Die Überlebenden oder: Auf der Suche nach einer Zukunft

«Soft power» verdrängt in Libanon den schwachen Staat

von Karin Leukefeld, Beirut

Die Libanesen sind Überlebenskünstler. Das wenige Geld, das sie noch haben, wird gezählt und nur noch für das Notwendigste ausgegeben: Miete, Strom vom Generator, Wasser, Gas zum Kochen, Benzin, Mobiltelefon/Internet und Lebensmittel. Schwierig wird es, wenn man Medikamente braucht oder ins Krankenhaus muss. Dann ist gesegnet, wer Angehörige im Ausland hat, die finanziell helfen können, sagen die Leute. Wer keine Angehörigen im Ausland hat, zählt seine Tage. Familien rücken zusammen, um Geld zu sparen. Man lebe nicht mehr, man überlebe, sagt ein Angestellter. Das aber aus Überzeugung.

Auf der Fahrt nach Burj Hammoud, einem armenischen Viertel im Osten von Beirut, führt der Weg am Hafen vorbei. «Hier lagen überall Leichen», erinnert sich Mohammad B. (Name ist der Autorin bekannt) an den frühen Abend des 4. August 2020, als vor ihm über dem Hafen plötzlich ein roter Feuerball in den Himmel stieg. «Ich dachte, die Israeli hätten den Hafen bombardiert», sagt er. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. B. war auf der Schnellstrasse Charles Helou in Richtung Osten unterwegs, als etwa einen Kilometer vor ihm etwas im Hafen explodierte, der Verkehr stockte.
  Langsam fuhr er weiter Richtung Burj Hammoud und sah ein Bild der Verwüstung: «Autos waren von der Strasse geschleudert worden, Leichen lagen verstreut herum, in manchen Autos sassen die Toten nach vorne über das Lenkrad gebeugt.» Es sei Blut auf der Strasse gewesen, seltsam verformte Fahrzeuge schienen an den unmöglichsten Orten zu hängen oder zu kleben, die Luft sei staubig und rot gewesen. Als B. wenig später bei seiner Schwester eintraf, machte eine Warnung über die Sozialen Netzwerke die Runde: «Alle in Libanon müssen in den Häusern bleiben […]. Die Flammen deuten darauf hin, dass die Explosion auf Salpetersäure basiert. Bitte bleibt alle drinnen.»
  Keine zwei Jahre sei das her, und jedes Mal, wenn er den Charles Helou entlangfahre, erinnere er sich an den Tag, sagt B. «Hier und hier», gestikuliert er und nimmt eine Hand nach der anderen vom Lenker, um nach rechts und links zu zeigen. «Alles hier war zerstört. Diese Tankstelle und hier das Eckhaus, und überall die vielen Leichen.» Jetzt seien viele Gebäude wiederaufgebaut, ohne den Staat, «den wir ohnehin nicht haben», und mit grosser Willenskraft. Er bewundere den Überlebenswillen seines Volkes. Die Libanesen hätten etwas Besonderes in sich, das ihnen ermögliche, nach schwersten Schlägen wieder aufzustehen und weiterzumachen. «Sie fangen einfach wieder an.»

In fünf Sekunden alles zerstört

«Überlebens-Gen» nennt das der Spirituosenhändler Joseph D. und fügt hinzu: «Sie können mich Joe nennen, call-me-Joe.» Seinen Laden auf der Armenischen Strasse habe er mit Mary, seiner Frau, aufgebaut. «Manchmal haben wir hier übernachtet, hier haben wir unser Essen zubereitet», erzählt der Mann und legt den Arm um seine Frau. «15 Jahre haben wir daran gearbeitet, und in fünf Sekunden war alles zerstört. Können Sie sich das vorstellen? In fünf Sekunden!»
  Die Druckwelle der Explosion am 4. August zerstörte die grosse, gläserne Eingangstür und schleuderte sie in den Laden zurück, erinnert sich Mary D. an den Tag. Die Flaschen zerbarsten, Lampen fielen von der Decke, sie selbst habe viele Schnittwunden erlitten. Sie zeigt eine Handyaufnahme, die ein Nachbar an dem Tag gemacht hatte. Menschen in Sommerkleidung laufen ziellos über die mit Trümmern, Scherben und Metallteilen bedeckte Strasse. Wassertanks und Mülltonnen liegen herum, die dicht geparkten Autos sind unter Steinen und Staub verschwunden. Dann ist Mary D. in dem Video zu sehen. Sie trägt eine rote Bluse und einen schwarzen Rock und versucht verzweifelt, auf ihrem Mobiltelefon eine Nummer zu wählen. Blut läuft über ihre Stirn, an den blossen Armen sind Schnittwunden zu sehen. Ihr Gesicht ist wie versteinert, als sie ihr Handy wieder weglegt. Dann blickt sie liebevoll auf ihren Mann und lächelt verhalten: «Heute kann ich auch wieder lachen, doch den Tag werde ich nie vergessen.»

Auf der Suche nach einer Zukunft

Die Libanesen haben keinen Staat, auf den sie sich verlassen könnten. Die formell vorhandenen staatlichen Strukturen sind schwach, die Gesellschaft ist gespalten. Gründe dafür gebe es zahlreich, sagt Marie Debs von der Kommunistischen Partei Libanons. Von alten Freunden wird sie auch «La Pasionaria» genannt, in Erinnerung an die spanische Politikerin Dolores Ibárruri, die als kommunistische Abgeordnete im spanischen Parlament und mit ihrem lebenslangen Engagement Geschichte schrieb.
  Marie Debs ist keine Abgeordnete im libanesischen Parlament, sie engagiert sich «auf der Strasse» für die Rechte der Frauen und dafür, dass die Menschen sich wieder politisch in Parteien oder Gewerkschaften organisieren. Eine Veränderung in Libanon werde es nur mit einer neuen Verfassung und dem Ende des konfessionellen Systems geben, sagt sie. Im Zentralkomitee der Libanesischen KP ist Debs zuständig für die Koordination von mehr als 30 linken Parteien aus 11 arabischen Staaten. «Nur wenn wir uns organisieren und koordinieren, können wir den westlichen Angriff auf unsere Region, auf unsere Selbstbestimmung und unsere Ressourcen abwehren», ist sie überzeugt und nennt als Beispiel den Kampf um die Kontrolle der Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer. «Wenn Libanon über seine Ressourcen entscheiden kann, können wir auch das Land wieder aufbauen.»
  Heute habe das Ausland mehr Einfluss auf das politische Geschehen als libanesische Gewerkschaften, Organisationen und Parteien. Die Gründe für den schwachen Staat lägen zum einen in der kolonialen Vergangenheit des Landes, im Bürgerkrieg und darin, dass beabsichtigte Reformen wie die Aufhebung des konfessionellen politischen Systems und der Wiederaufbau einer produktiven Wirtschaft nach dem Ende des Bürgerkriegs (1990) nie umgesetzt worden seien.
  Bis heute ist Libanon von Überweisungen aus dem Ausland abhängig. Die Geldzahlungen internationaler Institutionen, Staaten und Staatengemeinschaften nutzen den traditionellen Eliten aus einflussreichen Familienclans, die umgekehrt – als Politiker im konfessionellen politischen System – die Interessen der Geldgeber in Libanon vertreten.
  Alle, die nicht zu diesen Eliten gehören – bei weitem die Mehrheit der Libanesen, unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit – suchen ihr Glück seit dem 19. Jahrhundert in aller Welt. Damals war Libanon ein Teil Syriens, das wiederum Provinz des Osmanischen Reiches war. Bis heute arbeiten Familien darauf hin, ihre Kinder ins Ausland zu schicken, damit sie sich dort eine berufliche Zukunft aufbauen. Doch die Libanesen hängen an ihrer Heimat, jährlich überweisen die im Ausland Lebenden viel Geld an ihre Familien. 1987 betrugen die privaten Überweisungen aus dem Ausland 65 % des Bruttoinlandsprodukts. 2009 machten diese Überweisungen noch 22 % des Bruttoinlandsprodukts aus. Inzwischen sind diese Geldströme für die Menschen auf Grund der Bankenschliessungen in Libanon, wegen der Finanzkrise und umfangreicher US-Finanzsanktionen vor allem gegen schiitisch-muslimische Geschäftsleute weitgehend versiegt.

«Soft power» ersetzt schwachen Staat

In das Vakuum, das durch die Schwäche des Staates entsteht, drängen ausländische Stiftungen sowie staatliche und private Nichtregierungs- und Entwicklungsorganisationen. Es werden Hilfs-, Kinder- und Demokratieprogramme gefördert, Medien finanziert, und es wurden – bei den vergangenen Parlamentswahlen direkt und indirekt – Kandidaten und Kandidatinnen «für den Wandel» unterstützt. Diese Art ausländischer Einmischung in Libanon sei nicht neu, sagt Marie Debs.
  Es sei wichtig, den von Not und Armut betroffenen Menschen zu helfen, doch die ausländischen staatlichen und privaten Hilfsorganisationen machten die Menschen von sich abhängig. Sie seien ein Instrument der Aussenpolitik, insbesondere der USA und Europas und deren Verbündeter. Seit 2011 und den Aufständen in Tunesien und Ägypten habe man beobachten können, wie ausländische Organisationen der Zivilgesellschaft, Stiftungen und Medien als «soft power» westliche Ideen von Reformen verbreitet hätten. Junge Leute würden mit Einladungen zu Seminaren ins Ausland gelockt und hofften auf eine berufliche Zukunft in einer ausländischen Organisation. Diese Einflussnahme verhindere, dass die jungen Leute sich politisch in Libanon organisierten und für die Interessen ihres Landes einsetzten.

Hilfsangebote mit Hintergedanken

Die Trümmer nach der Hafenexplosion im August 2020 waren noch nicht beseitigt, die Toten, Verletzten und Verschwundenen waren noch nicht gezählt, da baute die «soft power» aus dem Ausland auf der Armenischen Strasse eine Zeltstadt. Nicht, dass für die obdachlos Gewordenen Unterkünfte aufgebaut worden wären, vielmehr stellten die Hilfsorganisationen Zelte, Ambulanzwagen oder einfach nur Tisch und Stühle auf und boten ihre Hilfe an.
  Es gab ein «Joint Christian Comitee for Social Services in Lebanon», die Organisation «Aid Lebanon Now» die für den «Wandel, den das Volk voranbringt» warb, «Rapid Response» war aus der Schweiz gekommen, und die türkische «Insan Gesellschaft für die Verteidigung der Menschenrechte» hatte auch einen Stand. Kolonnen von USAID-Helfern marschierten mit Schutzbrillen und Schutzhelmen, mit Masken, Schubkarren, Schaufeln und Besen bewaffnet durch die Armenische Strasse. Gut sichtbar auf Front und Rücken der gelben Schutzwesten verkündete ein Logo: «USAID from the American people.»
  Wie Angst und Not, Enttäuschung und Ärger über den abwesenden Staat von ausländischen Akteuren ausgenutzt werden, erläuterte Mitte Mai (2022) der ehemalige Staatssekretär im US-Aussenministerium David Schenker bei einem Vortrag im Washington Institute for Near East Policy. Man habe die Massendemonstrationen gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise 2019 genutzt, um mit zahlreichen Massnahmen politisch in das Geschehen einzugreifen. Medien wurden unterstützt, die Gründung neuer zivilgesellschaftlicher Gruppen wurde finanziell abgesichert. Ziel sei gewesen, die Zivilgesellschaft gegen die Hizbullah zu stärken, darum habe man wirtschaftliche Angebote in von Schiiten bewohnten Gebieten gemacht. Er persönlich habe mit schiitischen Geschäftsleuten zu Abend gegessen, und er habe «schiitische Journalisten getroffen, die über Korruption und Unterdrückung der Hizbullah geschrieben» hätten. Der Einfluss der Hizbullah in Libanon müsse «an allen Fronten zurückgedrängt werden», sagte Schenker. Man müsse «diese Gruppe in Libanon verfolgen und Leute unterstützen, die bereit sind, sich gegen sie aufzulehnen».

Immer einen Plan B haben

Welche Nichtregierungsorganisation ihnen bei der Reparatur des Ladens geholfen habe, wisse er nicht mehr, sagt Joseph D., der Spirituosenhändler auf der Armenischen Strasse. Er sei froh gewesen, dass Handwerker und das Material bezahlt wurden, dass die Glastür im Eingangsbereich, die Regale, die Decke, der Boden repariert werden konnten. Um neue Ware zu bringen, habe er sich von Familienangehörigen Geld geborgt. «Unsere Regale sind wieder gut gefüllt, wir hoffen auf den Sommer und auf ausländische Gäste. Libanesen haben kein Geld, um es für Alkohol auszugeben.»
  Er wisse wirklich nicht, wie die Libanesen überleben könnten, sagt Joseph D. «Mit Sicherheit hilft uns Gott! Aber alle Libanesen haben ein besonderes Gen, das Überlebens-Gen», schmunzelt er. «Wir haben immer einen Plan B. Wenn wir am Morgen aufstehen und das Haus verlassen, haben wir einen Plan B. Wir wissen nie, was der Tag für uns bringt. Was sollen wir tun? Wir sind nun einmal hier in Libanon geboren, das ist unser Leben.»  •

ef. Die freie Journalistin Karin Leukefeld pendelt seit Beginn des Krieges 2011 zwischen Damaskus, Beirut und anderen Orten in der arabischen Welt und ihrem Wohnort Bonn. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u. a.: «Syrien zwischen Schatten und Licht – Geschichte und Geschichten von 1916–2016. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land» (2016, Rotpunkt Verlag Zürich); «Flächenbrand Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat» (2015, 3. überarbeitete Auflage 2017, PapyRossa Verlag Köln). In Kürze erscheint von ihr im selben Verlag «Im Auge des Orkans: Syrien, der Nahe Osten und die Entstehung einer neuen Weltordnung».

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