Die Spaltung der Welt kann nicht das letzte Wort sein

Ein Kommentar zur internationalen Lage nach BRICS-, G-7- und Nato-Gipfel

von Karl-Jürgen Müller

Nein, niemand mit Herz und Verstand kann sich über den sich abzeichnenden Niedergang der europäischen Verbündeten der USA freuen. Die Probleme, die mit diesem Niedergang verbunden sein werden, werden die bisherigen Probleme der betroffenen Staaten weit in den Schatten stellen und auch kein konstruktiver Beitrag zur Völkerverständigung und zum Weltfrieden sein. Und als Mitmensch und als Bürger dieser Staaten muss man sich grosse Sorgen machen, was gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch auf die in diesem Teil Europas lebenden Menschen zukommt.
  Ja, es hätte nicht so weit kommen müssen. Viele Sachverständige weisen schon seit Jahren darauf hin, dass die für die Politik der europäischen Staaten Verantwortlichen ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Nun kommt noch der radikale Konfrontationskurs gegen Russland hinzu. Schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass dies eine Sackgasse ist. Frieden und Sicherheit ohne und gegen Russland wird es in Europa nicht geben. Es ist nicht nur eine Propagandaformel, von der man im geheimen weiss, dass sie nicht stimmt, sondern sie entwickelt sich zu einer Art politischer Neurose: nicht mehr auf die eigenen Fehler und Versäumnisse schauen, sondern für alles einem Mann die Schuld geben – dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
  Und wenn von eigenen «Fehlern» die Rede ist, dann nur mit der zur antirussischen Propaganda passenden Formel: Wir haben uns in Russland getäuscht und hätten viel früher «den wahren Charakter» der russischen Politik erkennen und auf noch mehr Konfrontation und Feindbild setzen sollen. Eine Formel, die insbesondere bei Deutschlands Politikern derzeit sehr gängig ist.

G7 und Nato: Russland soll der Feind Nummer 1 sein

Jetzt aber wird «korrigiert». Der G-7-Gipfel in Elmau und der Nato-Gipfel in Madrid haben dies gezeigt. Es lohnt sich gar nicht, auf alle Einzelheiten einzugehen. Der Kern der Beschlüsse lautet: Russland ist der Feind Nummer 1, wir rüsten massiv auf, Schweden und Finnland (die schon lange nicht mehr neutral waren) werden nun auch offiziell Nato-Mitglieder. Russland soll noch mehr Gewaltpotential gegenüberstehen als bislang schon. Seht her, Ihr Russen: Jetzt gibt es mehr statt weniger Nato an Eurer Grenze! Das habt Ihr davon (aber eigentlich hatten wir das auch schon vorher so geplant).
  Allerdings hat man auch in den Nato-Staaten mitbekommen, dass die grosse Mehrheit der Staaten der Welt diesen antirussischen Kurs nicht mitmacht. Schon der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hatte in seiner Rede vom 21. Juni 2022 (vgl.Zeit-Fragen Nr. 14 vom 28. Juni 2022) beklagt, Russland habe «jahrelang Beziehungen zu aufstrebenden Staaten gepflegt und sie damit an sich gebunden». So seien «Alternativen zum westlichen Entwicklungsmodell gewachsen». Und weiter: «Russland und China haben über viele Jahre hinweg auch demokratische Staaten wie Südafrika, Indien oder Brasilien hofiert, ihnen etwa über die BRICS-Initiative eine Stimme auf internationaler Ebene gegeben. Sie haben [man höre!] die Interessen dieser Länder gesehen und sind ihren Regierungen mit Respekt begegnet. Das hat Vertrauen aufgebaut. Die Auswirkungen sehen wir aktuell, wenn viele Staaten unseren Weg der Sanktionen gegen Russland ablehnen. Die Abstimmungen in der Vollversammlung der Vereinten Nationen zeigen, dass die Hälfte der Weltbevölkerung [es ist mehr als die Hälfte!] nicht hinter unserer Politik steht. Das muss uns zu denken geben.»
  Eine Folge dieser Art zu «denken» war, dass führende politische Repräsentanten aus Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika zu einem speziellen Treffen nach Elmau geladen wurden. Man hat sie umschmeichelt und gehofft, sie auf die Seite des Nato-Krieges gegen Russland ziehen zu können.

Neokoloniale Forderungen werden zurückgewiesen

Das ist aber nicht gelungen. Eindrucksvoll wird dies in einem Interview deutlich, das die südafrikanische Aussenministerin Naledi Pandor am 27. Juni dem ZDF gegeben hat (siehe diese Ausgabe)1. Man merkt, dass hier nicht eine irgendwie geartete Abhängigkeit von Russland das Hauptmotiv ist, sondern ein würdiges und realistisches Selbstbewusstsein – im Wissen um Jahrhunderte kolonialer und neokolonialer Politik genau derjenigen Mächte, die nun erneut Gefolgschaft fordern.
  Und liest man die Abschlusserklärung vom 23. Juni des BRICS-Gipfels in Peking2, so fällt auf, dass es auch dort kein Feindbild gibt. Ja, im Kapitel über die «Sicherung von Frieden und Sicherheit» wird ausführlich die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus gefordert, aber ein Feindbild USA, Nato oder EU ist nicht zu finden. Statt dessen bekennen sich die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) zum «Respekt für die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten», heben ihr Bekenntnis «zu einer friedlichen Lösung von Differenzen und Streitigkeiten zwischen Staaten durch Dialog und Verhandlungen» hervor und «unterstützen alle Anstrengungen, die zu einer friedlichen Lösung von Krisen führen».

Dinge, die eigentlich für alle Staaten der Welt selbstverständlich sein sollten

Zur Ukraine formulieren sie nur wenige Sätze: «Wir unterstützen Gespräche zwischen Russland und der Ukraine. Wir haben auch über unsere Sorgen über die humanitäre Situation in und rund um die Ukraine gesprochen und unsere Unterstützung zum Ausdruck gebracht für die Anstrengungen des Uno-Generalsekretärs, der Uno-Agenturen und des IKRK, humanitäre Hilfe zu leisten in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der Menschlichkeit, Neutralität und Unparteilichkeit, so wie sie in der Resolution 46/2182 der UN-Generalversammlung niedergelegt wurde.»
  In weiteren Punkten des Kapitels über die «Sicherung von Frieden und Sicherheit» geht die Abschlusserklärung auf die Situation in Afghanistan, im Iran, im Nahen Osten und in Afrika ein, betont immer den Gedanken der friedlichen Konfliktlösung sowie der Souveränität der betroffenen Staaten und fordert schliesslich entschlossene Schritte bei der Abrüstung und Rüstungskontrolle, gerade auch bei Massenvernichtungswaffen.
  Die ersten Seiten der Abschlusserklärung beginnen mit einem Bekenntnis zum gegenseitigen Respekt und Verständnis, zur Gleichheit, Solidarität, Offenheit, Inklusivität und zum Konsensprinzip. Die BRICS-Staaten wollen ihre Zusammenarbeit verstärken und vertiefen und mehr Möglichkeiten für länder-übergreifende Beziehungen der Menschen schaffen. Sie bekennen sich zum Multilateralismus und zur zentralen Rolle der Vereinten Nationen, fordern aber auch dringende Reformen der UN-Organisation, insbesondere im Sicherheitsrat. Sie würdigen verschiedene UN-Organisationen wie die WTO und die WHO, aber auch die G20. Man möge die Abschlusserklärung selbst einmal ganz lesen, um festzustellen, dass hier nichts Revolutionäres oder Besonderes gefordert wird, sondern Dinge, die eigentlich für alle Staaten der Welt selbstverständlich sein sollten. Nur: Sie sind es heute nicht mehr.
  Die politische Führung Russlands hat in den vergangenen Wochen seit dem 24. Februar und den Reaktionen der Nato und ihrer Verbündeten immer wieder geäussert, dass die Nato einen neuen Eisernen Vorhang mitten durch Europa hochgezogen hat und sich Russland deshalb anders orientieren muss und wird: in Richtung Eurasien. Was soll das Land denn sonst tun?
  Aber das kann und darf nicht das «Ende der Geschichte» sein. Europa wäre gut beraten, nicht weiter bei der Spaltung der Welt mitzumachen. Der Preis dafür wäre sehr, sehr hoch – und diese Spaltung der Welt ist auch kein politisches Naturgesetz. Im Gegenteil, der gesunde Menschenverstand spricht auch hier dagegen. Aber derzeit auf die politisch Verantwortlichen in den europäischen Nato-Staaten und die Verantwortlichen in den verbündeten Staaten zu hoffen, ist wohl vergeblich. Um so wichtiger sind die Stimmen und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger.  •



1 https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal-update/g7-suedafrika-verlangt-diplomatische-loesung-100.html
2 https://www.fmprc.gov.cn/eng/zxxx_662805/202206/t20220623_10709037.html

«Trotz der derzeitigen kriegstreiberischen Propaganda, der Vereinfachung und Verzerrung der wahren Ursachen des Konflikts in der Ukraine ist es ganz klar, dass die EU keine Alternative zu Russland als wichtigstem Nachbarn und Partner bei der Aufrechterhaltung der europäischen Stabilität, Entwicklung und des gemeinsamen Wohlstands hat. Wieviel Zeit muss noch vergehen, bis die EU Führungspersönlichkeiten hat, die in der Lage sind, diese Tatsache anzuerkennen?»

Živadin Jovanović, Präsident Belgrader Forum für eine Welt der Gleichen


Unmut in den USA über Hilfspaket für die Ukraine

ts. Die Heritage Action, laut eigenen Angaben eine konservative Basisorganisation mit zwei Millionen Basisaktivisten, veröffentlichte unlängst eine Erklärung der Geschäftsführerin Jessica Anderson vor der Abstimmung des US-Repräsentantenhauses über ein 40 Milliarden Dollar schweres Hilfspaket für die Ukraine. Darin kommt zum Ausdruck, dass in den USA viele mit der offiziellen Ukraine-Politik nicht einverstanden sind:
  «Dieses vorgeschlagene Hilfspaket für die Ukraine nimmt Geld von den Prioritäten des amerikanischen Volkes weg und schickt unsere Steuergelder rücksichtslos an eine fremde Nation ohne jegliche Rechenschaftspflicht. Amerika kämpft mit einer rekordverdächtigen Inflation, Schulden, einer durchlässigen Grenze, Kriminalität und Energieknappheit, doch die progressiven Politiker in Washington räumen einem Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 40 Milliarden Dollar Vorrang ein – mehr als der gesamte Jahreshaushalt des US-Justizministeriums.
  Das amerikanische Volk erwartet von seinen gewählten Vertretern, dass sie die Grösse, den Umfang und die Finanzierungskonten dieses Pakets ernsthaft in Betracht ziehen, anstatt es nach weniger als sechs Stunden eingehender Prüfung blind zu unterstützen. […] Die Bemühungen der Regierung Biden, zusätzliche Mittel für die Ukraine bereitzustellen, kommen zu einer Zeit, in der die Regierung und die Demokraten im Kongress sich weigerten, auch nur einen Bruchteil dieses Betrags zur Lösung der ernsten Probleme an der Südgrenze der USA bereitzustellen. Die Gesetzgebung kommt auch inmitten einer rekordverdächtigen Inflation, die im März bei über 8 % lag.»  •

Quelle: https://heritageaction.com/press/ukraine-aid-package-puts-america-last

Wem dient der Krieg in der Ukraine?

ds. Während der Krieg in der Ukraine andauert und immer neue Opfer fordert, drängt sich die Frage auf, wem dieser Krieg denn eigentlich nützt:
  Wenn man sich erinnert, dass das Ziel der amerikanischen Aussenpolitik seit mehr als 100 Jahren darin besteht, ein wirtschaftliches und politisches Zusammenkommen zwischen Russland und dem westlichen Europa zu verhindern, so haben die USA ihr Ziel erreicht.
  Ein neuer Eiserner Vorhang trennt nun wieder den Westen vom Osten.
  Die EU hat auf Druck der USA ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Russland gekappt und den amerikanischen Forderungen nach Aufrüstung nachgegeben. Die «schnelle Eingreiftruppe» der Nato soll von derzeit 40 000 auf 300 000 Soldaten aufgestockt und schwere Waffen sollen vor allem ins Baltikum und nach Polen verlegt werden. Im neuen strategischen Konzept der Nato wird Russland nicht mehr als «strategischer Partner», sondern als Feind behandelt.

Glaubt wirklich jemand, dass das dem Frieden dient?  •

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