell, EU-Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten, versprach fast 1,6 Milliarden Euro aus dem EU-Topf für das Jahr 2022. Zum Vergleich: Für die Versorgung der Flüchtlinge aus der Ukraine – dieser Konflikt dauert aktuell acht Wochen – stellte die EU-Kommission für Mitgliedsstaaten der EU nach eigenen Angaben 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung.

EU: Syrer nicht im Stich lassen

Der EU-Kommissar für Krisenmanagement Janez Lenarčič hatte im Vorfeld der Brüsseler Konferenz erklärt, die EU werde das syrische Volk «nicht im Stich lassen». Vor allen Dingen aber müsse «der ungehinderte Zugang aller Bedürftigen zu humanitärer Hilfe rechtzeitig ermöglicht werden», fügte er hinzu.
  Tatsächlich meinte der EU-Kommissar nicht «ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe», die ungehindert von allen Seiten, also auch aus Syrien kommen sollte. Er sprach vielmehr über ungehinderte «grenzüberschreitende Hilfslieferungen», die aus der Türkei ausschliesslich nach Idlib gebracht werden, wo sie Inlandsvertriebenen helfen sollen. Idlib wird, wie bereits beschrieben, von al-Kaida-nahen Dschihadisten kontrolliert. Von Idlib gelangt die Hilfe dann – ungehindert – weiter in die von der Türkei unterstützten, von Dschihadisten kontrollierten Gebiete im Nordosten von Aleppo.
  De facto werden diese Hilfslieferungen von einer «Erlösungsregierung» in Idlib kontrolliert, die der al-Kaida-nahen Organisation Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) untersteht. Hilfslieferungen, die gemäss der UN-Sicherheitsratsresolution 2585 von Syrien auch frontlinienüberschreitend – also aus Syrien – nach Idlib und in den Nordosten von Aleppo gebracht werden sollen, werden von der EU und den USA trotz der UN-Sicherheitsratsresolution nicht unterstützt.
  Der EU-Kommissar für Nachbarschaft und Erweiterung Olivér Várhelyi machte «die russische Aggression gegen die Ukraine» für die Verschärfung der humanitären Krise in Syrien und in der Region verantwortlich. Die EU-Kommission habe schnell 225 Millionen Euro für ihre Initiative für eine Nahrungsmittel- und Resilienzfazilität zur Verfügung gestellt und einen «Wirtschafts- und Investmentplan» ausgearbeitet, um «langfristig die sozioökonomische Erholung und Stabilisierung der Region» zu unterstützen. Der Begriff «Resilienzfazilität» bedeutet «finanzielle Möglichkeit, sich widrigen Bedingungen anzupassen».
  Die EU will nach eigenen Angaben «alle Instrumente aktivieren», um das syrische Volk dabei zu unterstützen, letztendlich eine «politische Verhandlungslösung zu erreichen und die Bedingungen für eine bessere Zukunft für alle Syrer herzustellen», hiess es in einer Erklärung zur 6. EU-Geberkonferenz.
  Die Frage ist allerdings, warum bereits eine sechste Geberkonferenz der EU stattfinden muss, wenn die EU doch so guten Willens ist, alles zu tun, um den Syrern zu helfen. Seit 2011 pumpten EU und Mitgliedsstaaten 27,4 Milliarden Euro in die humanitäre Hilfe für Syrien und die Region. Warum werden die Lebensbedingungen in der Region dennoch immer schlechter?

Die Not in Syrien ist das Ergebnis falscher Politik

Westlichen und europäischen Regierungen und Denkfabriken gilt Syrien als «gescheiterter Staat». Die Folgen von Krieg und Zerstörung und einer Massenflucht sind eine schwere Hypothek für das Land. Doch Syrien wird auch daran gehindert, das Land aus eigenen Kräften wiederaufzubauen.
  Eine wichtige Voraussetzung wäre der Rückzug ausländischer Truppen und Kampfverbände aus den ressourcenreichen Gebieten des Landes. Syrien müsste seine Grenzen in Abstimmung mit den Nachbarländern souverän kontrollieren. Die einseitig von EU und USA verhängten Wirtschaftssanktionen, die auch die Nachbarländer und nicht-syrische Unternehmen treffen, müssten aufgehoben werden. Syrer, die das wünschen, sollten bei ihrer Rückkehr in die Heimat von der Uno unterstützt werden.
  Die EU und auch die USA verweigern das und verlängern damit absichtlich die humanitäre Krise in Syrien ebenso wie Not und Perspektivlosigkeit von Flüchtlingen in den Nachbarländern. Die Krisensituation wird aufrechterhalten, um die Regierung in Damaskus und deren Verbündete Russland und den Iran unter Druck zu setzen.

Wenn natürliche Ressourcen zur Waffe werden, wird das Leben eine humanitäre Krise

Als der Krieg in Syrien 2011 begonnen hatte, war das Land schuldenfrei gewesen. Niemand hatte Hunger leiden müssen, das Tourismusgeschäft hatte geboomt. Die Beziehungen Syriens zu den Nachbarländern Irak, Jordanien, Libanon und Türkei waren von wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit geprägt gewesen, die allen genutzt hatte. Die Beziehungen zu europäischen Staaten waren von zahlreichen Abkommen und Austauschprogrammen geprägt gewesen.
  Seit Beginn des Krieges verschlechtert sich die Lage kontinuierlich. Die Folgen des Krieges und die feindliche Isolationspolitik von EU und USA tragen zur Erosion der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der syrischen Gesellschaft bei. Zeichen dafür ist das Verschwinden einer stabilisierenden Mittelschicht. Schwarzmarkthandel und Korruption nehmen zu.
  Ein wichtiger Grund für die schwierige Lage des Landes ist, dass Syrien der Zugang zu seinen natürlichen Ressourcen verweigert wird. Es fehlt Wasser, das sowohl von der Türkei – am Oberlauf des Euphrat – als auch von Israel – auf den besetzten und annektierten syrischen Golanhöhen – kontrolliert wird. Es fehlt an Strom, um Pumpen anzutreiben, die aus den unterirdischen Wasserspeichern und Brunnen Wasser ans Tageslicht befördern, um Felder, Obst- und Olivenhaine zu bewässern. Strom ist knapp geworden in Syrien, weil bewaffnete Gruppen die Infrastruktur für die Stromversorgung des Landes gezielt zerstörten. Knapp ist der Strom auch deswegen, weil Syrien nicht mehr über seine Öl- und Gasressourcen im Nordosten des Landes verfügt, der von US-Truppen und lokalen Akteuren kontrolliert wird. Syrien kann auch nicht mehr über die Baumwolle im Euphrat-Tal, den Weizen in Hasaka oder über die Olivenbäume in Afrin verfügen. Die wichtigen Ressourcen des Landes werden von Gegnern der Regierung besetzt gehalten und kontrolliert, das schadet allen Syrern. In den Reden auf der 6. EU-Syrien-Konferenz kommt das nicht vor.

Kritik aus Moskau

Die Russische Föderation – die erstmals nicht nach Brüssel eingeladen worden war – kritisierte die Konferenz als wertlos, wenn weder die syrische noch die russische Regierung eingeladen würden, daran teilzunehmen. Man sehe keine wirklichen Anstrengungen, um die dringenden humanitären Probleme Syriens zu lösen, hiess es in Moskau. Humanitäre Hilfe erfolge nach international anerkannten festgelegten Prinzipien und dürfe nicht politisiert werden.
  Die Brüsseler Konferenzen dagegen «versinken immer tiefer in der rücksichtslosen Politisierung humanitärer Fragen», hiess es in der Erklärung des russischen Aussenministeriums. Der Westen tue sein Bestes, syrische Flüchtlinge an der Rückkehr in ihre Heimat zu hindern. Die schwierige Situation, in der sich die (regionalen) Aufnahmeländer befänden, bliebe von der EU unbeachtet. Washington und Brüssel erstickten das syrische Volk mit illegalen einseitigen Sanktionen, zitierte die syrische Tageszeitung «Al Watan» die Stellungnahme aus Moskau. Die USA hielten syrisches Territorium in der Region Dschasira (Nordostsyrien) und in At Tanf besetzt und plünderten die nationalen Ressourcen Syriens. US-Amerikaner und Europäer behinderten die Umsetzung von Projekten für eine erste Phase des Wiederaufbaus in Syrien, wie sie die UN-Sicherheitsratsresolution 2885 vorsehe. Statt dessen würden politische Vorbedingungen formuliert, darunter der Mechanismus der grenzüberschreitenden Hilfslieferungen (aus der Türkei), der die Souveränität und territoriale Integrität Syriens verletze.

Drei Neins gegen Syrien

Borrell bestätigte in einem Interview mit der auch auf Englisch erscheinenden saudi-arabischen Tageszeitung «Asharq Al-Awsat», die EU werde ihre drei «roten Linien» gegen Syrien nicht verändern. Man werde nichts zum Wiederaufbau des Landes beitragen, man werde die Sanktionen nicht aufheben und keine diplomatischen Beziehungen mit Damaskus aufnehmen, «solange keine nachhaltige politische Veränderung geschieht, die der UN-Sicherheitsratsresolution 2254» entspreche. Borrell bestätigte, dass Russland nicht zu der EU-Geberkonferenz eingeladen worden sei. Die EU lade nur «Partner ein, die aufrichtig daran interessiert sind, zum Frieden in der Welt beizutragen und Opfern des Konflikts zu helfen», sagte der EU-Aussenbeauftragte. «Mit seiner Aggression gegen die Ukraine hat Russland bewiesen, dass es dieses Interesse nicht teilt.»
  Der Sprecher des UN-Büros für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (OCHA) Jens Lærke teilte derweil mit, die Uno werde beim «wichtigen jährlichen Ereignis» in Brüssel kein Mitveranstalter sein. Die EU habe die Entscheidung getroffen, die Russische Föderation nicht einzuladen, so Lærke, der die EU-Entscheidung nicht kommentieren wollte, auf Anfragen von Journalisten. Allerdings sei die Russische Föderation als «UN-Mitglied und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates […] ein wichtiger Gesprächspartner».  •

ef. Die freie Journalistin Karin Leukefeld pendelt seit Beginn des Krieges 2011 zwischen Damaskus, Beirut und anderen Orten in der arabischen Welt und ihrem Wohnort Bonn. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u. a.: «Syrien zwischen Schatten und Licht – Geschichte und Geschichten von 1916–2016. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land» (2016, Rotpunkt Verlag Zürich); «Flächenbrand Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat» (2015, 3. überarbeitete Auflage 2017, PapyRossa Verlag Köln). In Kürze erscheint von ihr im selben Verlag «Im Auge des Orkans: Syrien, der Nahe Osten und die Entstehung einer neuen Weltordnung».

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