«Was wir in unseren Medien hören, ist Propaganda, es ist nicht real»

Ein einstiger Verfechter der wirtschaftlichen «Schock-Strategie» bezichtigt den Westen im Ukraine-Konflikt der Lüge

ts. Er ist ein preisgekrönter US-amerikanischer Ökonom. Direktor des Sustainable Development Solutions Network der Uno sowie Direktor des Earth Institute an der renommierten Columbia University in New York City und seit 2021 Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften. Jeffrey David Sachs, Jahrgang 1954, ab 1983 auch Professor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Harvard University, Berater für den IWF, die Weltbank, die OECD, die WTO und das UNDP ist zutiefst besorgt über die derzeitige Weltlage. Er, der sich als radikaler Liberalisierer einen zweifelhaften Ruf erworben hatte. Ab 1985 in Bolivien, ab 1989 in Polen, ab 1991 in Russland. Wikipedia konstatiert: «1989 schloss Jugoslawien mit dem IWF das sogenannte ‹Marković-Sachs-Programm› ab, welches nur auf Drängen des IWF zustande kam. Innerhalb weniger Monate wurde 1989/90 eine radikale Importliberalisierung durchgeführt, die bis Ende 1990 2435 Betriebe mit insgesamt 1,3 Millionen Beschäftigten in Konkurs gehen liess. Das Bruttosozialprodukt Jugoslawiens sank 1990 um 7,5 Prozent und 1991 um 15 Prozent.» Die von ihm empfohlene Politik der raschen Privatisierung im Stil einer Schocktherapie trug, so das Fazit von Joseph E. Stiglitz, zum raschen wirtschaftlichen Zusammenbruch des Ostblocks bei.
  Heutzutage engagiert sich Sachs nun aber gemäss Wikipedia «für weitgehenden Schuldenerlass für extrem arme Staaten und im Kampf gegen Krankheiten, insbesondere HIV/AIDS in Entwicklungsländern. Er kritisiert die WTO und den IWF, weil die Geldgeber dieser Organisationen nicht bereit seien, effektive Hilfe für die extrem Armen zu leisten. Der amerikanischen Regierung wirft er vor, dass sie nicht bereit sei, 0,7 % des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen».
  Was den Krieg in der Ukraine betrifft, ist Sachs’ Stellungnahme unmissverständlich. In einem Interview vom 13. Mai 2022 mit dem Titel «Jeffrey Sachs on Ending the Russia-Ukraine War»1 gibt er zu bedenken, er sei praktisch ständig auf der ganzen Welt unterwegs und spreche überall mit führenden Persönlichkeiten: «Was wir in unseren Medien hören, ist Propaganda, es ist nicht real. Wir sollten eigentlich verhandeln, Biden weigert sich aber.» Sachs sei seit den 1990er Jahren in Russland engagiert gewesen, und man habe Gorbatschow damals versprochen, dass die Nato nicht ost-erweitert würde. Darauf habe Putin immer wieder hingewiesen. Sachs: «Wir sind Lügner, es tut mir leid, es so auszudrücken, wir haben betrogen.» Man habe die Minsker Abkommen unterzeichnet, doch «wenn Putin sagt, was ist mit den Minsker Abkommen, wird er niedergeschrien oder ignoriert […]. Ich kann Ihnen nur sagen, wie viele E-Mails ich von ukrainischen Kanadiern bekommen werde, von ukrainischen Amerikanern, Sachs, bist du verrückt, was sagst du, aber die Wahrheit ist, Diplomatie ist entscheidend, wenn man Kriege vermeiden will.»

«Im Kern geht es um das Wort Exzeptionalismus»

Schon 2018 hatte Sachs Grundsätzliches zur US-Aussenpolitik geäussert. In einem Vortrag mit dem Titel «The End of American Exceptionalism»2 nimmt er kein Blatt vor den Mund, was die gegenwärtige US-Politik nicht nur in der Innen-, sondern auch in der Aussenpolitik bewirkt: «Wir befinden uns an einem Scheideweg. Im Jahr 1941 rief Henry Luz das amerikanische Jahrhundert aus. 1992, als die Sowjetunion zusammenbrach, waren wir der Koloss, das neue Rom, die einzige Supermacht der Welt. Und ich behaupte, das war eine grosse Illusion. Die Vorstellung, dass es eine einzige Macht gibt, die die Welt beherrscht, insbesondere ein Land mit 4,4 % der Weltbevölkerung sich anmasst, die Welt zu führen, die Supermacht zu sein, ist meiner Meinung nach sehr naiv und sehr gefährlich. Im Kern geht es um das Wort Exzeptionalismus, das sich durch die gesamte amerikanische Geschichte zieht, dass wir das aussergewöhnliche Land seien. Das macht uns meiner Meinung nach zu einer Gefahr für uns selbst. Wir haben uns so sehr verausgabt, dass wir überfordert sind. Militärbasen in mehr als 70 Ländern der Welt, mehr als 700 Stützpunkte auf der ganzen Welt. Kriege, die sich endlos in die Länge ziehen, von Afghanistan an. Die Gewalt im gesamten Nahen Osten. Libyen, alle unsere Drohnen- und verdeckten Operationen in Afrika, dem Nahen Osten und anderswo. Wir sind jetzt eine Gefahr für uns selbst, indem wir diese Idee des Exzeptionalismus in einer so anachronistischen Weise aufgreifen.» Seine Kritik beziehe sich auf die etablierte amerikanische Aussenpolitik, die schon seit Jahrzehnten andauere. «Sie ist immer unwirklicher geworden und aus dem Ruder gelaufen, weil der Anteil an der Weltwirtschaft, den globalen Finanzen oder der Technologie, den Amerika dominiert, mit der Zeit abgenommen hat. Wir waren einmal der wirtschaftliche Koloss am Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir waren diejenigen, die nicht angegriffen worden waren auf heimischem Boden, bis auf einen Tag, Pearl Harbor, und wir waren eine militärische, technologische und finanzielle Macht, natürlich. Aber mit der Zeit haben sich andere Länder, andere Regionen, entwickelt. China ist natürlich der bemerkenswerteste Fall der wirtschaftlichen Entwicklung, die die Welt je gesehen hat. 1,4 Milliarden Menschen wurden aus der Armut befreit, in einem Zeitraum von 40 Jahren. Und die Realität in den USA heute? Immer noch sehe man sich als das unverzichtbare Land, beharre auf der amerikanischen Vorrangstellung in jeder Region der Welt.»
  Was hatte Kishore Mahbubani, laut Newsweek einer der hundert einflussreichsten Intellektuellen der Gegenwart, schon vor langem gesagt? Die westliche Vorherrschaft ist zu Ende. Sie war ein Irrlauf der Geschichte. Die überwältigende Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten lebt nicht im Westen und will endlich ernstgenommen werden. Wenn Jeffrey Sachs’ Stellungnahme dazu beiträgt, ist schon viel gewonnen. Wo aber bleiben die Stimmen der europäischen Intellektuellen?  •



1 https://www.youtube.com/watch?v=e1qI1XKMPks
2 https://www.youtube.com/watch?v=kZU0IXO7AQw

 

 

Jeffrey Sachs: Die neueste Katastrophe amerikanischer Neokons

«Der Krieg in der Ukraine ist der Höhepunkt eines 30jährigen Projekts der amerikanischen neokonservativen Bewegung (Neokons). In der Regierung Biden sitzen dieselben Neokonservativen, die sich für die Kriege der USA in Serbien (1999), Afghanistan (2001), im Irak (2003), in Syrien (2011) und Libyen (2011) starkgemacht und die den Einmarsch Russlands in die Ukraine erst provoziert haben. Die Erfolgsbilanz der Neokons ist ein einziges Desaster, und doch hat Biden sein Team mit ihnen besetzt. Infolgedessen steuert Biden die Ukraine, die USA und die Europäische Union in ein weiteres geopolitisches Debakel. Wenn Europa einen Funken Einsicht hat, wird es sich von diesen aussenpolitischen Debakeln der USA distanzieren. […]
  Die Ansichten der Neokonservativen beruhen auf der falschen Annahme, dass die USA auf Grund ihrer militärischen, finanziellen, technologischen und wirtschaftlichen Überlegenheit in der Lage sind, die Bedingungen in allen Regionen der Welt zu diktieren. Diese Position ist sowohl von bemerkenswerter Hybris als auch von bemerkenswerter Geringschätzung von Beweisen geprägt.»

Quelle: Jeffrey Sachs. Die Ukraine ist die neueste Katastrophe amerikanischer Neokons,
«Berliner Zeitung» vom 30.6.2022

Oskar Lafontaine: «Keine Bundesregierung hat das Recht, Millionen Deutsche ärmer zu machen und die deutsche Wirtschaft zu ruinieren»

«Ich kann das Gejammere von Steinmeier, Scholz und anderen über die sozialen Verwerfungen, die entstehen werden, wenn der Gaspreis sich verdreifacht, nicht mehr hören. Wenn man nur von Staaten wie den USA, Saudi-Arabien oder Katar und Russland, denen man völkerrechtswidrige Kriege vorwirft, Energie beziehen kann, dann sollte man den Lieferanten bevorzugen, der die beste und günstigste Ware hat. Das ist Russland. Es wird zudem immer deutlicher, dass die deutsche Wirtschaft auch bei vielen anderen notwendigen Rohstoffen und Ersatzteilen eng mit Russland verflochten ist.
  Man kann es nicht oft genug wiederholen: Wenn man wegen Menschenrechtsverletzungen die Verbindungen zu einem Land abbricht, dann darf man mit den USA, die für die meisten Menschenrechtsverletzungen in der Welt verantwortlich sind, keinen Handel treiben.
  Es war doch wirklich peinlich, mit anzusehen, wie Biden auf der Pressekonferenz mit Scholz in Washington diesem überdeutlich machte, wer bestimmt, ob die Ostseepipeline Nord Stream 2 in Betrieb genommen wird oder nicht.
  Wann wird es einen Bundeskanzler geben, der den Mut hat, Washington zu sagen, bis hierhin und nicht weiter? Woher kommt diese deutsche Sucht, sich zu unterwerfen, wenn man sieht, wie sich deutsche Journalisten und Politiker gegenüber Washington verhalten?
  Wenn man an die eigene Bevölkerung denkt, gibt es nur eine Lösung: Öffnet Nord Stream 2, um das Schlimmste zu verhindern. De Gaulle wusste noch, Staaten haben keine Freunde, sondern Interessen. So wie die Amis seit 100 Jahren versuchen, das Zusammengehen deutscher Technik mit russischen Rohstoffen zu verhindern (George Friedman), so sollte die Bundesregierung endlich einsehen, dass die Sanktionen nicht Russland und den USA schaden, sondern in erster Linie Deutschland und Europa. […]
  Wenn man einen grossen Fehler gemacht hat, muss man den Mut haben, ihn zu korrigieren. Keine Bundesregierung hat das Recht, Millionen Deutsche ärmer zu machen und die deutsche Wirtschaft zu ruinieren.»

Quelle: https://de-de.facebook.com/oskarlafontaine/ vom 4.7.2022

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK