«Nationale Interessen – Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche»

Klaus von Dohnanyis Plädoyer für einen politischen Kurswechsel

von Winfried Pogorzelski

In seinem vor dem Ukraine-Krieg erschienenen Buch plädiert der ehemalige SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi (geb. 1928), früher u.a. tätig im Wirtschafts- und Aussenministerium der Regierungen Willy Brandt und Helmut Schmidt, für eine Orientierung der Politik an grundlegenden nationalen und europäischen Interessen. Die europäischen Staaten seien zu unterschiedlich von ihrer Geschichte und Kultur her, als dass sie zu einer homogenen Europäischen Union zusammenwachsen könnten, die ohnehin Gefahr laufe, von den USA für deren welt- und machtpolitischen Pläne instrumentalisiert zu werden. Europas wichtigste reale Chance liege darin, zu einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsmacht aufzusteigen. Zur gegenwärtigen deutschen Ukraine-Politik nahm er in Interviews kritisch Stellung.

Seit dem 24. Februar haben sich die Ereignisse überschlagen. Das Buch wirkt schon wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, zeigt aber um so mehr, welche Chancen warum verpasst wurden, mit anderen politischen Entscheidungen die Welt sicherer und friedlicher zu machen.

Nationalstaat als Fundament, gerade
beim Verhältnis zu den Grossmächten

Klaus von Dohnanyi plädiert für eine klares Bekenntnis zum «demokratischen Nationalstaat» (S. 149f.), weil nur dieser – im Gegensatz zu einem Staatenverbund wie der Europäischen Union – durch freie Wahlen und Gewaltenteilung vollumfänglich legitimiert sei. Als solcher sei er verpflichtet, mit seinen Institutionen im Interesse der Bevölkerung zu handeln; denn er ist für ihr Wohlergehen verantwortlich und dafür, dass die Chancen auf eine sichere Zukunft und allgemeinen Wohlstand intakt sind. Seien es Demokratien oder auch Diktaturen.
  Die Grossmacht, die mit ihren Interessen und politischen Massnahmen die Entscheidungen auf unserem Kontinent und diejenigen der Nationalstaaten am meisten beeinflusste, seien die USA. Sie beherrschen Europa aussen- und sicherheitspolitisch, was beträchtliche Konsequenzen für die Nationalstaaten hat: Diese werden in Konflikte zwischen den USA und anderen Grossmächten hineingezogen und müssen sich den Weichen stellenden Entscheidungen stellen, ob diese nun in ihrem Interesse sind oder nicht.
  Traditionelle nordamerikanische Politik sei es, ohne Rücksicht auf Geschichte und Mentalität anderen Staaten ihr System als das allein Seligmachende aufzuzwingen – sei es mit Sanktionen oder militärischer Gewalt – meist mit dem Ergebnis, dass genau das Gegenteil dessen hervorgerufen werde, was man vermeiden wolle: eine Stärkung autoritärer politischer Systeme. Auch hier blieben die Interessen davon betroffener Staaten unberücksichtigt (S. 73).

Für eine gute Nachbarschaft mit
dem europäisch geprägten Russland

Der Autor bezweifelt, dass Russland ein Interesse daran habe, sich gegen Westen auszudehnen, dafür gebe es jedenfalls keinerlei Belege. Hingegen kann er nachvollziehen, dass für Russland die Nato-Ost-Erweiterung «das schärfste Reizthema der westlichen Osteuropa-Politik» (S. 65) ist, dies um so mehr, als der damalige US-Aussenminister James Baker Michail Gorbatschow zugesichert hatte, auf eine Nato-Ost-Erweiterung zu verzichten. Diese Tatsache, so weist Dohnanyi detailliert nach, war die Grundlage für die Gespräche zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow, der dem Westen «auf Grund des US-amerikanischen Versprechens dann auch Kohl die Zustimmung zur Währungsunion – und damit zur Wiedervereinigung – gab» (S. 67). US-Präsident George H. W. Bush war mit Baker nicht einverstanden und nahm dessen Zusage mit den markigen Worten zurück: «Zur Hölle damit. Wir haben uns durchgesetzt, sie nicht. Wir können den Sowjets nicht erlauben, sich den Sieg aus den Klauen der Niederlage zu holen und so in letzter Minute eine Niederlage in einen Sieg zu verwandeln» (S. 68f.). Für den Autor ist klar, dass die USA damit die grösste Chance verpassten, für einen dauerhaften Frieden in Europa zu sorgen.
  Seit 1990 und bis heute sei die Politik des Westens unter der Führung der USA gegenüber Russland ohne Grund konfrontativ. Dagegen sei Diplomatie gefragt, um die Sicherheitsinteressen Mitteleuropas, des Nachbarn Russlands, zu wahren. Statt dessen habe man die Nato-Ost-Erweiterung vorangetrieben, was die Beziehungen zu Russland vergifte und Europa in Konflikte mit anderen Grossmächten hineinziehe (S. 72).
  Hinzu kommt die Tatsache, dass sich die USA als «exceptional nation» verstehen, die dazu berufen sei, andere Länder und schliesslich die ganze Welt zur Demokratie zu drängen in der Überzeugung, so die Welt sicherer zu machen. Gegner dieser imperialistischen Politik bekamen es bereits mit Theodor Roosevelt (1858–1919) zu tun, der sie rundweg als «nutzlose Sentimentalisten vom Typ des internationalen Versöhnlers» diffamierte und ihnen einen «weichlichen Charaktertyp» bescheinigte, der «die grossen Kampfeseigenschaften unserer Rasse ‹annagt›» (S. 74).

USA und Europa – eine Wertegemeinschaft mit Rissen

Diese Politik wird kaschiert mit der vielbeschworenen westlichen Wertegemeinschaft, die für Dohnanyi lediglich aus den Gemeinsamkeiten allgemeines Wahlrecht, Pressefreiheit und Demokratie besteht. Hinsichtlich Verantwortung des einzelnen Bürgers für seine Zukunft, extremer Kluft zwischen Arm und Reich und privater Finanzierung der Parteien seien die Differenzen erheblich. Von «plutokratischer Demokratie» sprechen selbst einige US-Wissenschaftler. Und die Präsidenten Bill Clinton und Donald Trump hätten sich Vergehen leisten können, die, von einem deutschen Ministerpräsidenten begangen, umgehend zur Amtsenthebung führen würden.
  Auch in Sachen Völkerrecht bestehen gravierende Unterschiede: «Denn US-amerikanische Bürger sind offenbar etwas Besseres als die Bürger anderer Staaten» (S. 77), bemerkt Dohnanyi süffisant. Die Grossmacht verweigere nämlich dem Haager Gerichtshof die Anerkennung, drohe gar mit Sanktionen, sollte einer ihrer Bürger zur Rechenschaft gezogen werden. Dabei scheue sie sich nicht, eine völkerrechtswidrige Intervention nach der anderen zu unternehmen. Und man reibt sich die Augen: Das amerikanische Recht erlaube es sogar, Personen zu ermorden («targeted killing»), wenn man sie als eine Gefahr für die Sicherheit der USA sieht (S. 77).
  Sanktionen, also Wirtschaftskriege, gehören ebenfalls zum Arsenal der US-Aussenpolitik. Sie werden eingesetzt, wenn andere Methoden ungeeignet oder zu risikoreich scheinen. Dabei nützen sie meist wenig bis gar nicht, wie Dohnanyi am Beispiel des Uiguren-Problems in China darlegt. Im Gegenteil: Die betroffenen Staaten reagierten störrisch, geschadet werde vor allem der Bevölkerung der betroffenen Staaten, weswegen sie auch völkerrechtswidrig sind. Es ist das Verdienst des Autors, diese Tatsachen klar zu benennen, wo doch momentan alle deutschen Politiker darin wetteifern, wer sich am schnellsten und bedingungslosesten zum Erfüllungsgehilfen der US-Politik macht!

Ist Europa durch die Nato geschützt
oder potentieller Kriegsschauplatz?

Nachdem Dohnanyi erstaunlich blauäugig das Verdienst des «aussereuropäischen Hegemons» (S. 90) USA gewürdigt hat, Europa von Gewaltausbrüchen und Kriegen – zuletzt «durch den rettenden Eingriff in den Balkan-Krieg» (ebd.) – befreit zu haben, nennt er auch den hohen Preis, nämlich den Verlust der Souveränität Europas durch die Wahrnehmung der Verantwortung für die Sicherheit des Kontinents durch die USA. Das heisst konkret: Im Fall eines Schlagabtauschs zwischen den USA und Russland wäre Europa der Kriegsschauplatz, auf dem auch Atomwaffen eingesetzt werden könnten – ganz ohne Risiko für die USA, versteht sich.
  So stellt sich für den Autor die Frage, ob Europa als militärische Macht souverän werden könnte, um sich beispielsweise der Grossmacht Russland zu erwehren. Schon General de Gaulle habe eine von der Nato unabhängige europäische Verteidigungsmacht vorgeschwebt, bei der Frankreich als atomare Landmacht und ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat eine Führungsrolle beanspruchen könne.
  Heutzutage sieht Dohnanyi für dieses Konzept einen Hinderungsgrund in der Vielfalt Europas, die auch aus den unterschiedlichsten Interessen der Länder besteht. Eine gemeinsame Sicherheitspolitik sei möglich, aber keine gemeinsame Verteidigungspolitik. Die von Angela Merkel und Emanuel Macron mit Russland initiierten Gespräche waren erfolgreich und führten zu den Minsker Abkommen. Deutschland und Frankreich – so seine Empfehlung – sollten weiter vorangehen und aktive Friedenspolitik betreiben, indem sie im Interesse Deutschlands und Europas mit Russland im Gespräch bleiben.

Kluge deutsche bzw. europäische Ostpolitik als Sicherheitspolitik?
Fehlanzeige!

Ein weiteres Mal kritisiert Dohnanyi die Ost-Erweiterung des Militärbündnisses unter Federführung der USA. Inzwischen hätten diese Politik so prominente Köpfe wie Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater unter Präsident Jimmy Carter, und Williams Burns, ehemals US-Botschafter in Russland und aktueller CIA-Chef, kritisiert. Mit kluger europäischer Friedenspolitik zum Wohle des europäischen Kontinents hätten diese Schritte nichts zu tun. Der Ukraine Sicherheit zu bieten, sei auch ohne Nato-Beitritt möglich gewesen, nämlich über die beiden Minsker Abkommen. Aber die Ukraine habe sich in dieser Frage jahrelang nicht bewegt, und die USA seien an Fortschritten in diesem Prozess nie interessiert gewesen.
  Klaus von Dohnanyi verweist auf den Mut von Michail Gorbatschow, den sich der Westen zum Vorbild nehmen solle: Neues Denken sei gefragt. Seine Hoffnung setzte er Ende 2021 noch auf die neue Bundesregierung, deren Mitglieder aus SPD und FDP «ein gemeinsames wertvolles Erbe aus den siebziger und achtziger Jahren zu bewahren und mit neuem Leben zu erfüllen» hätten. «Denn beide Parteien verfügen ja über eine grosse Tradition erfolgreicher Ostpolitik, die sie jetzt […] in Erinnerung bringen könnten. Die neue Regierung sollte den USA dabei vermitteln, dass ihr ‹Brückenkopf› auf dem europäischen Kontinent erst recht willkommen sein wird, wenn die USA eine Entspannung im Verhältnis mit Russland vorantreiben.» (S. 111)
  Dohnanyi sah die Gefahr der schlimmstmöglichen Wendung, als er das Buch schrieb. Sie ist tatsächlich eingetreten, alle Hoffnungen haben der totalen Ernüchterung Platz gemacht: Die einstige kluge deutsche und europäische Ostpolitik liegt in Trümmern, mehr noch: Die neue Regierung – allen voran Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck und Aussenministerin Annalena Baerbock, beide von den ehemals pazifistischen Grünen, – steht Gewehr bei Fuss und folgt mit Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen für die Ukraine blindlings dem Kriegskurs der USA.

Die Europäische Union und ihre Perspektiven

Der Autor äussert sich auch ausführlich zur EU und ihren strukturellen und wirtschaftlichen Besonderheiten. Militärisch könne und wolle sie nach internationalen Massstäben keine entscheidende Rolle spielen. Ziel müsse deshalb «eine allianzneutrale Position» (S. 119) sein. Wer sich nicht allein gegen einen Stärkeren verteidigen könne, für den sei der sicherste Weg, sich nicht in Konflikte der Grösseren einzumischen.
  Dagegen sei die Vielfalt der kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fähigkeiten weltweit einmalig. Europa beweise Stärke und Fähigkeiten in Sachen Klima- und Umweltschutz bei gleichzeitigem sozialem Ausgleich. Einige wirtschaftliche Kennzahlen zeigten jedoch, dass die USA und China immer noch Europa den Rang abliefen, z. B. was die Gründung neuer grosser Firmen in den letzten 25 Jahren betreffe; der Economist diagnostiziere, der Kontinent habe «seinen unternehmerischen Ehrgeiz […] verloren» und «der wichtigste Grund für das Zurückfallen Europas im globalen Wettbewerb» liege wohl «in einer verfehlten Politik der Europäischen Gemeinschaft» (S. 163).
  Aussenpolitisch nimmt der Autor besonders Deutschland in die Pflicht: Die Politik des «Wandels durch Annäherung», wie sie von Willy Brandt und Egon Bahr begonnen und von den USA stets abgelehnt wurde, habe unter Helmut Kohl zur Wiedervereinigung geführt. Diese Politik sei auch heute noch ein diplomatisches Vorbild, nicht nur für Deutschland, sondern auch für die EU bei der Gestaltung des Verhältnisses zu den Weltmächten.

Zum Ukraine-Krieg

Hartnäckig widersetzte sich der 94jährige in der ARD-Sendung «Maischberger» (11. Mai 2022) allen Versuchen der Moderatorin, ihn zu einem Negativ-Bild von Wladimir Putin zu überreden. Dieser habe mit guten Gründen seit langem und immer wieder darauf bestanden, dass die Ukraine nicht Mitglied der Nato werde. Der Westen, allen voran die USA, verhänge Sanktionen gegen Russland und stelle sich taub. «Was euch wichtig ist, darüber wird nicht verhandelt», sei seit jeher Joe Bidens Haltung gegenüber Russland. Die Möglichkeit, eine Eskalation des Konflikts zu verhindern, habe ganz klar beim Westen, bei den USA gelegen, die entgegen allen Warnungen – auch aus den eigenen Reihen – Russlands Interessen fortgesetzt ignorierten und die Bemühungen des Kremls um Verhandlungen ins Leere laufen liessen.
  Das Buch ist verdienstvoll: Denn hier macht sich ein verantwortungsbewusster ehemaliger Politiker Gedanken um die Zukunft Deutschlands und Europas; er schöpft dabei aus seiner reichen politischen Erfahrung, aus dem Studium der Geschichte und der Lektüre von Publikationen zahlreicher Fachleute und Zeitzeugen. Den Deutschen schreibt er ins Stammbuch, sie sollten sich aus der politischen Abhängigkeit von den USA lösen und auf dem eurasischen Kontinent mit Partnern auf Ausgleich und Kooperation hinarbeiten, um dem Ziel der stabilen friedlichen Koexistenz und des wirtschaftlichen Austauschs näherzukommen. Er wünscht sich «politischen Mut und die Geduld für eine grosse Debatte» (S. 224), auch und gerade im Parlament.
  Der Elder Statesman Klaus von Dohnanyi denkt sicher in längerfristigen Zeitetappen. Bisher ist sein Wunsch nicht in Erfüllung gegangen; aber es ist jedem verantwortungsbewussten Politiker zu empfehlen, seine mahnenden Worte nicht in den Wind zu schlagen.  •

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