Die Fabel sagt offen, was andere verschweigen (müssen)

«Der Stärkere hat immer recht» (La Fontaine)

von Peter Küpfer

«Ein durstiges Lämmlein erlabt sich an einem klaren Bach. Da taucht plötzlich ein Wolf auf, aufs höchste ergrimmt.
  Wie kannst du es wagen, brüllt das hungrige Raubtier, watest hier in meiner Tränke herum und trübst mir das Wasser, ausgerechnet mir!
  Aber, Hoheit, wirft das Schaf ein, wie könnte das sein? Geruhen Eure Majestät doch zu erwägen: Ich stehe hier ja viel weiter unten im Bach als Ihre Königliche Hoheit, da kann ich doch unmöglich …
  Was da, unterbricht die Bestie, ich sehe, was ich sehe. Überhaupt: vergangenes Jahr hast du mich öffentlich beleidigt, mit deinem ungewaschenen Maul.
  Ich, euch geschmäht? Wie sagen Eure Majestät – das letzte Jahr? Da war ich ja noch gar nicht geboren.
  Wenn’s du nicht warst, dann war’s dein Bruder!
  Ich habe keinen Bruder.
  Dann war’s ein andrer Strolch, einer von euch da drüben, aus eurer Sippe. Ich kenn euch schon. Ihr lasst mir keine Ruhe, seid immer hinter mir her, euer ganzes verfluchtes Pack. Ich habe ja kein Leben mehr, ihr und eure Hirten, mit ihren Stöcken und blutrünstigen Hunden. Ich weiss Bescheid, man hat mir alles hinterbracht, mir reicht’s. Ich muss mich an dir rächen!
  Spricht’s, packt das arme Lamm und schleppt es in den Wald. Dort macht er kurzen Prozess. Er bringt es um und frisst es auf, mit Haut und Haar.»

(La Fontaine, Der Wolf und das Lamm,
nacherzählt nach dem französischen -Originaltext)

Eine der Meisterfabeln von La Fontaine (Fables I, X, Le loup et l’agneau). Sie geht mir immer von neuem unter die Haut, trotz oder gerade wegen ihrer kühlen, schneidend sachlichen Sprache, und dies angesichts eines schreienden Unrechts. Im französischen Original, in den geschliffenen Versen des Meisters und in seiner unnachahmlichen Kürze (bei La Fontaine zählt jedes Wort) ist sie unerreicht. Um so empörender ihr Inhalt.

Vorsätzliche Tötungsabsicht

Gegen die von Anfang an bestehende Tötungsabsicht hilft hier gar nichts. Da stellt sich ein ähnliches Gefühl der Fassungslosigkeit ein wie beispielsweise bei der Lektüre heutiger Uno-Berichte über das, was sich andernorts auf unserer Welt so tut, bezüglich Unrecht und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, seit Jahrzehnten, immer wieder. Sie liegen in den Archiven der Uno gehäuft vor, stören dort nicht und schildern minutiös die täglich stattfindenden Kriegsgreuel an den Hunderten von aktuell in Gang gehaltenen Krisen- und sogenannten «Bürgerkriegs»-Fronten in unserer kriegsversehrten Welt. Schon deren Sprache atmet oft auch in diesen «objektiv» sein sollenden Berichten die darin versteckte systematische Lüge: «Bürgerkrieg», «Rebellion», «Rebellentruppen». Es handelt sich dabei in Wahrheit oft um von aussen geschaffene Kriege, sogenannte Stellvertreter-Kriege, ausgetragen eben gerade nicht von Bürgern, sondern von Söldnerarmeen, die auf Befehle handeln, die ganz woanders herkommen. Es sind Wunden und schlecht verheilende, oft bleibende Narben auf unserer Weltkugel. In den genannten Untersuchungsberichten werden ebenfalls in schwer zu ertragender aufzählend-sachlicher Sprache Taten, Orte, Zeitpunkt, Umstände, sogar Namen genannt, Seite um Seite, und hinter jedem stehen Menschen und Schicksale – eine schwer zu ertragende Lektüre angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die sie schildern. Und noch unerträglicher ist das Wissen darum, dass diese Berichte wenig bis keine Folgen haben, zumindest wenn sie Schauplätze nennen, die etwas abseits von «der Welt» (natürlich «unserer» Welt!) liegen, zum Beispiel in Afrika, zum Beispiel im Ostkongo.

Folgenlose Willkür

Ähnlich folgenlos bleibt auch die nüchterne Fabel La Fontaines. Mit einem Unterschied vielleicht: Die «Rechtfertigung» dieses Lammrisses durch den Urheber ist so willkürlich und schreiend stupid, dass wir lachen müssten, ginge es dem armen Opfer nicht ans Leben.
  Ist Unrecht, gestaltet in dieser hoch-artistischen Form eines La Fontaine, leichter «zu ertragen»? Kaum, Unrecht bleibt Unrecht. Durch die starke Stilisierung auf einfache Rollenbilder, wie es die Fabel pflegt, tritt die von ihr gestaltete willkürliche Verachtung jeder Rechtsvorstellung nur um so stärker hervor. Hier der Versuch, durch Höflichkeit, Sachlichkeit und Verweis auf Sachverhalte das sich abzeichnende Unheil aufzuhalten oder doch zu mindern – dort der unverhohlene, dröhnende, spöttische, über jeden Sachverhalt hinweggehende anklägerische, sogar sentimentale Aufbau eines Feindbildes (ihr Schafe zerstört mein Leben dadurch, dass ihr euch wehrt, von mir gefressen zu werden!). Die vom Wolf angewandte Rhetorik dient offenkundig nur der Absicht des Angreifers, sich ein Motiv für die Tat einzureden. In heutigen Modebegriffen könnte man das Zusammensuchen des Wolfes an Gründen für seine Attacke als Musterbeispiel für das nehmen, was viele heute als Hassrede, als «hate speech» bezeichnen. Während das kluge und fast übersanfte Schaf der ihm entgegenstehenden Wand von Vorurteilen und willkürlichen Anschuldigungen mit Argumenten, Vernunft und einem gehörigen Schuss Höflichkeit begegnet, stösst es beim interessengeleiteten mörderischen Ankläger (er ist gleichzeitig Richter und dann auch Scharfrichter) auf neuerliche, immer absurdere Vorwürfe, Anschuldigungen und Herabsetzungen. Da wird vom «du» (du hast mich beleidigt, Majestätsbeleidigung!) aufs «er» geschwenkt (wenn du es nicht warst, dann war’s dein Bruder), was sachlich der illegitimen, vom Nazi-Regime praktizierten Sippenhaftung entspricht; dann mit plumpen Verallgemeinerungen eine Kollektivschuld aufgebaut (ich kenne euch, ihr Pack, so seid ihr eben); schliesslich als «Beweis» ein nicht genannter, höchst unglaubwürdiger Zeuge beschworen (On me l’a dit – es wurde mir gesagt, heisst es im Originaltext). Gesagt von wem, bei welcher Gelegenheit und mit welchem Grad an Glaubwürdigkeit? – Das bleibt alles ausgeblendet.
  Das klingt nach Gegenwart. In unserer faktischen Realität geht die Nato zusammen mit der ihr hörigen EU daran, ihre selbst fabrizierten stark auf den Westen ausgerichtete «Regelsysteme» weltweit durchzusetzen, wenn es sein muss, mit einer 300 000 Mann (oder auch Frau?) starken schnellen Eingreiftruppe, wie Jens Soltenberg triumphierend verkündet. Zu diesem Regelsystem gehört für die EU-Spitze und ihre Gesinnungsgenossen auch der oben angesprochene EU-Kampf gegen öffentliche Hassrede («hate speech»). Die EU folgt dabei einem amerikanischen Präsidenten, welcher den Präsidenten der «anderen Seite» öffentlich als «Killer» tituliert (schon lange vor dem 24. Februar). Wenn das kein «hate speech» ist, «sanktioniert» vom höchsten Politiker des Landes? Erst kürzlich hat der selbsternannte Verteidiger «unserer» Freiheit einen angeblich verbrecherischen «Terroristenchef» mit einer Drohne liquidieren lassen (nach reinster Mafia-Manier: wichtig ist nur der Treffer, Kollateralschäden werden in Kauf genommen!). Das ist ein Stil, hinter dem eines steht: die reine Arroganz der Macht.

Kritik des Absolutismus

Dieses unaufrichtige «Spiel» hat schon ein La Fontaine durchschaut, auch wenn er die vorsichtige Form der Fabel gewählt hat, um damals offenkundige reine Machtpolitik anzuprangern. Jeder etwas gebildete französische Leser wusste, wer mit dem gefrässigen Wolf in Wirklichkeit gemeint war (Ludwig XIV, der Herrscher eines zur Weltmacht gewordenen Frankreichs). Dass mit dem brutalen Wolf niemand anders als er gemeint war, hat La Fontaine listig in die damalig obligatorische Anrede für königliche Hoheiten versteckt, Formeln, über die das kluge Lamm verfügt: «Sire» und «Votre Majésté». La Fontaine hat mit dem Mittel der Fabel klar Farbe bekannt, für die Wehrlosen, gegen die Arroganz der Macht. Ihre «für das Publikum» angewendete Schein-Legitimation kann den Fakt nicht wegdeuteln. Der Wolf ermordet ein unschuldiges Wesen, nicht aus Not, nicht aus Selbstverteidigung, nicht einmal aus Rache für ein Unrecht, nein: aus reiner Gier. Um dies zu verdecken, ist ihm jedes grob gezimmerte «Argument» recht. Damit macht ihn die Fabel nicht einfach nur zum Symbol eines Machtmenschen, sondern zum Symbol einer unmenschlichen Politik, des Wahns der von allem Recht losgelösten Herrschaft.  •

 

 

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