Wann endlich erwacht Europa?

von Graham E. Fuller, British Columbia, Kanada

cm. Graham E. Fuller war vor seiner Pensionierung Vizepräsident des «National Intelligence Council at CIA», zuständig für die geheimdienstliche Beurteilung der globalen Situation. Und er beobachtet die geopolitische Situation als einer der erfahrensten Kenner auch heute noch sehr intensiv. Jetzt hat er zum Krieg in der Ukraine und zur verheerenden – um nicht zu sagen selbstmörderischen – Politik Europas eine kurze Analyse ins Netz gestellt.

Der Krieg in der Ukraine hat sich nun lange genug hingezogen, um erste klare Tendenzen zu erkennen.
  Zuerst zwei grundlegende Tatsachen:

  • Putin ist dafür zu verurteilen, dass er diesen Krieg angezettelt hat – wie praktisch jeder Führer, der einen Krieg anzettelt. Putin kann als Kriegsverbrecher bezeichnet werden – in guter Gesellschaft mit George W. Bush, der allerdings weitaus mehr Menschen getötet hat als Putin.
  • Eine zweite Verurteilung gebührt den USA (Nato), die absichtlich einen Krieg mit Russland provoziert haben, indem sie ihre feindselige militärische Organisation trotz Moskaus wiederholter Warnungen vor der Überschreitung roter Linien unerbittlich bis vor die Tore Russlands getrieben haben. Dieser Krieg hätte nicht sein müssen, wenn die ukrainische Neutralität nach dem Vorbild von Finnland oder Österreich akzeptiert worden wäre. Statt dessen hat Washington zu einer klaren russischen Niederlage aufgerufen.

Wie wird es weitergehen, wenn sich der Krieg dem Ende zuneigt?
  Entgegen Washingtons triumphalistischen Verlautbarungen wird Russland den Krieg gewinnen. Die Ukraine hat den Krieg bereits verloren. Ob auch Russland längerfristig Schaden nimmt, ist fraglich.
  Die amerikanischen Sanktionen gegen Russland haben sich für Europa als weitaus verheerender erwiesen als für Russland. Die Weltwirtschaft hat sich verlangsamt, und viele Entwicklungsländer stehen vor einer ernsten Nahrungsmittelknappheit und der Gefahr einer allgemeinen Hungersnot.

«Tiefe Risse in der europäischen Fassade der sogenannten ‹Nato-Einheit›»

Es gibt bereits tiefe Risse in der europäischen Fassade der sogenannten «Nato-Einheit». Westeuropa wird zunehmend den Tag bereuen, an dem es dem amerikanischen Rattenfänger blindlings in den Krieg gegen Russland gefolgt ist. Tatsächlich handelt es sich nicht um einen ukrainisch-russischen Krieg, sondern um einen amerikanisch-russischen Krieg, der stellvertretend bis zum letzten Ukrainer geführt wird.
  Im Gegensatz zu optimistischen Erklärungen könnte auch die Nato am Ende echt geschwächt daraus hervorgehen. Die Westeuropäer werden lange und gründlich über die «Weisheit» und die hohen Kosten nachdenken, die mit der Provokation tieferer, langfristiger Konfrontationen mit Russland oder anderen «Konkurrenten» der USA verbunden sind.
  Europa wird früher oder später zum Kauf von preiswerter russischer Energie zurückkehren. Russland liegt vor der Haustür, und eine natürliche Wirtschaftsbeziehung zu Russland wird letztlich von überwältigender Logik sein.
  Europa nimmt die USA bereits als eine im Niedergang begriffene Macht mit einer unberechenbaren und heuchlerischen aussenpolitischen «Vision» wahr, die auf der verzweifelten Notwendigkeit beruht, die «amerikanische Führungsrolle» in der Welt zu erhalten. Amerikas Bereitschaft, zu diesem Zweck Krieg zu führen, ist für andere Staaten aber zunehmend gefährlich.
  Washington hat auch deutlich gemacht, dass Europa sich einem «ideologischen» Kampf gegen China anschliessen muss, in einer Art vielschichtigem Kampf «Demokratie gegen Autoritarismus». Dabei handelt es sich doch in Tat und Wahrheit um einen klassischen Kampf um die Macht in der Welt. Und Europa kann es sich noch weniger leisten, sich auf eine Konfrontation mit China einzulassen – eine «Bedrohung», die vor allem von Washington wahrgenommen wird, die aber viele europäische Staaten und einen Grossteil der Welt nicht überzeugt.
  Chinas «Belt and Road»-Initiative ist vielleicht das ehrgeizigste wirtschaftliche und geopolitische Projekt der Weltgeschichte. Sie verbindet China bereits über den Schienen- und Seeweg mit Europa. Der Ausschluss Europas aus dem «Belt and Road»-Projekt wird Europa teuer zu stehen kommen. Man muss dabei beachten, dass der Gürtel und die Strasse direkt durch Russland verlaufen. Es ist für Europa unmöglich, sich Russland gegenüber zu verschliessen und gleichzeitig den Zugang zu diesem eurasischen Megaprojekt aufrechtzuerhalten. Daher hat ein Europa, das die USA bereits im Niedergang sieht, wenig Anreiz, sich dem Zug gegen China anzuschliessen. Das Ende des Ukraine-Krieges wird in Europa ein ernsthaftes Nachdenken über die Vorteile der Unterstützung von Washingtons verzweifeltem Versuch auslösen, seine globale Hegemonie zu erhalten.
  Europa wird bei der Bestimmung seiner künftigen globalen Rolle in eine zunehmende Identitätskrise geraten. Die Westeuropäer werden es leid sein, sich der 75jährigen amerikanischen Vorherrschaft in der europäischen Aussenpolitik zu unterwerfen. Im Moment ist die Nato die europäische Aussenpolitik, und Europa bleibt unerklärlich zaghaft, wenn es darum geht, eine unabhängige Stimme zu erheben – nur: wie lange noch?
  Wir sehen jetzt, wie die massiven US-Sanktionen gegen Russland, einschliesslich der Beschlagnahmung russischer Gelder in westlichen Banken, den Grossteil der Welt dazu veranlassen, die «Weisheit», in Zukunft ausschliesslich auf den US-Dollar zu setzen, zu überdenken. Eine Diversifizierung der internationalen Wirtschaftsinstrumente ist bereits im Gange und wird die einst dominante wirtschaftliche Position Washingtons und seine einseitige Einsetzung des Dollars als Waffe nur schwächen.
  Eines der beunruhigendsten Merkmale dieses amerikanisch-russischen Krieges in der Ukraine ist die völlige Korruption der unabhängigen Medien. Tatsächlich hat Washington den Informations- und Propagandakrieg bisher haushoch gewonnen und alle westlichen Medien dazu gebracht, bei der Charakterisierung des Ukraine-Krieges aus demselben Gesangbuch zu singen. Der Westen hat noch nie zuvor eine so umfassende Durchsetzung der ideologisch geprägten geopolitischen Perspektive eines Landes im eigenen Land erlebt. Natürlich kann man auch der russischen Presse nicht trauen. Inmitten einer virulenten antirussischen Propaganda, wie ich sie in meiner Zeit als Kalter Krieger noch nie erlebt habe, müssen ernsthafte Analysten heutzutage tief in die Tasche greifen, um ein objektives Verständnis dessen zu erlangen, was in der Ukraine tatsächlich vor sich geht.
  Ich wünschte, diese amerikanische Mediendominanz, die fast alle alternativen Stimmen unterdrückt, wäre nur eine vorübergehende Erscheinung, die durch die Ereignisse in der Ukraine ausgelöst wurde. Aber die europäischen Eliten kommen vielleicht doch langsam zu der Erkenntnis, dass sie in diese Position der totalen «Einstimmigkeit» gedrängt worden sind. Die Fassade der «EU-und-Nato-Einheit» zumindest bekommt bereits Risse. Die gefährlichere Auswirkung ist jedoch, dass auf dem Weg in künftige globale Krisen eine wirklich unabhängige freie Presse weitgehend verschwindet und in die Hände von konzerndominierten Medien fällt, die den politischen Kreisen nahestehen und nun durch elektronische Soziale Medien unterstützt werden, die alle die Berichterstattung zu ihren eigenen Zwecken manipulieren. Da wir uns auf eine vorhersehbar grössere und gefährlichere Krise der Instabilität durch die globale Erwärmung, durch Flüchtlingsströme, durch Naturkatastrophen und wahrscheinlich auch neue Pandemien zu bewegen, wird die rigorose staatliche und unternehmerische Beherrschung der westlichen Medien in der Tat sehr gefährlich für die Zukunft der Demokratie. Wir hören heute keine alternativen Stimmen mehr zur Ukraine.

Russland wird in die Arme von China gedrängt

Und schliesslich hat sich der geopolitische Charakter Russlands höchstwahrscheinlich nun entscheidend in Richtung Eurasien verschoben. Die Russen haben sich jahrhundertelang darum bemüht, in Europa akzeptiert zu werden, wurden aber stets auf Distanz gehalten. Der Westen wird nicht über eine neue strategische und sicherheitspolitische Architektur diskutieren. Die Ukraine hat diesen Trend nur noch verstärkt. Die russischen Eliten haben nun keine Alternative mehr, als zu akzeptieren, dass ihre wirtschaftliche Zukunft im Pazifik liegt, wo Wladiwostok nur eine oder zwei Flugstunden von den riesigen Volkswirtschaften in Peking, Tokio und Seoul entfernt ist. China und Russland sind nun entscheidend enger zusammengerückt, und zwar aus dem gemeinsamen Bestreben heraus, die uneingeschränkte «Freiheit» der USA zu unilateralen militärischen und wirtschaftlichen Interventionen in der ganzen Welt zu verhindern. Es ist ein Hirngespinst zu denken, die USA könnten die – von den USA induzierte – russische und chinesische Zusammenarbeit aufspalten. Russland verfügt über wissenschaftliche Brillanz, Energie im Überfluss, reiche seltene Mineralien und Metalle, während die globale Erwärmung das landwirtschaftliche Potential Sibiriens vergrössern wird. China verfügt über das Kapital, die Märkte und die Arbeitskräfte, um zu einer natürlichen Partnerschaft in ganz Eurasien beizutragen.
  Zum Leidwesen Washingtons erweisen sich fast alle seine Erwartungen an diesen Krieg als falsch. Der Westen sollte mit Blick auf diese aktuelle Situation endlich erkennen, dass Washingtons Streben nach globaler Dominanz in immer neue, gefährlichere und schädlichere Konfrontationen mit Eurasien führt. Die meisten anderen Regionen der Welt – Lateinamerika, Indien, der Nahe Osten und Afrika – haben national kaum Interessen an diesem im Grunde genommen amerikanischen Krieg gegen Russland.  •

Quelle: www.globalbridge.ch vom 23.6.2022; das englische Original wurde auf der Internetseite von Graham E. Fuller (https://grahamefuller.com/some-hard-thoughts-about-post-ukraine/ vom 19.6.2022) veröffentlicht.

(Übersetzung Christian Müller)


zf. Geschichte wiederholt sich nicht. Aber man kann aus ihr lernen, vorsichtig zu sein mit Urteilen, die auf Momentaufnahmen beruhen. Heute weiss man zum Beispiel – anders als 1914 –, dass mächtige Kreise in Grossbritannien den Ersten Weltkrieg Jahrzehnte zuvor vorbereitet und heraufbeschworen haben. Dieses Wissen wirft auch ein entscheidendes Licht auf die Frage nach der damaligen Kriegsschuld.
  Der russische Aussenminister Sergej Lawrow hat kürzlich erklärt, Nato und EU seien schon lange dabei, die Kräfte für einen grossen Krieg gegen Russland zu sammeln. Die heutige Situation erinnere ihn an die Zeit vor dem 22. Juni 1941. Man sollte diese Äusserungen sehr ernst nehmen. Dass es Aufmarschpläne gegen Russland schon lange gibt, dazu gibt es leider erdrückendes Faktenmaterial. Hierzu gehört auch die Nato-Ost-Erweiterung. Auch die Regierung der Ukraine hat ihre öffentlich gewordenen Kriegspläne gegen Russland nicht im Alleingang entwickelt, sondern – nach Absprachen – auf ein Zusammengehen mit Nato und EU gesetzt. Hat man sich in Europa schon gefragt, was geschehen wäre, wenn diese Intervention am 24. Februar nicht erfolgt wäre? Wenn man tatsächlich begonnen hätte, die Ukraine, ihrem lauthals verkündeten Wunsch gemäss, nuklear aufzurüsten und sie mit Nato-Hilfe oder als Nato-Mitglied ihre öffentlich angekündigte Absicht realisiert hätte, die Krim – die sich mit dem Referendum von 2014 zu russischem Staatsgebiet erklärt hatte – militärisch zurückzuholen? Und dann? Man muss all dies einbeziehen, wenn man den 24. Februar 2022 in der Gesamtschau beurteilen will. Graham E. Fullers Beitrag macht einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, genau diese Zusammenhänge zu berücksichtigen. Erst wenn diese genauer bekannt sind, wird sich auch erweisen, ob man den auf drastischen Lügenkonstrukten beruhenden Angriffskrieg von George W. Bush gegen den Irak auf die gleiche Stufe stellen kann wie die von Putin verantwortete militärische Intervention gegen die Ukraine seit dem 24. Februar dieses Jahres. Die Kriegsschuldfrage stellt sich auch für ein Europa, das alle seine Werte und seine Geschichte verrät und sämtliche bitteren Lehren aus Jahrhunderten über Bord wirft.

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