Mehr als Gerechtigkeit oder serbisches Déjà-vu

von Luca Brankowitsch, Belarus

Am 25. Mai jährte sich erneut die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Erklärtes Ziel dieses Gerichts war es, der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und den Weg zur Versöhnung zu ebnen. Leider wurde der Strafgerichtshof in Wirklichkeit zu einem Spiegelbild der Heuchelei der internationalen Justiz in den Händen westlicher Staaten. Über die selektive Verurteilung der Serben ist bereits viel gesagt worden. Heute können wir jedoch feststellen, dass sich die Aufmerksamkeit der Verfechter einer solchen Justiz auf ein anderes slawisches Land konzentriert.

Seit der Verschärfung der Feindseligkeiten zwischen Russland und der Ukraine haben eine Reihe westlicher Politiker, die vor allem die EU- und Nato-Länder vertreten, fast sofort dazu aufgerufen, Belarus und seine Führung zur Rechenschaft zu ziehen. Gleichzeitig haben die Anführer der belarussischen Proteste von 2020, für die auf verschiedenen EU-Plattformen aktiv geworben wird, diesen Aufruf schnell aufgegriffen. Die Klischees «Aggressorstaat», «Kriegsverbrecher» oder «Komplize bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit» sind für die Gegner des offiziellen Minsk zum allgemeinen Sprachgebrauch geworden. Haben solche Aussagen jedoch eine rational-juristische Grundlage, oder sind wir Zeugen einer weiteren selektiven Anwendung von Gerechtigkeit?
  Mit Blick auf die Zukunft stellen wir fest, dass die nachfolgenden Gutachten hinsichtlich der praktischen Umsetzung solcher Initiativen zurückhaltender ausgefallen sind.

Nur Personen können vor Gericht verantwortlich gemacht werden

Ausgehend von der These von der Verantwortung von Belarus als Staat ist es wichtig zu betonen, dass ein Staat nicht für die Begehung eines «Kriegsverbrechens», eines «Verbrechens gegen die Menschlichkeit» oder eines «Völkermordes» verantwortlich gemacht werden kann. Diese Arten von Straftaten sind individuell strafbar, d. h. nur eine Person, die an der Begehung solcher Greueltaten beteiligt war, kann strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Staaten sind international verpflichtet, diese Verbrechen zu verhindern und zu bestrafen. Im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine hat Belarus jedoch offensichtlich keine gerichtlichen Möglichkeiten, die angeblichen Straftaten zu verhindern. Folglich sind Aussagen wie «Belarus ist mitschuldig am Völkermord», die von bestimmten Politikern und Medien verbreitet werden, nichts anderes als ein journalistischer Fehler oder eine bewusste politische Unterstellung.
  Selbst wenn man davon ausgeht, dass Belarus möglicherweise an einer Aggression beteiligt war, was auf der These beruht, dass das Land Russland sein Territorium für militärische Operationen gegen die Ukraine zur Verfügung gestellt hat, ist folgendes zu bedenken: Im Mittelpunkt der derzeitigen juristischen Mechanismen zur Feststellung der Verantwortung von Staaten steht das Grundprinzip der Zustimmung des Staates selbst, die Frage seiner Verantwortung durch ein bestimmtes Gericht prüfen zu lassen. Eine solche Zustimmung kann direkt gegenüber einem Gericht oder auf der Grundlage eines Vertrages erklärt werden. Es gibt keine Bestimmungen in den universellen Verträgen, die vorsehen, dass Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Begehung des Verbrechens der Aggression, das Belarus zur Last gelegt wird, einem Gericht vorgelegt werden.
  Es gibt also einfach keine internationalen juristischen Mechanismen, die potentiell in der Lage wären, Verfahren durchzuführen, um Belarus als Staat zur Rechenschaft zu ziehen.

Wie war es 2003?

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob es in der Vergangenheit ähnliche Fälle wie den aktuellen in der Ukraine gegeben hat und was die Folgen waren. Im Jahr 2003 führte eine von den USA und Grossbritannien angeführte Staatenallianz eine Militärinvasion im Irak durch. Die Mehrheit der Staaten der Welt, internationale Organisationen und Staatsoberhäupter, wie der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, erklärten offen, dass die Aggression gegen Bagdad gegen das Völkerrecht verstiess. Die Mitglieder der Koalition hatten jedoch keine ernsthaften Konsequenzen zu tragen. Auch Länder wie Kuwait oder Italien, die ihre Gebiete als Sprungbrett für die Aggression zur Verfügung stellten, wurden im wesentlichen von der internationalen Gemeinschaft nicht verurteilt.

Erneut doppelte Standards

In dieser Hinsicht sind jegliche Äusserungen über Belarus als Aggressorstaat und Versuche, Minsk zur internationalen Verantwortung zu ziehen, ein klarer Ausdruck der Politik der doppelten Standards und selektiven Ansätze bei der Verfolgung der «internationalen Gerechtigkeit».
  Versuchen wir nun, uns mit den Aussagen über die internationale Verfolgung hochrangiger belarussischer Beamter zu befassen. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die belarussische Armee nicht an Feindseligkeiten auf dem Territorium der Ukraine beteiligt ist. Insbesondere eine Expertengruppe im Rahmen des Moskauer Mechanismus der OSZE kam in ihrem Bericht vom 13. April «Über Verletzungen des Humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine begangen wurden» zu dem Schluss, dass Belarus zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts nicht an dem bewaffneten Konflikt beteiligt ist.
  Daher kann nicht behauptet werden, dass bestimmte Vertreter der belarussischen Führung auch nur potentiell an den vorgeworfenen Verbrechen beteiligt sein könnten, d. h. Befehle erteilen, Kontrolle ausüben und den Vorsatz haben, sie zu begehen. Die genannten Handlungen sind integrale Bestandteile der im internationalen Strafrecht verankerten Standards für die Feststellung der individuellen strafrechtlichen Verantwortung.

Belarus hat IStGH nicht anerkannt

Darüber hinaus ist der Internationale Strafgerichtshof bis heute der einzige universelle internationale Gerichtsmechanismus, der für die Verfolgung der schwersten Verbrechen, die die internationale Gemeinschaft betreffen, zuständig ist. Belarus, wie beispielsweise die Vereinigten Staaten, China, die Türkei und Russland, beruft sich jedoch auf sein unveräusserliches Hoheitsrecht und erkennt die Zuständigkeit dieses Gerichtshofs nicht an. Theoretisch hat der UN-Sicherheitsrat die Möglichkeit, den Gerichtshof mit einer bestimmten Situation zu befassen, aber jedes seiner ständigen Mitglieder kann eine solche Entscheidung durch sein Veto blockieren.
  Daraus ist zu schliessen, dass es auch keine internationalen Strafrechtsmechanismen gibt, die für die Verfolgung hochrangiger belarussischer Beamter zuständig wären.

Justiz als Instrument der Kriegsführung?

Einige Experten verweisen auf die Initiative von Gordon Brown, dem ehemaligen Premierminister von Grossbritannien, dessen erklärtes Ziel es ist, die rechtliche Lücke in der Möglichkeit der Strafverfolgung hochrangiger russischer Beamter, vor allem wegen des Verbrechens der Aggression, zu schliessen. Man darf die Frage stellen, warum Herr Brown nicht ähnliche Initiativen ergriffen hat in bezug auf seinen Vorgänger Tony Blair, der die Entscheidung über die Invasion britischer Truppen im Irak im Jahr 2003 getroffen hat, aber lassen wir es bei der Rhetorik. Wir sollten jedoch beachten, dass einige Politiker die Möglichkeit sahen, diese Initiative auf die Führung von Belarus auszuweiten. Derzeit arbeitet eine internationale Gruppe von Juristen und Politikern unter der Leitung eines ehemaligen britischen Premierministers an der Schaffung eines hybriden Justizmechanismus nach dem Vorbild der Ad-hoc-Tribunale für Libanon, Sierra Leone und Kambodscha. Die Besonderheit dieser Tribunale besteht darin, dass sie durch Resolutionen des UN-Sicherheitsrates eingerichtet wurden und ihr anwendbares Recht die Normen des innerstaatlichen Strafrechts der jeweiligen Staaten waren.
  Da Versuche, ein solches Tribunal für die Ukraine über den UN-Sicherheitsrat einzurichten, aussichtslos sind, sieht diese Arbeitsgruppe die Einrichtung eines solchen Mechanismus durch die Verabschiedung einer entsprechenden Resolution der UN-Generalversammlung als wichtigste Option an. Ein Blick in die UN-Charta zeigt jedoch, dass die UN-Generalversammlung keine derartigen Befugnisse hat. Dies ist der Augenblick, wo viele Serben ein akutes Déjà-vu-Gefühl haben könnten. Auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wurde ohne die ausdrücklich vorgesehenen entsprechenden Befugnisse des UN-Sicherheitsrats geschaffen. Gibt es irgendeinen Zweifel daran, dass solche Experimente zur Zerstörung des bestehenden Systems des Völkerrechts und möglicherweise der Weltordnung führen werden? Aber vielleicht ist das bekannte Sprichwort «Gerechtigkeit soll geschehen, auch wenn die Welt untergeht» der Motor des Prozesses für die Verfasser dieser Initiative.

Verantwortliche Staaten dürfen nicht übergangen werden

Darüber hinaus besteht der Unterschied zwischen dem Verbrechen der Aggression und anderen schweren Verbrechen darin, dass die Verurteilung einer Person, die dieses Verbrechens schuldig ist, unmittelbar die Tatsache feststellt, dass der vom Angeklagten vertretene Staat eine Aggression begangen hat, was sich unweigerlich auf die Rechte und Pflichten dieses Staates auswirken wird. Nach Ansicht führender Experten auf dem Gebiet des internationalen Strafrechts ist für die Feststellung der Verantwortung eines hochrangigen Beamten für die Begehung eines Aggressionsverbrechens die Zustimmung seines Staates zu einem solchen Verfahren erforderlich. Andernfalls würde die vom Internationalen Gerichtshof aufgestellte sogenannte Monetary-Gold-Doktrin* verletzt werden. Diesem Grundsatz zufolge kann das Gericht nicht ohne die Zustimmung eines Dritten entscheiden, wenn der «eigentliche Gegenstand» des Verfahrens die rechtlichen Interessen dieses Dritten berühren würde. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die schwierigsten politischen und militärischen Entwicklungen in der Welt oft von Slogans begleitet werden, deren Tonfall von Worten geprägt ist, die in der Gesellschaft starke negative Assoziationen hervorrufen, wie «Völkermord», «Kriegsverbrecher», «Aggression».
  Dieser Blick auf die sich abspielende «Gerechtigkeit» belegt, dass die Methoden, die mit der Etikettierung und der Schaffung des Bildes eines «Feindes der Menschheit» einhergehen, eher durch politische Bestrebungen motiviert sind, als dass sie eine echte Rechtsgrundlage haben. Es ist keine abwegige Vermutung, dass die Urheber solcher Methoden mehr als nur Gerechtigkeit wollen.  •



* Der Internationale Gerichtshof (IGH) kann einen Streitfall zwischen zwei Staaten nur mit der Zustimmung der Parteien entscheiden. Auf dieser Grundlage hat der IGH in seiner Leitentscheidung im Monetary-Gold-Fall von 1954 ausgesprochen, dass er auch dann nicht entscheiden kann, wenn zwar die Parteien ihre Zustimmung erteilt haben, der Fall aber zentral einen dritten Staat betrifft, der nicht zugestimmt hat und nicht Prozesspartei ist. (Anm. d. Red. nach www.pollux-fid.de)

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK