Rassismus – gebannt durch Strafparagraphen, verpönt im öffentlichen Diskurs. Tempi passati? Ein Blick auf unseren Planeten belehrt uns: Weiterhin ist in Europa und den USA eine krass einseitig, westlich fixierte und zumeist rassistisch unterfütterte Sicht auf die Welt zu konstatieren. Oder wo bleiben in unseren Massenmedien die Stimmen aus Asien, Lateinamerika, Afrika? Zum Beispiel zum aktuellen Krieg um die Ukraine? Kishore Mahbubani aus Singapur, laut Newsweek einer der 100 wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart, aber nicht nur er, wird nicht müde, den Westen mit seiner kolonialistischen und rassistischen Vergangenheit zu konfrontieren. «Can Asians think?» betitelte Mahbubani denn auch eines seiner Bücher, dem Westen einen (post-)kolonialistischen Spiegel vorhaltend. Die moderne akademische Rassismusforschung ortet Rassismus immer auch wieder in neuem Gewand: «Ethnopluralismus» ist einer dieser neuen Begriffe, der neue Schlauch, der aber nur den alten Wein des üblen klassischen Rassismus auf Grund der Hautfarbe und der Herkunft enthält und weitertransportiert. Ihn zu orten, heisst, ihn in aller Deutlichkeit zurückzuweisen.
Auf den ersten Blick könnte man «Ethnopluralismus» mit multikulturellem Denken verwechseln. Das ist aber ein Irrtum. Die regierungsnahe Bundeszentrale für politische Bildung in Deutschland definiert den Terminus «Ethnopluralismus» für den Schulgebrauch wie folgt, ihn ganz bei der sogenannt «Neuen Rechten» ansiedelnd: «Mit dem Begriff ‹Ethnopluralismus› bezeichnet die sogenannte Neue Rechte ein Theoriekonzept, das den für Rechtsextreme typischen Rassismus neu und weniger angreifbar begründen soll. Kritiker nennen ihn einen ‹Rassismus ohne Rassen›. Das Wort ‹Ethnopluralismus› – zusammengesetzt aus dem griechischen ‹ethnos› (Volk) und dem lateinischen ‹pluralis› (Mehrzahl) – propagiert eine ‹Völkervielfalt›.» Der Begriff stamme von einem gewissen Henning Eichberg, Theoretiker der «Neuen Rechten». Vorläufer des Konzepts fänden sich aber schon beim Antisemiten und Blut-und-Boden-Ideologen des Dritten Reiches, Carl Schmitt. Ethnopluralisten gingen von grundsätzlichen und unveränderlichen «Eigenschaften» von Menschengruppen aus. Sie vermieden aber biologistische Argumentationen, wie der klassische Rassismus es tat: «Statt dessen behaupten sie, Völker besässen unveränderliche kulturelle Identitäten», und am besten sei es, wenn die Völker möglichst gesondert lebten. Je homogener ein Volk in kultureller Hinsicht, desto stärker sei es. Gegenseitige kulturelle Beeinflussung, die das Leben der Menschen immer bestimmte, blendeten sie dabei völlig aus. Wie der klassische Rassismus grenze der Ethnopluralismus Menschen anderer Kulturen letztlich aus und liefere die ideologische Begründung für Gewalt gegen diese.1
Was die Bundeszentrale hier definiert und mit Carl Schmitt an die finstersten Zeiten der deutschen Geschichte anbindet, wirft angesichts der im Umfeld der Ukraine-Krise medial inszenierten «Russophobie» die Frage auf, ob dieser neue Rassismus, so er denn wirklich neu ist, nicht auch ausserhalb der Neuen Rechten zu konstatieren ist. Wobei zu definieren wäre, was genau unter «Neuer Rechten» zu verstehen ist und ob alle, die sich gegen massive Zuwanderungsbewegung wie etwa jene in Deutschland 2015 verbal wehrten, deswegen schon unter Rassismus-Verdacht fallen müssen. Dass Rechtsextremismus wiederum eine ganz andere, negativ-gewalttätige «Qualität» hat und schärfstens verurteilt gehört, ist selbstredend. Ob er nun im Gewand westlicher Neonazis oder ukrainischer Angehöriger des Asow-Regiments daherkommt, ist einerlei.
«Ideologisch umpolen» und «zivilisatorisch erretten»?
Lässt man sich auf den neuen Begriff des «Ethnopluralismus» ein, bieten einem die Massenmedien mehr Anschauungsmaterial, als einem lieb ist. Abläufe, die die Eingrenzung auf die sogenannte «Neue Rechte» allerdings bei weitem sprengen. Beispiel 1: Die «Neue Zürcher Zeitung» vom 5. Mai öffnet einem Wladislaw L. Inosemzew, der als Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau vorgestellt wird, ihre Seiten. Der ehemalige Stipendiat der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin, einer 1955 in Zusammenarbeit mit dem Council on Foreign Relations und Chatham House gegründeten transatlantischen Denkfabrik, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht den Tatbestand des Ethnopluralismus erfüllt, wenn er ausführt, der heutige Kampf der Ukraine und Russlands sei «kein Kampf zwischen Europa und Asien, sondern ein Kampf zwischen dem Europa von heute (oder morgen) und dem Europa von gestern». Russland sei durchaus ein Produkt Europas, «aber nicht des realen Europa von heute, sondern eines imaginären Europa der Vergangenheit.» Also Produkt einer vergangenen und damit rückständigen, uns fremden Kultur. Europa sei mit Russland mit den «Abgründen seiner Vergangenheit» konfrontiert. Es sei allerdings fraglich, ob es «ideologisch umgepolt und zivilisatorisch errettet werden» könne, «so wie einst Nazideutschland». Russland mit Nazi-Deutschland zu vergleichen, und das um den 9. Mai herum, wo die Russen ihrer 27 Millionen Toten gedenken, die Hitlers Wehrmacht und die SS hinmordeten! Und dennoch bedankte sich der russische Präsident auf dem Roten Platz anlässlich der Siegesfeier vom 9. Mai bei den Soldaten der Westmächte, die gemeinsam mit den Russen ihr Leben liessen gegen die Nazi-Barbarei. Eine Barbarei, die der Westen (allzu)lange sehenden Auges hingenommen hatte – Stichwort «Appeasement»-Politik. Und was würde wohl ein wirklicher «Asiate» zu Inosemzews Anwürfen sagen? Zum Beispiel Kishore Mahbubani? Oder Pankraj Mishra?
Sind Russen keine Europäer?
Ist ihnen das Leben nicht wichtig?
Zweites Beispiel: Was ist von den Äusserungen einer Florence Gaub zu halten, einem Nato-angebundenen Mitglied des Future Council on Frontier Risks des World Economic Forums? Erfüllte nicht auch sie den Tatbestand des Ethnopluralismus, wenn sie sich in einer Talk-Runde mit Markus Lanz auf dem deutschen Mainstream-Sender ZDF2 zur Behauptung verstieg, «dass – auch wenn Russen europäisch aussehen – dass es keine Europäer sind». Die Russen hätten «einen anderen Bezug zur Gewalt […], einen anderen Bezug zum Tod». Die Russen, also alle, die sich kulturell als Russen sehen – anders als die Ukrainer und übrigen Europäer! Weiter führt sie aus, uralte Vorurteile bedienend: «Russland hat zum Beispiel auch eine relativ niedrige Lebenserwartung. Ich glaube, 70 für Männer. Ähm, das ist halt einfach … dann geht man halt einfach damit anders um, dass halt Menschen sterben.» Man reibt sich die Augen: Dass Russland in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion «dank» einer westlich orchestrierten neoliberalen «Schock-Strategie» (Naomi Klein) auf das Niveau eines Drittweltlandes abstürzte, auch, was die Lebenserwartung betrifft, scheint der ehemaligen Majorin der Französischen Armee nicht erwähnenswert. Die jahrhundertelange Verquickung westeuropäischer und russischer Geistes-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte ebenso wenig. Also der klassische Ansatz des Ethnopluralismus? Oder hört man den Unterton «slawische Untermenschen» heraus? «Asiatische Steppenhorden»? Denen das Leben weniger wert ist als uns? Der Ausdruck «slawischer Untermensch» fiel so nicht, denn schliesslich schob die Dame nach, sie meine es «kulturell», dass die Russen nur europäisch aussähen, es aber nicht seien. Womit sie die Definition der Bundeszentrale für den neuen Rassismus mehr als bestätigt. Zudem erfüllen die Aussagen von Gaub die von der Kriegspropaganda verlangte Dehumanisierung des Gegners.
Dokumente von Yad Vaschem mit Füssen getreten
Drittes Beispiel: Auf der Webseite von Yad Vaschem, der israelischen Gedenkstätte für die Shoah (Holocaust) und deren massgebliches Referenzzentrum weltweit, finden sich Steckbriefe zu unzähligen Rassisten antisemitischer Ausprägung. Unter anderem findet man da unter dem Stichwort «Stepan Bandera» folgenden Text: «Bandera, Stepan (1909–1959), ukrainischer Nationalistenführer. Bandera trat der Organisation der ukrainischen Nationalisten (OUN) bei und wurde schnell zu einem Führer der Organisation in der Westukraine, die damals unter polnischer Herrschaft stand. In den frühen 1930er Jahren übernahm Bandera die Kontrolle über die OUN, die zum bewaffneten Aufstand für die Sache der ukrainischen Unabhängigkeit ermutigte. Als der polnische Innenminister 1936 ermordet wurde, wurde Bandera verhaftet und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Als jedoch die Deutschen im September 1939 in Polen einmarschierten, wurde er [wohl im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes, ts.] von den Sowjets freigelassen und siedelte ins deutsch besetzte Polen über. Auf der nationalen OUN-Konferenz 1940 verursachte Bandera einen Bruch in der Organisation; seine Anhänger, die Mehrheit der Gruppe, wollten einen bewaffneten Aufstand. Vor dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion im Juni 1941 half Bandera den Nazis, zwei ukrainische Aufklärungsbataillone in ihrer Armee aufzustellen. Ausserdem organisierte er Einheiten, die die deutschen Truppen in die Ukraine begleiteten, um die lokale Regierung und Polizei zu bilden. Bandera und sein Volk betrachteten die Sowjets und die Juden als ihre Hauptfeinde. Nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion erklärten Banderas Vertreter die Errichtung einer unabhängigen ukrainischen Regierung in Lvov am 30. Juni 1941. Die Deutschen waren strikt dagegen, weshalb sie Bandera nach Sachsenhausen deportierten. Er blieb in Kontakt mit seinen Kameraden und wurde schliesslich im September 1944 freigelassen. Er leitete die OUN bis zu seiner Ermordung im Jahr 1959.»3
Dieser Antisemit und Hasser der Sowjetbürger müsste heutzutage eine «persona non grata» sein, alles andere wäre ein Hohn gegenüber den 6 Millionen von den Nazis ermordeten Juden in der Shoah und den 27 Millionen ebenfalls von den Nazis ermordeten Bürgern der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges. Doch weit gefehlt: Da liest man doch in der NZZ am Sonntag vom 15. Mai in einem Artikel über den ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrei Melnik: «Auch der ukrainische Partisanenführer und NS-Kollaborateur Stepan Bandera ist für Melnik ‹ein Held›. Er würdigte ihn sogar mit der Niederlegung von Blumen an seinem Grab.» Und in erstaunlicher Offenheit gesteht der NZZ-Journalist dann ein: «In der öffentlichen Debatte spielt diese Kritik an Melnik jedoch kaum eine Rolle.» Und warum nicht? Aus dem gleichen Grund, weshalb am Eurovision Song Contest nicht mehr die künstlerischen Qualitäten gefragt sind? Und unkommentiert und ungestraft der Hitler-Gruss gezeigt werden darf? Das alles, weil die Ukrainer kulturell «zu uns» gehören, die Russen nicht? Also auch hier ein Rassismus, der mehr schlecht als recht als Ethnopluralismus getarnt daherkommt? Sind wir wieder so weit, dass Volksgruppen gehasst werden dürfen, weil sie Volksgruppen sind? Denen man auch das Eigentum wegnehmen kann, weil sie der Volksgruppe angehören, die verfemt wird? Wird das Eigentumsrecht, ein hohes Gut in einer Demokratie, bald auch geritzt und abgeschafft, wenn es sich um andere missliebige Menschen handelt? Etwa Chinesen? Oder auch politisch Andersdenkende? Sippenhaft nannten das die Nazis, offen rassistisch vorgehend.
Schweizer Modell als Rassismus-Prophylaxe
Ob Rassismus biologistisch oder ethnopluralistisch begründet wird, von einer «Neuen Rechten» oder strammen Transatlantikern, die Menschheitsfamilie könnte in ihrer Entwicklung eigentlich weiter sein. Länder, die in ihrer Gesetzgebung Antirassismus-Paragraphen aufweisen, wären gut beraten, den Tatbestand des Ethnopluralismus auch trans-atlantischer Provenienz aufzunehmen und Volksverhetzer zu belangen, inklusive Medien, die solche Inhalte transportieren.
Aber noch besser wäre es, die Prophylaxe gegen Rassismus jeglicher Couleur auszubauen. Und da sei beispielhaft das Modell der Schweiz mit ihrem föderalistischen Staatsaufbau genannt, welcher ein friedliches Zusammenleben von Menschen verschiedener Sprachen und Kulturen befördert und gewährleistet – es bräuchte nur den politischen Willen dazu! •
1 https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/500773/ethnopluralismus/
2 Video-Ausschnitt April 2022, Sendung von Markus Lanz, https://dahemm.de/thomas-roeper-ueber-seine-reise-in-den-donbass/
3 https://www.yadvashem.org/odot_pdf/Microsoft%20Word%20-%205935.pdf
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