Von der Einzigartigkeit des Menschen

«Das Göttliche» von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)

von Winfried Pogorzelski

Schon die ersten zwei bekannten Verse dieser Hymne richten einen hohen Anspruch an uns Menschen, wenn wir dazu angehalten werden, edel, hilfreich und gut zu sein. Die Begründung folgt prompt: Die genannten Fähigkeiten würden uns Menschen von allen anderen bekannten Wesen unterscheiden. Trotz fehlender Gewissheit, ob es Götter gibt und wie ihr Wesen sein mag, solle der Mensch so leben und wirken, dass man die Existenz von Göttern vermuten könne, heisst es weiter in der zweiten Strophe: «Ihnen gleiche der Mensch.»
  Es folgt eine Reihe von Argumenten. Der Blick auf die Natur untermauere die einzigartige Stellung des Menschen: Sie kenne kein Mitgefühl, verhalte sich allen gegenüber völlig gleich: «Es leuchtet die Sonne / Über Bös’ und Gute, / und dem Verbrecher / Glänzen wie dem Besten / Der Mond und die Sterne.» Auch der Unbill der Natur wie Stürmen und Gewitter seien wir alle ohne Unterschied ausgesetzt. Wie die Natur wähle sich auch das Glück im Sinne von Schicksal nicht seine Opfer bzw. seine Glückskinder aus. Denn es richte nicht, noch belohne es. Sondern wie ein mit Blindheit Geschlagener «tappt» es «unter die Menge, / Fasst bald des Knaben / Lockige Unschuld, / Bald auch den kahlen / Schuldigen Scheitel», also ganz unabhängig vom Ansehen dessen, den es erwischt.
  Ganz anders als Natur und Schicksal vermag das menschliche Wesen in seiner Sonderstellung das scheinbar «Unmögliche»: Es kann differenzieren, sich ein Urteil erlauben; zudem habe der Mensch eine gewisse Wahlfreiheit. Er habe auch die Gabe, mittels der Kunst schöpferisch tätig zu sein: «Er kann dem Augenblick / Dauer verleihen.» Dichtung, Musik, bildende Kunst halten fest, was den Künstler beschäftigte, als er sein Werk schuf.
  Was sich daraus für die menschliche Existenz ergibt, ist ein gerüttelt’ Mass an Verantwortung: «Den Guten lohnen, / den Bösen strafen, / Heilen und retten» seien verantwortungsvolle Aufgaben, denen sich der Mensch mit seinen Fähigkeiten zu stellen habe. Und er sei in der Lage, zum Wohle von Mensch und Welt Wissenschaft zu betreiben: «Alles Irrende, Schweifende / Nützlich verbinden.»
  Wir Menschen stellen uns die Götter als idealisierte Menschen vor. Folglich kann jetzt vom «edlen Menschen» gesprochen werden; während zu Beginn im Konjunktiv («sei») noch davon die Rede war, dass der Mensch die Aufgabe habe, edel zu sein, so steht jetzt fest: Der Mensch ist edel, und als solchem komme ihm allein unter dem Himmel die Aufgabe zu, stets das «Nützliche, Rechte» zu erwirken, so dass er ein Vorbild im Sinne eines «Vorausbildes» der nach wie vor nur «geahneten Wesen» – der Götter nämlich – sein könne. Im Göttlichen, das vage bleibt, spiegle sich also das stets nach Sittlichkeit strebende Wesen Mensch.
  Bis auf die sechste Strophe, in der es darum geht, dass der Mensch als Naturwesen den Naturgesetzen unterworfen ist («Nach ewigen, ehrnen, / Grossen Gesetzen»), haben alle anderen Strophen sechs Verse (Zeilen); ab der siebten folgen die Ergebnisse des Gedankengangs. Auf ein regelmässiges Versmass, das heisst auf eine  regelmässige Abfolge unbetonter und betonter Silben, verzichtet der Dichter. Auch die Satzstrukturen sind schlicht: Hauptsätze mit Aufzählungen («Wind und Ströme / Donner und Hagel», «Heilen und retten, / Alles Irrende, / Schweifende»), sparsam verwendete Adjektive und Adverbien, manchmal ein Nebensatz, einige Appelle und Wortwiederholungen unterstreichen die Aussage des Gedichts. Diese formalen Eigenheiten verleihen dem Gedicht den getragenen, feierlichen Grundton einer Hymne.
  Die Epoche, für die Gedankenlyrik dieser Art kennzeichnend ist und auf die sich Goethe hinbewegt, ist die Weimarer Klassik, die mit der Freundschaft und künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Goethe und Friedrich Schiller (ab 1794) beginnt und mit dem Tode Schillers (1805) endet. Die Vertreter der Epoche teilen grundsätzlich die Ziele der Französischen Revolution, lehnen aber jegliche Gewaltanwendung ab und setzen statt dessen auf eine evolutionäre Entwicklung. In Auseinandersetzung mit der Geschichte, der Literatur und der Kunst des antiken Griechenland, der Renaissance und der Aufklärung wächst die Überzeugung, dass Erziehung und Bildung Menschen hervorbringen können, die Pflicht und Neigung in Übereinstimmung bringen und sich dem allgemeinen Sittengesetz verpflichtet fühlen; Schiller prägte den Begriff der «schönen Seele».
  Goethe schrieb das Gedicht bereits im Jahr 1783. Acht Jahre zuvor war er auf Wunsch des Erbprinzen von Sachsen-Weimar Carl August und der Herzoginmutter Anna Amalia nach Weimar gekommen; er liess die Jahre des «Sturm und Drang» und des «Geniekultes» hinter sich und wendete sich dem Studium der Antike und der Geschichte zu. Von Beginn an war er jedoch auch in zahlreiche Pflichten der Verwaltung des Kleinstaates eingebunden: Er war zuständig für den Bergbau und Vorsitzender zweier ständiger Kommissionen, der Wegebau- und der Kriegskommission, in den unruhigen Zeiten wichtige Funktionen. Er entwickelt zunehmend Selbstdisziplin, Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, dies auch unter dem Einfluss von Charlotte von Stein, Hofdame von Anna Amalia und enge Freundin Goethes, und von dem Theologen Johann Gottfried Herder. Goethe hatte ihn in Strassburg kennen und schätzen gelernt; auf seinen Wunsch kam Herder nach Weimar und übernahm dort wichtige Ämter wie diejenigen des Generalsuperintendenten und des ersten Predigers an der Stadtkirche Peter und Paul. Ihm verdankte der Dichter wertvolle Anregungen. Vor allem sprach ihn Herders Grundüberzeugung vom Wesen des Menschen an, wie er sie später in seinen «Briefen zur Beförderung der Humanität» (1793–1797) niederschrieb: «Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts, er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muss eigentlich ausgebildet werden.»
  Im Jahre 1786 brach Goethe fluchtartig nach Rom auf. Das Leben am Hof und die damit verbundenen Pflichten hatte er zunehmend als einengend und für seine literarische Arbeit wenig förderlich empfunden. In der Ewigen Stadt setzte er seine Naturstudien fort und widmete sich der Antike und der Renaissance. Nach seiner Rückkehr nach Weimar 1788 liess er sich von seinen zahlreichen Verwaltungsaufgaben entbinden und übernahm statt dessen die Oberaufsicht über das Weimarer Theater, die ihn in der Folge neben seiner Tätigkeit als Dichter ganz in Beschlag nahm.  •

Quellen:
Goethe, Johann Wolfgang von. «Das Göttliche», in: Goethe, Johann Wolfgang von. Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 1. Gedichte. Zürich 1977, S. 324f.
«Gedanken und Aphorismen aus der Feder von Johann Gottfried Herder». http://lexikus.de/bibliothek/Gedanken-und-Aphorismen-aus-der-Feder-von-Johann-Gottfried-Herder/Humanitaet
Best, Otto F.; Schmitt, Hans-Jürgen. Die deutsche Literatur, Ein Abriss in Text und Darstellung 7, Stuttgart 1974, S. 120ff.
Nürnberger, Helmuth. Geschichte der deutschen Literatur. München, Düsseldorf, Stuttgart 2006, S. 137ff.

Johann Wolfgang von Goethe: Das Göttliche

Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.

Heil den unbekannten
Höhern Wesen,
Die wir ahnen!
Ihnen gleiche der Mensch;
Sein Beispiel lehr uns
Jene glauben.

Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös’ und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen wie dem Besten
Der Mond und die Sterne.

Wind und Ströme,
Donner und Hagel
Rauschen ihren Weg
Und ergreifen
Vorüber eilend
Einen um den andern.

Auch so das Glück
Tappt unter die Menge,
Fasst bald des Knaben
Lockige Unschuld,
Bald auch den kahlen
Schuldigen Scheitel.

Nach ewigen, ehrnen,
Grossen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.

Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche:
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.

Er allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen strafen,
Heilen und retten,
Alles Irrende, Schweifende
Nützlich verbinden.

Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Täten im Großen,
Was der Beste im Kleinen
Tut oder möchte.

Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff’ er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen.

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