«Goldene Hände» – und was es dazu braucht

Warum die Berufslehre richtig bewertet werden muss

von Dr. Eliane Perret, Heilpädagogin und Psychologin

«Noah, 3520 g schwer und 49 cm lang», so kündigte uns vor einigen Monaten ein befreundetes junges Ehepaar die Geburt ihres Sohnes an, auf den sie sehnsüchtig gewartet hatten. Wir freuten uns mit ihnen. Natürlich ging mir auch durch den Kopf – das lässt sich bei meinem Beruf kaum vermeiden –, dass vor den beiden nun die Aufgabe steht, ihren Sohn in die Welt einzuführen. Doch in welche Welt? Das beschäftigt im Moment nicht nur mich, sondern viele wache Zeitgenossen!

Eine Schule – nicht so, wie wir sie hatten

Mittlerweile sind einige Monate vergangen. Kürzlich erzählten uns die jungen Eltern, dass ihre Gedanken immer wieder um die Zukunft ihres Sohnes kreisten. Wie wird es ihm wohl in der Schule gehen? Welchen Beruf wird er ergreifen wollen? Und vieles mehr. Weit voraus gedacht, aber von Verantwortungsgefühl zeugend.
  Die Mutter befürchtet vor allem, dass ihr Kind in der Schule keinen angeleiteten Unterricht mehr haben würde. Das war schon bei ihr so gewesen. Sie hatte sich mit einem Wochenplan herumgeschlagen und sich im Werkstattunterricht das Lernen selbst organisieren müssen. SOL1 hätten sie jeweils gesagt – Schule ohne Lehrer. «Nicht einmal die Aufgaben haben die Lehrer korrigiert», ist die junge Mutter noch heute empört und enttäuscht zugleich. Dem Vater war es ähnlich gegangen. Er hatte erst spät mit weniger Fehlern schreiben gelernt, weil er mit einem damals sehr verbreiteten Erstleselehrgang unterrichtet worden war, bei dem man selbständig mit Hilfe von Anlautbildchen Lesen durch Schreiben lernen sollte. «Ja, ich habe selbständig gelernt, wie man ganz viele Fehler macht beim Schreiben», meint er lakonisch. Das habe ihn während seiner späteren Schullaufbahn und bis heute beeinträchtigt.
  Nun überlegen die beiden, ob sie nicht Geld sparen sollten, um die Schule ihres Kindes nach ihren eigenen Qualitätsansprüchen auswählen zu können. «Wir möchten eine richtige Schule, in der man die Kinder anleitet, der Lernstoff logisch aufgebaut ist, die Kinder miteinander den Lernstoff erarbeiten können und eine Klassengemeinschaft bilden. Das ist doch wichtig für die Teamarbeit, die heute ständig verlangt wird», meinte der Vater nachdenklich.

Porsche und Blumen

Die beiden hatten trotz ihrer problematischen Schullaufbahnen erfolgreich eine Berufslehre gemacht und mit sehr guten Noten abgeschlossen. Der Vater hatte sogar eine Klasse wiederholt. Trotzdem hat er eine Lehre als Automobilfachmann machen können, und heute ist er Werkstattchef in einer Garage. «Porsche», schmunzelt er und meint, «die Lehre war für mich eine zweite Chance.» Auch die Mutter von Noah schwärmt von ihrer Lehre als Floristin. Das habe ihr viel Freude gemacht, und auch die vielen Pflanzen- und Blumennamen habe sie problemlos lernen können. Mittlerweile verfüge sie über ein breites Fachwissen in Botanik, Floristik und Gestaltung.

Die Intelligenz ist es nicht – «Talentpool» unter der Lupe

Die beiden bestätigen, was die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm2 durch ihre Forschungsarbeiten belegt. Sie hatte in den Jahren 2005 bis 2009 eine repräsentative Längsschnittstudie erstellt3, in der sie zu Beginn mit 2706 Auszubildenden des ersten Lehrjahrs an 21 Deutschschweizer Berufsschulen zwei kognitive Leistungstests machte. 196 der Probanden erzielten überdurchschnittliche Werte und wurden in der Folge dem «Talentpool» zugeteilt. Sie stammten aus allen Berufsfeldern. Nun wurden sie mit einer etwa gleich grossen Gruppe von Auszubildenden verglichen, die mit durchschnittlichen Resultaten abgeschnitten hatten, und zu einer Stichprobe zusammengefügt. Das ergab eine Stichprobe mit zwei Gruppen, die sich in den Tests lediglich durch überdurchschnittlich gutes Abschneiden in den Intelligenztests unterschieden hatten. Die Probanden wurden nun während ihrer ganzen Ausbildungszeit untersucht. Interessanterweise schwangen die «Talentierten» mit den hohen IQ-Werten nur zu Beginn der Lehre oben aus. Gegen Ende wurden sie von der Vergleichsgruppe überholt. Daraus konnte der Schluss gezogen werden, dass kluge Köpfe allein noch keine Könnerschaft in Form «goldener Hände» garantieren, wie Stamm festhält. Was war es dann?

Trotz problembeladener Schullaufbahn …

Dieses Geheimnis zu lüften war die nächste Aufgabe, denn im vordersten Drittel der neu erstellten Rangliste waren 58 Personen aus dem «Talentpool» und 61 aus der Vergleichsgruppe. Es zeigte sich, dass 30 % von ihnen lediglich einen Realschulabschluss, 45 % einen Sekundar- und 25 % einen progymnasialen Abschluss hatten. 23 % hatten einmal, 10 % sogar zweimal eine Klasse wiederholt, und 30 % hatten in der Schule als faul gegolten. Hervorragend waren bei ihnen jedoch Merkmale wie Arbeitsmotivation und -identifikation, Stressresistenz, Fleiss und Beharrlichkeit, die deutlich ausgeprägter waren als bei den übrigen Probanden. Zudem zeichnete sich das Betriebsklima der jeweiligen Ausbildungsfirma durch Leistungsanerkennung, Unterstützung, Herausforderung, Anregung und Training aus und spielte für die Leistung der Auszubildenden ebenfalls eine herausragende Rolle.

… Stärken, unentdeckte Ressourcen und falsche Zuschreibungen

Mit anderen Worten: Die Studie von Margrit Stamm zeigte, dass der Blick bei der Auswahl von Auszubildenden sich weniger auf die Negativmerkmale der Jugendlichen, sondern auf deren Stärken und unentdeckte Ressourcen richten sollte. Denn sonst versperrt ein Tunnelblick die Sicht auf für eine Ausbildung geeignete Jugendliche und diskriminiert sie möglicherweise durch Vorurteile.
  In unserer Gesellschaft werden akademische Ausbildungen oft höher gewertet und mit höherer Intelligenz verbunden als Berufslehren. Im Zusammenhang mit einer handwerklichen Tätigkeit und mit guten Berufsfachleuten wird (eher abwertend) der Begriff «praktisch intelligent» verwendet. Das ist jedoch falsch, denn «goldene Hände» können durchaus mit einem klugen Kopf einhergehen, so wie Akademiker nicht immer überdurchschnittlich intelligent sind, im Elfenbeinturm der Wissenschaften verharren und über zwei linke Hände verfügen müssen. Solche Zuschreibungen sind deshalb wenig hilfreich. Aber was macht es nun aus, dass junge Menschen letztlich zu Experten ihres Berufes werden, die mit «goldenen Händen» ihre Tätigkeit ausüben?

Wer ist denn intelligent?

Heute nimmt ein grosser Teil der Forschung an, dass Intelligenz keine unveränderliche, angeborene Grösse ist, sondern sich während der Lebensspanne positiv verändern kann (was wiederum in einem förderlichen Umfeld besser gelingt). Weitgehend unberücksichtigt bleibt jedoch meist, dass in unterschiedlichen Kulturen auch unterschiedliche Fähigkeiten als intelligent gelten. So wird in anderen Kulturen die Fähigkeit, gut zuhören zu können, über eine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit zu verfügen, Erwachsene um Rat zu fragen oder sich für gemeinschaftliches Zusammenleben zu engagieren, als Zeichen hoher Intelligenz beurteilt. An den in unseren Breitengraden verwendeten Intelligenztests wird deshalb oft kritisiert, dass sie solche Kompetenzen kaum einbeziehen und ausschliesslich auf der Basis unseres abendländischen Kulturkreises entwickelt wurden. Auch die sogenannt kulturfairen Tests werden als nicht zufriedenstellend kritisiert, weil sie nach wie vor Ergebnisse verfälschen und Minderheitsgruppen benachteiligen würden.

Kein Tunnelblick bei der Berufswahl

Nach wie vor ist heute die Meinung sehr verbreitet, dass akademische Intelligenz das Tor zu Berufs- und Lebenserfolg ist. Eine Berufslehre wird von vielen Eltern und manchmal sogar von Lehrpersonen fälschlicherweise als Weg zweiter Klasse angesehen für schulisch weniger erfolgreiche Jugendliche, die es nicht ins Gymnasium schaffen. Deshalb gilt es auch die Eltern ins Boot zu holen, denn sie sind nach wie vor die wichtigsten Meinungsmacher, wenn es um die Berufswahl geht.
  Es soll hier nicht der akademische Bildungsweg gegen die Berufsbildung ausgespielt werden, sondern es geht um eine Stellungnahme gegen den Tunnelblick gegenüber der Berufslehre (die sonst Gefahr läuft, als Durchgangsstadium auf dem Weg zur Fachhochschule eingestuft zu werden). Es gibt heute ein breites Spektrum an Berufsausbildungen, die anspruchsvoll und auch für schulleistungsstarke Jugendliche attraktiv sind. Und da ist die oft unterschätzte praktische Intelligenz gefragt.

Praktische Intelligenz – was ist das?

Ist man unzufrieden mit der Leistung eines Handwerkers, so wird landläufig oft davon ausgegangen, dass er sich in der Ausbildung das nötige Wissen nicht angeeignet hat. Dahinter steckt die Annahme, dass Wissen die einzige und unabdingbare Voraussetzung für das Können und die Problemlösefähigkeit ist. Damit klammert man die hohe Bedeutung von Praktischer Intelligenz aus. Denn zwischen Wissen und Können oder gar Expertentum liegen einige Schritte, ohne die es nicht geht. Es geht auch nicht um Fleiss und Motivation allein. Auch hilft es für die Praxis nichts, über Probleme in hochwissenschaftlicher Weise sprechen zu können. Entscheidend ist ein kompetenter Umgang mit realen Problemen. «Praktische Intelligenz ist nicht einfach handwerkliches Geschick von weniger Begabten, sondern die Fähigkeit, Fachwissen auf hohem Niveau in der Praxis auch anwenden zu können»4, meint Margrit Stamm.

Der lange Weg zum ausgewiesenen Fachmann

Geht es um ein Problem, für das ein Handwerker beigezogen wird, ist dieses oft nur unklar definiert: Die Waschmaschine funktioniert nicht mehr, der Automotor tönt verdächtig, oder Pflanzen verlieren ihre Blätter. Das Problem ist nur ansatzweise definiert, genauere Informationen fehlen oft. Und nun? Will der herbeigerufene Fachmann das Problem lösen, so muss er die Situation schnell und ganzheitlich erfassen, sein Fachwissen auf das Problem beziehen, unterschiedliche Lösungswege und -methoden kreativ andenken und innerlich durchspielen, die beste Lösung auswählen und dabei bereits gemachte Erfahrungen einbeziehen. Das stellt hohe Anforderungen, die sich ein ausgewiesener Fachmann, ausgehend von Faktenwissen und Regeln, durch intensives Üben, Reflektieren und Beobachten allmählich erwirbt und die ihn letztlich zu intuitiv richtigem Handeln befähigen, das den unterschiedlichsten Problemstellungen Rechnung trägt. Auf seinem Weg zum Berufsfachmann hat er sich vieles angeeignet; dies wird oft als «Stilles Wissen» bezeichnet, das mit wachsender Berufserfahrung im allgemeinen zunimmt.

«Stilles Wissen» – ein Goldschatz, ohne den es nicht geht

Man spricht von «Stillem Wissen» als Herzstück Praktischer Intelligenz und meint damit jenes Wissen, das jeder Mensch in sich trägt und durch alltägliche und gewohnte Handlungen erworben hat, so dass es intuitiv zur Verfügung steht. Es geht jedoch nicht um Automatismen, Routine oder Nachahmung. Sondern es ist dasjenige Wissen, das sich Berufsleute bei ihrer täglichen Arbeit «nebenbei» aneignen, ohne sich dessen immer bewusst zu sein. Dieses an Handlungsabläufe gebundene Wissen wird meist ohne Hilfe Dritter erworben, ist mit intensiven und komplexen Übungs- und Trainingsprozessen verknüpft und kann oft nicht genau verbalisiert werden. Es ist aber ein Goldschatz, der unverzichtbar zur Praktischen Intelligenz gehört und Wissen und Können verbindet.

«Goldene Hände» haben die Schweiz gross gemacht

Mit diesem Verständnis von Praktischer Intelligenz erfahren die klassischen Intelligenzmodelle eine wichtige Ergänzung und Erweiterung, mit der einer Berufslehre die richtige Gewichtung zukommt. Die Eltern von Noah haben es geschafft und sich die Fähigkeit angeeignet, mit realen Problemen erfolgreich umgehen zu können. Sie werden diese Erfahrung auch in die Erziehung einbeziehen. Idealerweise bietet die Schule ein Feld, diesen Bereich kennenzulernen und praktischen Talenten die Möglichkeit zur Entfaltung zu geben. Doch wie ist es, wenn die entsprechenden Fächer in den letzten Jahren zunehmend ein Mauerblümchen-Dasein fristen und zu Gunsten von frühem Fremdsprachenunterricht und Medienkunde reduziert werden? Massgeblich befördert durch den Lehrplan 21? Wie soll da eine Berufslehre attraktiv bleiben? Die Berufswettkämpfe, an denen bis anhin die schweizerischen Teilnehmer viele Medaillen gewannen, dürfen nicht zur Folklore werden. Das müsste nochmals gründlich durchdacht werden! «Goldene Hände sind ein wichtiges Kulturgut, welches die Schweiz gross gemacht hat»5, sagt Margrit Stamm. Dem ist nichts anzufügen.  •



1 SOL ist die Abkürzung für Selbstorganisiertes Lernen.
2 Margrit Stamm war Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Fribourg und leitet heute das von ihr begründete Forschungsinstitut Swiss Education. Sie hat, ausgehend von ihren Forschungsarbeiten, zahlreiche Bücher zu Erziehungs- und Bildungsfragen publiziert.
3 Die nun folgenden Ausführungen haben vor allem zwei ihrer Publikationen zur Grundlage: Stamm, Margrit. (2015). Praktische Intelligenz. Ihre missachtete Rolle in der beruflichen Ausbildung. Dossier 15/2; Stamm, Margrit. (2017). Goldene Hände. Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung. Bern: Hep-Verlag.
4 Stamm, Margrit. (2017). Goldene Hände. Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung. Bern: Hep-Verlag. S. 26.
5 Stamm, Margrit. (2017). Goldene Hände. Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung. Bern: Hep-Verlag. S. 95

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