Frieden kommt nicht von allein

von Dr. Eliane Perret, Psychologin und Heilpädagogin

Angesichts der Ereignisse, die Europa erschüttern, stellt sich um so dringender die Frage, wie wir zu einem dauerhaften Frieden kommen. Denn in Ruhe und Frieden zusammenzuleben ist der grösste Wunsch aller Menschen. Er spiegelt sich in vielen Zeugnissen der Menschheitsgeschichte wider. Vorangegangene Generationen haben nach bitteren Erfahrungen von zwei Weltkriegen auf politischer Ebene, in den Humanwissenschaften und ganz allgemein der Kultur bereits vieles aufgebaut, so dass wir mit unseren Bemühungen nicht von vorne anfangen müssen. Sie schufen internationale Vertragswerke zur Friedenssicherung und leisteten mit Forschungsbeiträgen in Pädagogik und Psychologie und grossen Werken in Kunst und Literatur kostbare Beiträge zur Völkerverständigung, mit denen die Menschen in ihrem Gefühl zwischenmenschlicher Verbundenheit erreicht wurden. Ein Blick darauf lohnt sich!

«Wir müssen zusammenarbeiten!»

Es geht um Waldau, ein Dorf, das an einem Fluss liegt, an dessen Ufern die Menschen seit langer Zeit wohnen. Ein idyllisches Bild! Aber der Schein trügt. Denn (und das ist nicht aussergewöhnlich) das Zusammenleben ist belastet durch Konflikte, entstanden durch Rivalitäten, Eifersucht und Neid. Das ist Inhalt des Bilderbuchs «Auf der anderen Seite des Flusses»1, das – obwohl bereits vor langer Zeit erschienen – an Aktualität nichts verloren hat: Die Dorfbewohner wohnen, malerisch gelegen, auf beiden Seiten des Flusses, verbunden durch eine wacklige Holzbrücke. Ihr Zusammenleben ist jedoch gestört durch ständige Streitereien zwischen den Bewohnern auf der Westseite und denen, die auf der Ostseite des Flusses wohnen. So sind sie alle vorerst nicht unglücklich, als ein Gewittersturm die Brücke zerstört … bis der Kaminfeger am linken Ufer des Flusses neue Stiefel braucht, der Schuster aber am anderen Ufer wohnt; der Bäcker auf der rechten Seite dringend den Kaminfeger auf der linken Flussseite benötigt und der Schuster sich mit dem Hammer so fest auf den Daumen geschlagen hat, dass er dringend zum Arzt muss, der seine Praxis jedoch – es erstaunt nicht – auf der anderen Seite des Flusses hat. So wird es schliesslich für alle offensichtlich, dass sie wieder zusammenspannen und ihren Konflikt lösen müssen, was ihnen auch gelingt.

Frei und gleich an Würde und Rechten

Seit dem Erscheinen des Bilderbuches, mit dem kleinen Kindern die Logik der Kooperation nahegebracht wird, hat sich in unserem Lebensalltag vieles verändert. Die Menschen leben in unseren Breitengraden nur noch selten in überschaubaren dörflichen Gemeinschaften, sondern oft eng zusammen und trotzdem weit entfernt in verdichtet gebauten, anonymen Ansammlungen von Wohnblocks. Für Einkäufe wird ins Shoppingcenter gefahren, wo neben der Metzgerei auch andere für den Alltag notwendige (oder unnötige) Produkte und gleich noch Kleider und Schuhe gekauft werden, sofern das nicht durch Online-Shopping erledigt wird. Die im Buch beschriebenen Handwerke werden mittlerweile von grossen Betrieben übernommen, Arbeitsplätze entmenschlicht oder in billiger produzierende Länder verlegt (zu Arbeitsbedingungen, die kaum öffentlich diskutiert und hinterfragt werden).2
  In der dörflichen Gemeinschaft am Fluss im kleinen widerspiegelt sich jedoch, was es braucht, damit ein Zusammenleben in Frieden glücken kann, und das ist keineswegs Nostalgie. Im Gegenteil, gerade heute wäre daraus manches zu lernen, denn es geht um die Grundlagen des Menschseins, die Notwendigkeit der Kooperation auf dem Boden gegenseitiger Wertschätzung, wie sie 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert und von der Generalversammlung der Vereinten Nationen nach den Greueln des Zweiten Weltkrieges im ersten Artikel verabschiedet wurde: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.»

Nur so kann Friede auf der Welt einkehren

Seither haben 191 Länder diese Erklärung unterzeichnet. Doch zeigt ein Blick in die Welt, dass es offenbar am nötigen Ernst und der Entschiedenheit fehlt, dieses Ziel auch in die Realität umzusetzen. Das jedoch würde es brauchen, denn die Würde des Menschen ist keine sich selbstredend ergebende Tatsache, sondern sie muss auf allen Ebenen menschlichen Zusammenlebens gelegt, gestärkt und immer wieder aufs Neue mit der notwendigen Beharrlichkeit gefördert und weitergetragen werden. Nur so kann Friede auf der Welt einkehren. Niemand darf sich herausnehmen, sich über andere Menschen zu stellen, und sich berechtigt fühlen, über sie zu verfügen und sie abfällig zu behandeln, denn: «Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.»
  «Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig, ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist», wie es der zweite Artikel des UN-Dokumentes festhält.

Bilder der Menschheitsfamilie

Offenbar war es vielen Menschen, welche die Greuel der Weltkriege erlebt hatten, klar, dass nun jeder seinen Beitrag leisten musste, damit es nie wieder so weit kommen konnte. So wie es Käthe Kollwitz nach dem Ersten Weltkrieg als Künstlerin, Mutter und Mitmensch tat und mit ihren berühmten Holzschnitten das Gewissen von mehreren Generationen erreichte. «Nie wieder Krieg!» Und wo stehen wir heute? Die Menschen gehören auf der ganzen Welt zusammen, sie dürfen nicht mit Feindbildern belegt werden, denn sie gehören alle zur selben Menschheitsfamilie. An das erinnert eindrücklich die weltberühmte Fotoausstellung «Familiy of Man», die ab 1951 vom luxemburgischen Fotografen Edward Steichen für das Museum of Modern Art in New York konzipiert und 1955 eröffnet wurde.3 Sie greift in der universellen Sprache der Fotografie, die von allen Menschen verstanden werden kann, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno formulierten Grundlagen eines Zusammenlebens in Frieden auf. Edward Steichen und sein Team wählten aus über zwei Millionen Bildern 503 Aufnahmen von 273 Fotografen aus 68 Ländern aus, die in einem umfassenden Porträt 32 Themen zeigen, die die Menschen auf der ganzen Welt beschäftigen – sei es die Liebe, die Arbeit, die Kinder, aber auch Versehrtheit, Krieg und Tod – und auf deren Gleichwertigkeit und gemeinsame Natur hinweisen. Die Ausstellung wollte nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges mithelfen, das Verständnis zwischen den Menschen zu fördern und mahnend auf die katastrophalen Folgen eines nuklearen Krieges hinweisen, wie man sie von Hiroshima und Nagasaki kannte. 2003 wurde die Ausstellung «Family of Man» durch die Unesco zum Weltkulturerbe ernannt, sie ist heute im luxemburgischen Städtchen Clervaux zu sehen.

Fehlende Wurzeln der eigenen Geschichte

Diese Grundlagen für eine in Frieden zusammenlebende Menschheitsfamilie waren vor fünfzig Jahren offensichtlich noch selbstverständlicher im Gemüt der Menschen und den Werthaltungen der Völker verankert. Sie haben ihre Wurzeln in der langen Tradition der jeweiligen Kulturen und prägten lange Zeit die familiäre Erziehung, die Bildungsziele und den Unterricht in den Schulen. Auch Forschung und Lehre der pädagogischen und psychologischen Fakultäten der Universitäten basierten auf diesen Grundlagen. – Seit den 1970er Jahren sind die westlichen Länder jedoch geprägt durch einen von der Frankfurter Schule in die Gesellschaft hineingetragenen Wertebruch, der das menschliche Zusammenleben zutiefst erschütterte. Nicht nur die «Eliten», sondern breite Kreise der Bevölkerung Mitteleuropas haben seither ihren emotionalen Bezug zu den Wurzeln ihrer eigenen Geschichte verloren. Sie lassen sich deshalb leicht verführen zu einem «way of life», der gekennzeichnet ist von Oberflächlichkeit in den Beziehungen, Konsumismus und einem Mangel an Selbstreflexion und Verantwortungsgefühl, so dass ein aktives Mitgestalten der gemeinschaftlichen Belange auf schwachen Füssen steht.

Keinen Hass und Zwietracht säen

Obwohl ein gleichwertiges Zusammenleben heute möglich wäre, werden weltweit Milliarden von Menschen elementare Grundrechte vorenthalten, und politische Grossgebilde gebärden sich wie Kolonialherren. Sie nehmen sich das Recht heraus, sich in die Geschicke anderer Länder einzumischen, Abhängigkeiten zu erzeugen, Konflikte zu schüren, um nicht genehme Regierungen wegzuputschen, und scheuen sich nicht, sich dabei sogar als Hüter von Demokratie und Freiheit zu deklarieren. Genauso verwerflich ist der Versuch, die Einstellung der Menschen gegenüber anderen Völkern durch Propagandamethoden (zum Beispiel in den Medien) zu steuern, Hass und Zwietracht zu säen und die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist kein Jahr ohne Kriege vergangen. Weltweit sind mindestens 60 bis 65 Millionen Menschen an deren Folgen gestorben. Würden wir nicht gut daran tun, zu reflektieren, wie unsere Zukunft als Menschheitsfamilie auf unserem Planeten aussehen soll? Auf welchen Werten unser Zusammenleben aufbauen soll? Es ist an der Zeit, sich daran zu erinnern, was weitsichtige Menschen nach den Greueln von Kriegen geschaffen haben, um ein friedliches Zusammenleben möglich zu machen: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Uno, das Humanitäre Völkerrecht, das Internationale Komiteee vom Roten Kreuz, aufbauend auf Werten, die unserem europäischen Kulturgut entsprechen. Wer deshalb über den eigenen Tellerrand hinausblickt, sieht, dass es viel zu tun gibt, damit die Menschen in Ruhe zusammenleben können.

Grundlegende Werte wieder hervorholen

Der Wunsch der Menschen, in Frieden zusammenzuleben, kann nicht einfach erstickt werden. Nur stellt sich heute um so dringender die Frage, wie wir in Erziehung und Bildung die dafür notwendigen grundlegenden Werte wieder verstärkt legen können. Sie müssen von uns Erwachsenen als Grundlage jeder gesunden Persönlichkeitsentwicklung vorgelebt werden, damit sie für die Kinder und Jugendlichen gefühlsmässig fassbar werden. Warum nicht beginnen mit einem Ferienausflug nach Clervaux als Ausgangspunkt für Gespräche, auf welche auch die heutigen Kinder und Jugendlichen noch so gerne eingehen?  •



1 Oppenheim, J./Aliki. (1972). Auf der anderen Seite des Flusses. Wien: Österreichischer Bundesverlag. Es ist bedauerlich, dass das vor einem halben Jahrhundert von der amerikanischen Autorin geschriebene und später in vielen Sprachen herausgegebene Bilderbuch heute auf Deutsch vergriffen ist.
2 Interessante Beiträge dazu sind auf der Webseite von Public Eye zu finden. www.publiceye.ch/de
3 Steichen, Edward. (1996, Erstausgabe 1955). The Family of Man. Distributed Art Publishers (DAP), New York; https://steichencollections-cna.lu/deu/collections/1_the-family-of-man

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