«Europa muss endlich überfällige Konsequenzen ziehen und wesentlich eigenständiger werden»

Interview der Zeitung Iswestija mit Dr. h.c. Hans-Christof von Sponeck

Iswestija: Sie haben einen offenen Brief unterzeichnet, in dem Sie die Bundesregierung auffordern, keine schweren Waffen nach Kiew zu liefern. Ihrer Meinung nach wird dies nur zu einer weiteren Eskalation der Situation in der Ukraine führen. Kann Deutschland auf solche Weise Konfliktseite werden?
Hans-Christof von Sponeck: Die Entscheidung ist gefallen. Die deutsche Regierung hat mit Unterstützung der Opposition entschieden, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Viele Bürger in Deutschland, zu denen ich zähle, unterstützen diese gewichtige Entscheidung nicht. Ich lebe in einem Land, das mir das Recht der eigenen Meinung zugesteht. Ich bin frei, diese kundzutun, indem ich sage: Mehr Kriegsmaterial bedeutet, dass noch mehr Menschen auf beiden Seiten dieser asymmetrischen Konfrontation ihr Leben verlieren werden. Medien und Teile der Politik versuchen, diese Tatsache in unverantwortlicher Weise zur Seite zu schieben. Diese Aussage hat absolut nichts zu tun mit einer völkerrechtlichen Bewertung der Wirkungen von Russland in der Ukraine. Wer dies in Frage stellt, lenkt ab. Zu meinen, dass Waffenlieferungen Deutschlands nichts mit direkter Teilnahme an der militärischen Auseinandersetzung zu tun haben, unterschätzt Menschen, «die den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen»!

Olaf Scholz: Dialogbereitschaft und Gesprächskanäle offen halten

Am 27. Februar hielt Olaf Scholz im Bundestag eine historische Rede, in der er den Beginn der Rüstungslieferungen und eine Erhöhung des Verteidigungsetats ankündigte. Ist dies ein Wendepunkt in der Geschichte des modernen Deutschlands, das sich zuvor auf Friedensmissionen konzentrierte?
Der deutsche Bundeskanzler hat in seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Februar 2022 seine Position und die seiner Koalitionspartner zu dem russischen Waffengang in der Ukraine dargelegt. Dies hätte aus der Sicht der Bürger sehr viel früher geschehen müssen. Was von politischen Gegnern schnell als Entschlusslosigkeit des Kanzlers gebrandmarkt wurde, hängt wohl eher mit der Komplexität der unerwarteten geopolitischen Entwicklungen zusammen, die auf die deutsche Regierung zugekommen sind. Bedachtsamkeit ist wohl der bessere Hinweis auf die Haltung des Bundeskanzlers. Er ist sich sicher voll bewusst, dass im deutschen politischen Establishment Wölfe im Schafspelz durch Deutschland ziehen, die nach Nahrung suchen.
  Es gibt keine einhellige Meinung in Deutschland in der Interpretation der Aussage des Kanzlers‚ dass «von seiner Regierung getan wird, was für die Sicherheit des Friedens in Europa gebraucht wird». Sein Hinweis, dass hierzu gehört, Dialogbereitschaft zu zeigen und Gesprächskanäle mit der Russischen Föderation aufrechtzuhalten, ist eine wertvolle Verpflichtung, die auf verschiedenen Ebenen eingelöst werden muss. Dies zu tun, bedeutet keine Abwertung der Wirkungen von Russland in der Ukraine, sondern eine realpolitische Handlung, die versucht, weiteres Unheil in grösserem Umfeld durch Kontakt und Diplomatie zu verhindern. Dies dient dem Frieden in Europa und erinnert an die eigene deutsche Geschichte. Es ist mir vollkommen klar, dass diese Aussage an manchen Orten entschieden zurückgewiesen werden wird. Das heisst aber nicht, dass sie falsch ist.

Waffenlieferungen an die Ukraine – ein schweres politisches Erdbeben

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in Deutschland eine starke pazifistische Bewegung. Die wichtigsten Vertreter dieser Bewegung waren die Grünen. Nun setzt sich Annalena Baerbock aktiv für die Lieferung schwerer Waffen ein. Warum konnte Deutschland seine aussenpolitischen Traditionen nicht bewahren?
Der deutsche Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein weithin pazifistischer gewesen. Als Volk hatten wir aus der Geschichte gelernt und wollten uns, als Mitglied einer westlichen Wertegemeinschaft, einsetzen für ein geeintes Europa, für Multilateralismus und internationale Zusammenarbeit, besonders mit den Ländern der Entwicklungswelt und für friedliche Lösungen von Krisen im Sinne des Rechts der Uno-Charta. Dies ist im grossen und ganzen auch gelungen. Die jährlichen Münchener Sicherheitskonferenzen – ich habe an mehreren als Beobachter teilgenommen – zeigten aber, wie unerbittlich der Druck von Nato-Bündnispartnern Jahr für Jahr gewesen ist, die deutsche Beteiligung an der Aufrüstung der Allianz zu erhöhen. Von manchen wurde Deutschland als Trittbrettfahrer kritisiert. Die Bereitstellung von 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der deutschen Bundeswehr und die Erhöhung des Verteidigungsetats für 2022 stellen aber keine Wende der deutschen Aussen- und Sicherheitspolitik dar. Sie sind eher die Antwort auf Jahre der wiederholten internen und auswärtigen Kritik an der Verteidigungsunfähigkeit des deutschen Militärs und der Forderung anderer Nato-Mitgliedsstaaten nach mehr deutschem Beitrag.
  Für die deutsche Öffentlichkeit erschien allerdings die Entscheidung der Regierung Scholz im Frühjahr, abweichend von vorausgegangenen Wahlversprechen und Regierungserklärungen, nun doch Waffenlieferungen in die Ukraine zuzustimmen, wie ein schweres politisches Erdbeben. Viele Menschen sind besorgt über ihre Zukunft. Stellungnahmen vom deutschen Verfassungsgericht und vom deutschen Ethikrat über die rechtliche und moralische Zulässigkeit der deutschen Waffenbeteiligung für die Ukraine gibt es bisher keine.

Wie würden Sie die deutsche Aussenpolitik heute charakterisieren? Wie unabhängig ist sie?
Es ist zu bemerken, dass die Wiederwahl von Emmanuel Macron als Präsident Frankreichs ein wichtiges Ereignis für die Politik Europas und Deutschlands ist. Auf Grund jahrelanger sicherheitspolitischer Niederlagen westlicher Politik, besonders im Mittleren Osten und in Südasien, muss Europa endlich überfällige Konsequenzen ziehen und wesentlich eigenständiger werden. Die Regierung von Olaf Scholz hat weiterhin einen Partner in Paris, mit dem die Europäisierung der Aussen- und Sicherheitspolitik ausgebaut werden kann.

Sanktionsforderungen gegen Russland bleiben ohne globale Mehrheit

Sie haben einst die Sanktionspolitik gegen den Irak verurteilt. Wie beurteilen Sie im allgemeinen die Ergebnisse des Sanktionsdrucks auf die Russische Föderation? Kann man sagen, dass sie den Normalbürger stärker betreffen?
Sanktionen und Ablehnung von Kriegsaktivitäten sind zweierlei. Die Uno-Generalversammlung hat sich in einem Mehrheitsbeschluss gegen das russische Vorgehen in der Ukraine ausgesprochen. Die Welt seit 1945 hat viel Krieg gesehen und ist müde. Dem kann ich folgen. Versuche, eine globale Mehrheit zu finden, die Sanktionen gegen Russland unterstützt, sind vollkommen gescheitert. Brasilien, China, Indien, der Iran, Pakistan, Südafrika und viele kleinere Länder, auch im Mittleren Osten, weigern sich, westliche Sanktionsforderungen zu unterstützen. Der Sanktionsdruck auf die Russische Föderation geht nicht von den Vereinten Nationen aus, sondern ist ein Produkt der Regierungen in Washington und Kanada und der EU. Anstelle des Sanktions-Ping-Pongs zwischen den beiden Seiten, das zurzeit ad absurdum weitergespielt wird, mit ernsthaften Folgen für das Wohlergehen der Menschen, sollten Verhandlungen am Runden Tisch schnellstens eingeleitet werden.
  Viel ist über multilaterale Sanktionspolitik geschrieben worden. Die 1990er Jahre waren zu einer wahren Sanktionsdekade geworden. Uno-Generalsekretär Kofi Annan kam schliesslich zu dem Schluss, dass das «stumpfe Instrument» der Uno-Sanktionen zu keinen Konfliktlösungen geführt habe. Immer wieder waren die Falschen, die Bürger, ob in Afghanistan, im Irak, in Syrien, im Iran, Libyen, Sudan, Venezuela oder der Volksrepublik Korea, zu Opfern geworden. Die permanenten Mitglieder des Uno-Sicherheitsrats sind zu keiner Zeit in der Lage gewesen, politische und wirtschaftliche Sanktionen mit wirklichem Schutz für die Bürger durchzuführen. Das Versprechen Stalins, Roosevelts und Churchills in Jalta im Jahr 1945, als Team den Weltfrieden zu hüten, war vergessen. Nationalstaatliche Eigeninteressen waren schliesslich wichtiger.

Irak 1998: Statt humanitäre Hilfe «Regime change» in Bagdad

Sie traten im Februar 2000 aus Protest gegen die UN-Sanktionen gegen den Irak als Leiter des Oil-for-Food-Programms zurück. Jetzt bereitet sich die EU auf ein Embargo für russisches Öl vor, die EU-Staaten versuchen, Gas aus Russland abzulehnen. Wie sinnvoll ist das Ihrer Meinung nach?
Als Leiter des Öl-für-Nahrungsmittel-Programms (das humanitäre Programm der Uno) habe ich täglich zu spüren bekommen, wie Sanktionen den Irak beeinflussen können. Mit kontinuierlicher Unterstützung der Botschafter Chinas, Frankreichs und Russlands in Bagdad und in New York versuchten wir, den Menschen im Irak mit einem vollkommen und bewusst unterfinanzierten «humanitären» Programm trotzdem zu helfen. Russlands Aussenminister Sergej Lawrow, seinerzeit als Botschafter Russlands bei der Uno in New York, wird sich vielleicht an die hilfreichen Gespräche erinnern, die wir bei meinen Besuchen in New York über die verheerenden menschlichen Umstände im Irak geführt haben. Den Regierungen in Washington und London ging es um Massenvernichtungswaffen, die es gar nicht mehr gab. US-Botschafter John Negroponte sagte darüber am 7. April 2004 vor einem Ausschuss des US-Senats aus. Das humanitäre Programm war offensichtlich zweitrangig. Wie der US-Kongress im Oktober 1998 durch den sogenannten Iraq Liberation Act bestätigte, ging es um «Regime change» in Bagdad.
  Ich möchte hinzufügen, dass Sanktionen gegen den Irak oder andere Länder nie dazu geführt haben, dass jemand für die Handlungen verantwortlich gemacht wird, die sie verursacht haben. Es waren diese Umstände, die mich schliesslich überzeugten, dass Rücktritt von meiner Verantwortung in Bagdad die einzige für mich gebliebene Wahl darstellte.

Beitrag der Uno zur Lösung des Ukraine-Konfliktes

In einem Ihrer Interviews sagten Sie, der pro-westliche Kurs der Uno habe einst zu mehreren grossen Militäreinsätzen geführt, bei denen es viele Opfer gegeben habe. Wie beurteilen Sie die Arbeit der Uno bei der Lösung des Konflikts in der Ukraine?
Bei den grossen Krisen der letzten Dekaden, zum Beispiel im Mittleren Osten, im Balkan und Südasien, hat die politische Uno, der Sicherheitsrat, immer wieder gezeigt, dass er nicht in der Lage gewesen ist, getreu seines Mandats Konfliktlösungen zu ermöglichen. Dies ist ein hartes Urteil, das aber im Detail belegt werden kann.
  Dass dies auch auf die gegenwärtige Situation in der Ukraine zutrifft, ist offensichtlich. Dem Zögern von Generalsekretär Guterres, sich nicht nur rhetorisch für Deeskalation einzusetzen, ist weltweit mit Unverständnis begegnet worden. Erwartet wurde von ihm eine dynamische Pendlerdiplomatie mit vollem Einsatz der moralischen Autorität, die ein Uno-Generalsekretär besitzt. Mehr als 300 hochrangige ehemalige Uno-Mitarbeiter haben ihn in einem Aufruf am 18. April aufgefordert, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Kurz danach ist der Generalsekretär nach Moskau und Kiew gereist. Das Resultat: Der Uno wurde erlaubt, zusammen mit dem IKRK, humanitäre Korridore einzurichten, um Menschen zu helfen, Mariupol zu verlassen. Das ist ein Erfolg.
  Guterres muss verstehen, dass dies hätte alles früher geschehen können. Die Lehre muss sein, solche Bemühungen seinerseits mit beiden Seiten nun ununterbrochen weiterzuführen. Prioritär ist fraglos der Ausbau der humanitären Hilfe für die Ukraine durch die Uno.

«Es gibt keine Alternative zum Frieden»

Derzeit gibt es immer mehr Aussagen über die Risiken eines nuklearen Konflikts. Was könnten und können westliche Länder tun, um die Welt nicht in den dritten Weltkrieg zu stürzen?
Dringend gebraucht wird ein neues europäisches Sicherheitskonzept. Generalssekretär Guterres, als Brückenbauer zwischen Konfliktparteien, muss diese Rolle ausnutzen und dem Sicherheitsrat die Dringlichkeit darlegen, noch in diesem Jahr eine internationale Konferenz über die Sicherheit Europas einzuberufen. Es wäre unverantwortlich, die Möglichkeit eines nuklearen Konflikts zu banalisieren.
  Und zum Schluss will ich noch etwas hinzufügen. Der 8. Mai ist für Deutschland ein Gedenktag, ein Tag der Befreiung. Der 9. Mai ist für Russland der Tag des Endes des Grossen Vaterländischen Krieges. Als junger Mensch habe ich diesen schlimmen Krieg noch erlebt und nicht vergessen. Ich strecke meine Hand aus zu meinen Altersgenossen in Russland und der Ukraine in der Hoffnung, dass wir gemeinsam den neuen Generationen in unseren Ländern sagen können: Macht es besser, als wir es getan haben. Es gibt keine Alternative zum Frieden.  •

Quelle: Deutsches Original des von der russischen Zeitung Iswestija am 11.5.2022 in russischer Übersetzung (https://iz.ru/1331166/mariia-vaseliva/nado-srochno-vyrabotat-novuiu-kontcepttciiu-evropeiskoi-bezopasnosti) veröffentlichten Interviews.

Hans-Christof von Sponeck war 32 Jahre bei der Uno tätig. In dieser Zeit arbeitete er unter anderem in New York, Ghana, Pakistan, Botswana, Indien und war Direktor des Europa-Büros des Entwicklungsprogramms der UNDP in Genf. Von 1998 bis 2000 war er als UN-Koordinator und beigeordneter UN-Generalsekretär verantwortlich für das humanitäre Programm «Öl für Lebensmittel» im Irak. Im Februar 2000 trat er aus Protest gegen die Sanktionspolitik gegen den Irak zurück. Hans von Sponeck wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Coventry Peace Prize der Church of England, mit dem Peacemaker Award der Washington Physicians for Social Responsibility und dem Bremer Friedenspreis.
Zurzeit arbeitet er gemeinsam mit Richard Falk an einem Buch zur Uno-Reform, das 2022 erscheinen wird.

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