Wer am Abend des 29. Juni Schweizer Radionachrichten oder die SRF-Tagesschau eingeschaltet hat, wurde mit der Nase auf die knallharten Gesetze der Realität gestossen: Da war von einer Gas- und Strommangellage die Rede, die bereits im kommenden Winter in der Schweiz ankommen könnte, und ein entsprechender Notfallplan des Bundes wurde vorgestellt. Der Bundesrat hatte am Nachmittag zu einer Medienkonferenz1 eingeladen, in der UVEK-Chefin Simonetta Sommaruga und WBF-Chef Guy Parmelin die Bevölkerung über den neuesten Stand und über ihre Sicht der Dinge informierten.2 Dabei müssen wir auseinanderdividieren, was die Fakten sind, wer sie verursacht hat und inwiefern sie etwas mit dem Ukraine-Krieg zu tun haben, wie in der Konferenz und in den Medien verschiedentlich behauptet wurde.
Am 21. Mai 2017 stimmten 58 % der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit Ja zur «Energiestrategie 2050». Im Abstimmungsbüchlein hatte der Bundesrat mit den schönsten Schalmeienklängen für ein Ja geworben: «Mit dem ersten Paket der Energiestrategie 2050 kann die Schweiz den Energieverbrauch senken, die Abhängigkeit von importierten fossilen Energien reduzieren und die einheimischen erneuerbaren Energien stärken. Damit bleiben die Investitionen in der Schweiz und fliessen nicht ins Ausland ab. Die Vorlage sorgt für eine sichere und saubere Energieversorgung. Zudem führt sie zum schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie.» Wer wollte schon nein sagen zu einer so verlockenden Zukunftsperspektive? Heute, fünf Jahre später, muss man feststellen: Nichts davon ist eingetroffen.
Energieverbrauch senken?
Kürzlich war in der Tagespresse zu lesen: «Die Schweiz wird in den nächsten dreissig Jahren viel mehr Strom benötigen, als bei der Energiestrategie 2050 angenommen wurde.» («Neue Zürcher Zeitung» vom 31. Mai 2022) Es ist zwar für die Umwelt günstig, dass immer mehr Leute auf Elektroautos umstellen – aber das bedeutet mehr Strombedarf anstelle von Benzin. Die nach wie vor steigende Zuwanderung in unser dichtbesiedeltes Land hebt zudem allfällige Einsparungen auf: Mehr Menschen brauchen mehr Energie. Dass die Deckung des weiterwachsenden Energiebedarfs der Schweiz bald nicht mehr gesichert sein wird, war schon lange vor dem 24. Februar 2022 bekannt. Da kommt manchen Leuten die Ukraine-Krise gerade recht, um von den unzutreffenden Behauptungen vor der Volksabstimmung von 2017 abzulenken.
«Weltweite Energiekrise»: Sind die Russen schuld?
Bundesrätin Sommaruga im Interview nach der Medienkonferenz: «Wir haben einen Krieg in Europa. Wir sehen, dass Russland jetzt zum Teil die Gasexporte gedrosselt hat. Das heisst, ganz Europa ist in einer Energiekrise. Die Schweiz ist keine Insel, wir sind ein Teil davon. […] In den letzten Wochen hat sich die Situation verschärft. Weil Russland jetzt auch zum Teil gegenüber Deutschland – und das ist für die Schweizer Gasversorgung ein sehr wichtiges Land – die Schraube nochmals angezogen hat.»3
Ja, Gopfridstutz, wer hat uns denn die Misere eingebrockt? Die unsäglichen Sanktionen hat nicht Putin erfunden. Wir Europäer, die Schweiz inklusive, sind sehenden Auges hineingelaufen, statt dass wir dem Kommando aus Washington den Gehorsam verweigert hätten. Die Russen ihrerseits haben uns seit jeher, auch im Kalten Krieg, soviel Öl und Gas geliefert, wie wir bestellt und bezahlt hatten. Aber nachdem wir Russland und seine Bürger (nicht nur Milliardäre!) bis zum Gehtnichtmehr schikaniert und ausgegrenzt und seine Weltkulturgüter auf den Index gesetzt haben – wen wundert’s, dass die Russen sich andere Abnehmer suchen?
Gas-Versorgungssicherheit: Aktiver Einsatz der Gasbranche und Nord-Süd-Transit
Etwa 15 % des Schweizer Energiebedarfs werden mit Erdgas gedeckt. 43 % des Gases importiert die Schweiz aus Russland, 22 % aus Norwegen und 19 % aus der EU, den Rest aus anderen Ländern (gazenergie.ch). Aus der Medienmitteilung des Bundesrates vom 29. Juni 2022: «Die Schweiz hat keine eigenen Gasspeicher und ist daher vollständig auf Importe angewiesen. Bis zu drei Viertel der Gaslieferungen in die Schweiz erfolgen via Deutschland. Von Gasengpässen in der EU und insbesondere in Deutschland wäre deshalb auch die Schweiz betroffen. Können die Speicher nicht entsprechend den Plänen gefüllt werden, lässt sich eine Mangellage im kommenden Winter nicht ausschliessen.»4
Was tut der Bundesrat gegen eine mögliche Gasmangellage? Bisher hat er die Gasbranche veranlasst, eine «Task Force Winterversorgung 2022/2023» einzurichten. Diese hat dem Bundesrat am 29. Juni ihr Konzept zur Schaffung einer Winter-Gasreserve präsentiert. Dazu gehört unter anderem «die Einrichtung einer physischen Gasreserve in Gasspeichern der Nachbarländer. Diese soll 15 % (rund 6 TWh) des jährlichen Gasverbrauchs der Schweiz von rund 35 TWh abdecken.» (Medienmitteilung des Bundesrates vom 29. Juni 2022) Hier ist auch zu lesen, dass wir im Winter tatsächlich viel mehr Gas verbrauchen, nämlich 30 TWh, im Sommer lediglich 5 TWh!
Die Schweiz hat zwar keine eigenen fossilen Brennstoffe, aber ihre Lage als Drehkreuz in Europa bringt auch Vorteile: Der Nord-Süd-Transit über die Alpen beschert uns nicht nur luftverpestende Auto- und Lastwagenschlangen, sondern ist auch für den Strom- und Gasfluss unserer Nachbarn von grosser Bedeutung. Die Transitgasleitung bringt im aargauischen Wallbach Gas aus Deutschland und im solothurnischen Rodersdorf solches aus Frankreich ins Land, wo es durch die nationalen Transportleitungen verteilt wird. Ein Teil fliesst aus dem Wallis nach Italien, Gas kann aber auch umgekehrt vom Süden nach Deutschland fliessen, zum Beispiel aus Nordafrika. Rund 90 % der Menge, die durch die Transitgasleitung fliesst, sind für den Transit bestimmt, etwa 10 % für die Schweiz. Mit der Transitgasleitung hat die Schweiz also für schlechte Zeiten ein Pfand in der Hand, so der «Tages-Anzeiger» vom 3. Juli 2022.5
Man sollte annehmen, dass der Bundesrat dieses Pfand in guten Zeiten genutzt und Vorsorge getroffen hätte. Es verwundert, wie zögerlich die Exekutive in der heutigen unsicheren Lage bleibt.
Versorgung mit Gas: zwei dringende Hausaufgaben des Bundesrates
Erstens: Lieferabkommen mit den Nachbarländern. Dazu der Branchenverband VSG: «Der kritische Punkt bleibt, dass das beschaffte Gas tatsächlich in die Schweiz gelangt. Der Bundesrat muss sich zwingend weiter dafür einsetzen, um von den Nachbarländern entsprechende Zusagen zu erhalten.»6
Und wenn unsere Nachbarländer selbst zu wenig Gas haben – werden sie uns dann weiter beliefern? «Dafür gebe es keine Garantie», sagte Simonetta Sommaruga an der Medienkonferenz vom 29. Juni. Deshalb sind schriftliche Vereinbarungen – sogenannte «Solidaritätsabkommen» – um so dringender. Mit Frankreich besteht zwar ein Staatsvertrag, aber dort gibt es immer wieder ernsthafte Stromlücken, weil Kernreaktoren aus Sicherheitsgründen abgestellt werden. In Anbetracht der Tatsache, dass laut Bundesrat Guy Parmelin, ElCom-Präsident Werner Luginbühl und anderen Energiefachleuten an der Medienkonferenz bereits im kommenden Winter ein Gas- und/oder Strom-Engpass eintreten könnte, geht der Bundesrat die Sache erstaunlich locker an. Laut seiner Medienmitteilung vom 29. Juni sind die Gespräche mit Deutschland «am Laufen». Am WEF im Mai haben Sommaruga und Parmelin mit dem deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck «abgemacht, ein entsprechendes Abkommen abzuschliessen». Eine erste Verhandlungsrunde habe im Juni 2022 stattgefunden. Ob bei diesem Schneckentempo die Zeit reicht bis zum Herbst?
Zweitens: Wussten Sie, dass die Schweiz über keine Gasspeicher im Inland verfügt? Reserven im Ausland – auch wenn wir sie bereits bezahlt haben! – sind bei einer allgemeinen Knappheit eine höchst unzuverlässige Einrichtung, wie wir in der Corona-Krise erfahren haben. Deshalb hat der Bundesrat endlich für Gasspeicher im Inland zu sorgen, so der Verband der Schweizerischen Gasindustrie: «Der VSG begrüsst zudem, dass der Bund Bemühungen zum Aufbau von Gasspeicherkapazitäten in der Schweiz unterstützen will. Entsprechende Projekte sind bislang an der Wirtschaftlichkeit und mangelnder Unterstützung durch die Behörden gescheitert.» (Medienmitteilung des VSG vom 29. Juni 2022) Aber auch in diesem Punkt tut sich Bundesrätin Sommaruga nicht durch besondere Entschlossenheit und Eile hervor: Ihr Departement, zusammen mit dem Wirtschaftsdepartement, «prüft […], wie der Aufbau von Gasspeicherkapazitäten in der Schweiz gefördert werden kann und wird den Bundesrat bis Ende August 2022 über den Stand der Prüfarbeiten informieren» (Medienmitteilung des Bundesrates vom 29. Juni 2022). Bis zum ersten Spatenstich werden vermutlich mehrere Winter vorbei sein.
Strom-Versorgungssicherheit: Wasserkraft fördern statt bremsen
Dass in der Schweiz der Ausbau der erneuerbaren Energien nur sehr schwer vorankommt, hat mit dem Ukraine-Krieg jedenfalls nichts zu tun. Zeit-Fragen hat wiederholt darauf hingewiesen, dass neben den «neuen Erneuerbaren» auch die stärkste Energiequelle der Schweiz, die Wasserkraft, künftig viel mehr Strom liefern könnte als heute, wenn alle politischen Kräfte dies wollten.7
Bundesrätin Sommaruga in der Medienkonferenz: «Die 15 neuen Stauseeprojekte, die vor zwei Jahren in Zusammenarbeit mit Verbänden geplant wurden, haben eine sichere Stromversorgung der Schweiz als Ziel.» Nun müssten alle zusammenarbeiten: die ElCom, Kantone, Parteien und der Bundesrat.8
Tatsächlich harzt es vor allem bei den ausufernden Einsprachen gegen jede Erhöhung einer Staumauer – auch von Umweltschutzverbänden, die beim Treffen mit Frau Sommaruga den erwähnten 15 Projekten zugestimmt haben! Jetzt, wo eine Strommangellage in die Nähe rücken könnte, sind gemäss einer Umfrage 67 % der Befragten «für deutliche Abstriche beim Umweltschutz, um die Produktion von erneuerbarer Energie zu steigern». 65 % sind für den Bau von Stauseen in Gebieten, wo früher Gletscher waren. 70 % wollen eine Straffung des Beschwerderechts, um den Ausbau zu beschleunigen.9 In diesem Sinne schlägt Bundesrätin Sommaruga seit einiger Zeit ein einziges Beschwerdeverfahren pro Bauprojekt vor, statt dass jeder Verband separat seine Einsprache gegen jede einzelne Bauetappe bis zum Bundesgericht ziehen kann, was zum Teil zu jahrzehntelangen (!) Verzögerungen führt. Hier müssten das Parlament und das Stimmvolk einen Pflock einschlagen.
Was können wir Bürger zur gedeihlichen Entwicklung unseres Landes beitragen?
Positiv ist zu vermerken, dass in der Medienkonferenz und den damit verbundenen zahlreichen Verlautbarungen kein einziges Mal das fehlende Stromabkommen der Schweiz mit Brüssel beklagt wurde. Offenbar war es für jedermann klar: Wenn es um die Wurst, beziehungsweise um den «Most» (Benzin) geht, lösen die Nachbarländer ihre gegenseitigen Probleme bilateral, wie seit eh und je.
Bundesrat Guy Parmelin warb indessen an der Medienkonferenz fürs Energiesparen: Es werde immer wahrscheinlicher, dass es im Winter zu einem Engpass komme. Weil derzeit mehrere französische AKW abgeschaltet seien, sei auch ein Strommangel nicht ausgeschlossen. Obwohl wir heute genügend Energie hätten, wolle der Bundesrat die Bevölkerung sensibilisieren. Zum Beispiel «müssten leerstehende Turnhallen […] nicht geheizt werden». Wenn die Sparappelle nicht genügten, müsse eine Kontingentierung der Gaszufuhr (für Grossverbraucher) ins Auge gefasst werden. In der Fragerunde mit den Medienvertretern kam es auch zu ungewollt komischen Aussagen: «Müssen wir nun den Thermostat runterstellen, oder ist das nur eine Empfehlung?» wollte ein Journalist wissen. Es sei eine Empfehlung, antwortete Parmelin und fügte bei: Er habe selber keine Gasheizung, aber es wäre sicher nicht falsch, dort zu sparen und die Temperatur etwas zu reduzieren.
Übrigens ganz schön happig, der Notfallplan des Bundes! Die letzte Stufe nach den Kontingenten für die Grossbezüger (dazu gehören zum Beispiel die SBB oder die Post) sind zyklische Stromunterbrüche (8 Stunden ein- und 4 Stunden ausgeschaltet, oder 4 – 4 – 4).10 Das würde den Wirtschaftsstandort Schweiz samt uns Erwerbstätigen und Konsumenten ganz schön durchschütteln. Viel gescheiter wäre es, wenn Bundesbern seine innen- und aussenpolitischen Hausaufgaben erledigen würde – möglichst bevor uns die Mangellage ins Haus steht.
Fazit: Was die sinnvollen Möglichkeiten zum Energiesparen betrifft, haben wir in unserer ressourcen-verschwenderischen Gesellschaft noch viele «leerstehende Turnhallen», wo wir Energie sparen können, bevor wir in unseren Wohnungen frieren müssen. Für eine gedeihliche Zukunft unseres Landes – und der anderen europäischen Völker – ist es aber auch wichtig, dass wir Bürger uns gegen die brutale Zerstörung der Beziehungen zu Russland und seinen Bürgern durch unsere Regierungen zu Wort melden. Nicht nur, damit wir wieder Öl und Gas erhalten! Das Schlusswort überlassen wir Maria Sacharowa, der Sprecherin des russischen Aussenministeriums: «Wir stellen mit Bedauern fest, dass der neutrale Status der Schweiz erste Risse aufweist und dass sich diese Entwicklung fortsetzt. […] Bedauerlicherweise können die gegenwärtigen Beurteilungen und Ansätze von Bern zur Beilegung des Konflikts in der Ukraine in keiner Weise als neutral oder wohlüberlegt bezeichnet werden. Natürlich wird dieser Aspekt im Dialog mit Bern sowohl in bezug auf die bilaterale als auch in bezug auf die internationale Agenda für Russland eine Rolle spielen.»11 Uns Schweizern zur Mahnung! •
1 «Drohende Energie-Krise. Sommaruga: Eine Gas-Mangellage würde uns hart treffen.» SRF News. Liveticker zur Medienkonferenz des Bundesrates vom 29.6.2022
2 UVEK: Eidg. Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation. WBF: Eidg. Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung
3 Rhyn, Larissa. «Energieknappheit. Frau Sommaruga, müssen wir bald mit einem Energie-Alarm rechnen?» Interview in: SRF Tagesschau vom 29.6.2022
4 «Energie: Bundesrat und Branche stärken Gas-Beschaffung und bereiten sich auf mögliche Mangellagen vor.» Medienmitteilung des Bundesrates vom 29.6.2022
5 Felber-Eisele, Philipp; Häne, Stefan. «Energieversorgung in Europa. Schweizer Gasleitung wird zum politischen Pfand». In: Tages-Anzeiger vom 3.7.2022
6 Verband der Schweizerischen Gasindustrie VSG. «Gaswirtschaft sichert Winterversorgung 2022/23 weiter ab». Medienmitteilung vom 29.6.2022
7 siehe zum Beispiel «Aktuelle Schweizer Strompolitik. Stromversorgungssicherheit gibt es nicht zum Nulltarif.» In: Zeit-Fragen vom 22.2.2022
8 «Drohende Energie-Krise. Sommaruga: ‹Eine Gas-Mangellage würde uns hart treffen›». SRF News. Liveticker zur Medienkonferenz vom 29.6.2022
9 Forster, Christof. «Energiewende: Mehrheit der Bevölkerung ist laut Umfrage für deutliche Abstriche beim Umweltschutz und schlankere Verfahren». In: Neue Zürcher Zeitung vom 31.5.2022
10 siehe www.ostral.ch. OSTRAL ist die «Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen», eingesetzt vom «Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE)», die im Auftrag des Bundesrates den Strom-Notfallplan umsetzen würde.
11 «Russland will die Ukraine schützen». Interview von Guy Mettan mit der Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa. In: Weltwoche vom 30.6.2022
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